Gottes Haus

Gottes Haus

Wer im Buch der Psalmen herumblättert, kann darüber staunen, wie oft dort der Tempel besungen wird. „Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des HERRN“ heißt es da. „Ich will lieber die Tür hüten in meines Gottes Hause als wohnen in der Gottlosen Hütten.“ Und: „HERR, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt.“ Man spürt, wie sich die Psalmbeter für ihr Gotteshaus begeistern, wie sie dort der Gegenwart Gottes gewiss sind und in besonderer Weise seine Nähe erfahren. Wir aber, wenn wir das heute lesen, sehen uns mit der Frage konfrontiert, wie es denn um unser Verhältnis zu unserem Gotteshaus steht. Sind wir da nüchterner und abgeklärter? Oder könnten wir uns im Blick auf unsere Kirche ebenso begeistern? Könnten wir sagen: „Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses, meine Kirche nebenan, den Ort da deine Ehre wohnt“? Ich denke vielen erschiene das ein wenig überschwänglich. Und das nicht, weil ihnen ihre örtliche Kirche egal wäre, sondern weil wir uns als Kinder einer säkularen Epoche eine Bindung Gottes an bestimmte Orte nur noch schwer vorstellen können. „Gott wohnt doch nicht wirklich in der Kirche“ sagt man sich, „er ist doch überall und darum im Gotteshaus nicht gegenwärtiger als irgendwo draußen!“ Wir sind skeptisch, wenn jemand von „heilige Orten“ redet und von „Kultplätzen“, an denen die Kräfte des Himmels spürbarer sein sollen als anderswo. Das klingt heute mehr nach Esoterik als nach Christentum! Und die Bibel bestätigt unsere Skepsis, insofern auch sie eine räumliche Fixierung Gottes ausschließt. Paulus sagt: „Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darin ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind.“ (Apg 17,24 / Jes 66) Paulus nimmt damit auf, was 1000 Jahre vorher auch schon Salomo wusste und im Gebet zur Tempelweihe aussprach. Der Himmel und aller Himmel Himmel können Gott nicht fassen – wie sollte es da ein Haus tun, das Menschen gebaut haben? (1. Kön 8,27) Gott ist zu groß, als dass Mauern ihn umschließen könnten. Und doch – wollten wir folgern, so ein Gotteshaus sei demnach nichts weiter als ein Zweckbau, der die versammelten Gläubigen vor Regen und Kälte schützt, wäre das vorschnell. Denn jener Tempel, den Salomo „an sich“ für untauglich befand um Gott zu beherbergen, wurde anschließend von der Herrlichkeit Gottes sehr sichtbar in Besitz genommen. Gott lässt sich zwar nicht an einen Ort „bannen“, er lässt sich nicht einschließen, begrenzen oder rituell kontrollieren – das wußte man auch schon im alten Israel! Aber in aller Freiheit ließ Gott doch seine Ehre, seine Namen und seine Herrlichkeit im Heiligtum wohnen, um sich von den Suchenden dort finden zu lassen. Und das ist heute nicht anders als damals. Natürlich ist Gott nie anders gegenwärtig als in souveräner Freiheit! Aber uns zugute, um für uns erreichbar zu sein, bindet er sich doch an Orte und an Worte, an Zeiten und Riten, die dann besondere Verheißungen haben und die feste Zusage seiner Gegenwart! Gott tut das nicht, weil er es bräuchte, sondern weil wir das brauchen! Aber um unseretwillen tut er’s wirklich! Und dementsprechend berichtet das Neue Testament, dass auch Jesus ein grundsätzlich positives Verhältnis zum Tempel hatte. Wir lesen, dass der 12-jährige Jesus seinen Eltern in Jerusalem abhanden kommt und nach längerem Suchen im Tempel angetroffen wird. Als man ihn aber fragt, was er dort mache, erklärt er das Gotteshaus gewissermaßen zu seinem Elternhaus. „Warum habt ihr mich gesucht?