Gemeinschaft durch Teilhabe

Gemeinschaft durch Teilhabe

Wurden sie schon mal abgewiesen, weil sie nicht dazugehörten? Standen sie vor der Tür eines Lokals und wurden nicht hereingelassen? Hat man ihnen bedeutet, es sei eine „geschlossene Gesellschaft“ – und sie darum fehl am Platz? Oh, es kann bitter sein, so etwas zu hören: „Zutritt nur für Mitglieder, wir kennen dich nicht, du kommst hier nicht rein!“ Man sucht Gemeinschaft, aber die drinnen halten uns draußen. Sie wollen uns nicht dabei haben. Sie lassen uns nicht als ihresgleichen gelten. Und wir spüren dann, dass wir Gemeinschaft nur schlecht entbehren können. Natürlich muss der Mensch nicht überall „dazugehören“ – aber irgendwo doch schon! Irgendwo soll es eine Gemeinschaft geben, wo man uns erwartet, wo also unser Da-Sein nicht begründet werden muss, sondern immer ein Platz für uns frei ist. „Gemeinschaft“ heißt, bei anderen zuhause sein und teilhaben, weil jeder am Leben des anderen Anteil nimmt. „Gemeinschaft“ ist, wo man uns den Raum gibt, den wir brauchen. Da muss ich mich nicht verstellen, muss mich nicht rechtfertigen oder etwas beweisen. Da bin ich mit den anderen genauso einverstanden wie sie mit mir. Und nicht mein Da-Sein bedarf der Erklärung, sondern im Gegenteil – wenn ich fehlte, würde man nach mir fragen! Solche Gemeinschaft brauchen und wollen wir. Und wer sie nicht wenigstens als Kind in der Familie erlebte, ist arm dran. Fragt man aber, was so eine gute Gemeinschaft erfordert und was dazu nötig ist, dann zeigt sich, dass es zwar einer wechselseitigen Anziehung bedarf (das ist klar), dass es aber allein mit dem Streben nach Einheit noch nicht getan ist. Denn neben Zusammenhalt und verbindlicher Nähe braucht gute Gemeinschaft auch das rechte Maß an Distanz. Gemeinschaft hebt Trennung auf. Sie ist darum aber noch kein Prozess der „Verschmelzung“ (der alle Grenzen verwischen würde), sondern die Beteiligten bleiben auch in der Gemeinschaft unterscheidbar. Sie verlieren keineswegs ihre Individualität und ihr persönliches Profil. Sondern das Schöne an guter Gemeinschaft ist gerade, dass einer den anderen mit seinen Eigenheiten gelten lässt. Gerade dann ist Gemeinschaft angenehm, wenn die anderen nicht verlangen, ich müsste ihnen gleichen! Gerade darin liegt das Geheimnis, dass man sich um der Nähe willen nicht aufgeben muss. Und so erwächst gute Gemeinschaft nicht bloß aus dem Wunsch, beieinander „Nestwärme“ zu finden. Sondern ebenso wichtig ist, dass man (bei aller Nähe) doch nicht „übergriffig“ wird und den anderen nicht in plumper Vertraulichkeit vereinnahmt. Vielmehr ist die Grundbedingung guter Gemeinschaft, dass ich dem anderen gönne, was ich mir selbst wünsche – dass er nämlich der sein und bleiben darf, der er ist. Und das ist dann keine klebrige Umarmung, in der das Gegenüber erstickt, keine Luft mehr bekommt und zur Anpassung gedrängt wird, sondern es ist Nähe bei gleichzeitigem Respekt. Jeder darf weiter er selbst sein, darf trotzdem mittendrin dabei sein – und billigt den anderen dasselbe zu. Denn nur so wird es dem Menschen gerecht. Und nur so bleibt auch der Friede erhalten, ohne den die Gemeinschaft nicht von Dauer wäre. Ihre Basis ist also keineswegs, dass alle gleich sein müssten, sondern dass sie sich in ihrer Verschiedenheit gelten lassen. Doch warum reden wir davon? Geht‘s etwa nur um das Miteinander von Menschen? Nein. Noch viel nötiger brauchen wir Gemeinschaft mit Gott. Denn was uns mit Freunden und Verwandten verbindet, ist ja immer befristet. Es trägt nur, bis sich unsere Wege wieder trennen, bis man sich aus den Augen verliert, sich entfremdet, sich zerstreitet oder einer stirbt. Die langfristige Gemeinschaft aber, zu der wir geschaffen wurden – das ist die Gemeinschaft mit Gott. Mit unserem Schöpfer im Dialog zu stehen – das ist die eigentliche Bestimmung unsers Lebens! Und nur diese Gemeinschaft reicht über den Tod hinaus. Denn hier auf Erden sind wir stets „auf Abruf“. Bei Gott aber sollen wir dauerhaft Heimat finden. Und so ist die zentrale Lebensfrage des Menschen, wie er die Gemeinschaft mit Gott verfehlt – und wie er sie erlangt. Bei Gott willkommen sein oder draußen stehen, dazugehören oder ausgeschlossen sein, Zugang haben oder abgewiesen werden – mit dieser Alternative beschäftigt sich die Bibel auf jeder Seite. Denn seit der Mensch sich im Sündenfall von