“ sagt er – „wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Auch die spätere Vertreibung der Händler und Geldwechsler (die sog. Tempelreinigung) zeigt deutlich, wie leidenschaftlich sich Jesus für den Tempel einsetzt. Er wird sehr zornig, als er Gottes Haus missbraucht und profaniert sieht. Er ist mit der „Umnutzung“ nicht einverstanden und will den Tempel einzig dem Gebet vorbehalten wissen. Und das heißt: Jesus bejaht den Ort „wo Gottes Ehre wohnt“ als einen heiligen und zu heiligenden Raum, in dem weltliches Treiben nichts zu suchen hat. Es war nicht zuletzt dieser Eifer für das Gotteshaus, der Jesus ans Kreuz gebracht hat! Wie ist das aber heute – bei uns? Ich fürchte, großer Eifer für ein Gotteshaus ist selten geworden. Und das Gespür für die Gegenwart des Heiligen gleichermaßen. Denn seit langem gibt es eine rationalistische Verflachung, die unsere Gottesdienste auf gesellige, bildende und unterhaltende Funktionen reduziert, auf ein wenig Ästhetik, Volkserziehung und pastorales Infotainment. Da wirkt eine Oberflächlichkeit, die sich für „aufgeklärt“ hält und selbst den Sakramenten ihr Geheimnis nicht lässt. Und dieser Ungeist weht schon seit den 1960er Jahren. Da riss man alte Dorfkirchen ab, um Multifunktionsbauten mit variablen Innenräumen an ihre Stelle zu setzen. Sonntags hielt man Gottesdienst. Montags aber schob man den Altar in die Ecke, damit Platz war für die Gymnastikstunde. Am Mittwoch tobte die Kindergruppe durch den Raum. Und am Samstag feierte die Jugend. Das verschüttete Bier klebte noch am Boden, wenn am Sonntagmorgen der Altar wieder hereingerollt wurde. Man kam sich modern vor, weil man die Scheu vor dem Heiligen verloren hatte – und bewusst verlieren wollte. Kirche säkularisierte sich selbst, ethisierte ihre Botschaft, spottete über die eigene Tradition und versuchte der Welt zu beweisen, dass nun auch die Kirche ganz und gar „weltlich“ sei. Manche Theologen sind heute noch auf dieser Spur! Und um so mehr wird es Sache der Gemeinde-glieder sein, den Gottesdienst neu zu entdecken, der eben keine Performance des Pfarrers ist, sondern seine Mitte hat in Gottes sakramentaler Gegenwart, und auch den Kirchenraum neu zu entdecken, der viel mehr ist als ein Konzertsaal oder eine Theaterbühne. Denn was ist so eine Kirche? Was ist so ein über Jahrzehnte „durchbetetes“ Gemäuer? Ist es nicht in Wahrheit ein Brückenkopf des Reiches Gottes und ein aus dem Alltäglichen bewusst ausgegrenzter Raum, in dem grundlegend andere Regeln gelten als draußen vor der Kirchentür? In der Kirche existiert ein Gegenentwurf zum Leistungswahn der Welt. Und dort hat der Stärkere über den Schwächeren auch kein Recht. In der Kirche sind wir nicht Konkurrenten, sondern Schwestern und Brüder. Dort zählen nicht Geld und Macht, sondern Gottes Wort. Und dort präsentieren wir uns auch nicht den Nachbarn, sondern treten bewusst unter Gottes Augen. In der Kirche suchen wir nicht unseren, sondern Gottes Willen. Und in diesen Mauern gebührt auch niemandem Ehre als ihm allein. In der Kirche haben Zoten keinen Raum, Gewalt hat keinen Raum, und böses Gerede bleibt im Halse stecken. Die Kirche ist die wahre Alternative zur selbstgefälligen Welt und zum Haifischbecken draußen. Da sind die Ersten die Letzen, aber die Mühseligen und Beladenen sitzen in der ersten Reihe. Stolz und Hochmut müssen draußen bleiben! Aber niemand der zu Christus will, wird an dieser Schwelle abgewiesen. In der Kirche wissen wir sehr gut von der ebenso bunten wie dreckigen Welt, in der ein Mensch den anderen missbraucht und benutzt. Aber dort üben wir anders zu sein und genießen die Freiheit, unsere Schuld zu bekennen, ohne uns deswegen schämen zu müssen. In der Kirche weht ein anderer Geist als draußen! Und wenn die Kirchentüren durchlässig und offen sind, dann sicher nicht, damit die Welt durch sie hereinschwappt und die Kirche weltlich macht, sondern die Türen öffnen sich, damit der Geist Gottes mit uns nach draußen dringt, um seinerseits die Welt zu fluten! Die Mauern der Kirche umfrieden einen Raum, in dem nichts verzweckt wird und sich nichts auszahlen muss – da muss nichts rentabel sein, verwertbar oder vorzeigbar, sondern das scheinbar nutzlose Geschehen, dass Menschen vor Gott stille werden und ihm nahe sind, das hat seinen Wert in sich selbst. Und wenn Gottes Wort dabei seine menschliche Antwort findet, dann ist jenes Reich Gottes gegenwärtig, das wir in der Welt so schmerzlich vermissen. Denn vor Gottes Angesicht ist der Schutzraum der Gnade offen, und unter dem Kreuz haben die Versager Heimatrecht. Ja, selbst als Ruine wäre eine Kirche immernoch wertvoll, wäre selbst im Verfall noch eine steinerne Predigt an alle, die vorübergehen, und würde ihnen zurufen: „Schaut her, diese gequälte Erde ist zum Himmel hin offen, diese Erde ist sich selbst nicht genug, und du Mensch, bist dir auch nicht genug. Ich als Kirche stehe hier in der Welt und bin doch nicht von der Welt, sondern bin von Gott auf Gott hin geschaffen, und du Mensch bist es auch.“ Selbst als Ruinen erinnern unsere Kirchen noch alle Welt an das, was mehr ist als Welt. Sie irritieren. Sie bezeugen den Glauben längst verstorbener Erbauer. Und sie halten den Raum frei für das geistliche Leben künftiger Generationen. Selbst wenn sie brach lägen und nur die Gelände übrig blieben, wären es doch die Bauplätze künftiger Kathedralen und hätten auffordernden Charakter. Denn sie hindern die Zeitgenossen daran, endgültig zu vergessen, dass sie Gott vergessen haben. Was Kirchen damit leisten, ist von unschätzbarem Wert. Denn sie sind dem geweiht, den die Welt nicht versteht. Sie sind der platten Diesseitigkeit ein stetes Ärgernis und ein Pfahl im Fleisch. Sie sind „exterritorial“ wie ein Botschaftsgebäude, das in irgendeiner exotischen Hauptstadt steht und doch juristisch ein Stück heimatlichen Bodens ist. Kirchen repräsentieren Gott und sind seine „ständige Vertretung“ in einer weithin unerlösten Welt. Sie bieten Asyl für gehetzte Seelen. Sie sind der Ort einer Rechtsprechung, die über alle Justiz hinausgeht, und sie verweisen auf eine Appellationsinstanz jenseits der öffentlichen Meinung. In diesen Mauern findet auch der Geringste Gehör beim Allerhöchsten! Und dementsprechend sollten wir unsere Kirchen schätzen als Orte, wo Gottes Ehre wohnt, und sollten uns hüten, sie durch wesensfremde Nutzung zu profanieren. Die säkulare Ignoranz, die keine Scheu hat, einen Altar zum Kaffeetisch zu degradieren, müssen wir hinter uns lassen. Denn an dem, was Gott geweiht ist, können wir uns nicht vergreifen ohne Schaden zu nehmen. Und unsere Kirchenräume sind geweiht durch die heilvolle Gegenwart Gottes im Gottesdienst. Wo Christen das Abendmahl feiern, da ist der Herr in Brot und Wein real präsent. Er ist gegenwärtig durch das Wort, das ihn verkündet, und durch den Geist, der von ihm zeugt. Und das heißt: Wo die Glieder des Leibes Christi sich versammeln, da ist ganz gewiss auch das Haupt bei ihnen. Wo Gott aber gegenwärtig ist, um den Seinen zu begegnen – sollte da nicht heiliger Boden sein, den man mit Ehrfurcht betritt? Gewiss feiern wir in Kirchen nicht Gottesdienst, weil wir den Raum „heilig“ vorgefunden hätten. Sondern der Raum ist „geheiligt“, weil wir darin Gottesdienst feiern. Man darf das nicht verwechseln. Und trotzdem gilt, dass ein Raum, der für die Versammlung der Gläubigen aus der Welt ausgegrenzt wurde, dadurch besondere Würde und Weihe gewonnen hat. Gewiss nicht in dem Sinne, dass Gott nur drinnen wäre und draußen fehlte – nein! Aber doch so, dass Wort und Sakrament als Einfallstore himmlischer Wirklichkeit dort ihren ureigensten Ort haben. Gott ist gewiss überall. Aber Kirchen sind Orte, wo er zuverlässig gefunden werden kann, weil er in ihnen – in Wort und Sakrament – gefunden werden will. Gewiss lässt sich Gott nicht magisch binden an Kultplätze und Rituale. Aber Gott hat sich selbst gebunden an Orte, Worte und Zeiten, an Sakramente und mächtige Zeichen. Nicht er bedarf dessen, sondern wir. Und wir wären sehr töricht, wenn wir es nicht schätzten und an unseren Kirchen hingen. Sie sind Schnittstellen zwischen Himmel und Erde. Und dass es solche Schnittstellen gibt, sollten wir nicht für selbstverständlich halten. Darum: Pflegen wir unsere Kirchen! Nutzen wir sie. Füllen wir sie nicht mit irgendwas, sondern mit geistlichem Leben. Und wenn es sein muss: Kämpfen wir auch für unsere Kirchen! Denn kommende Generationen werden sie genauso brauchen wie wir – als geistliche Heimat und als Anlaufstellen für die Gemeinschaft unter Gottes Wort…

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Black Death

Hugo Simberg, Public domain, via Wikimedia Commons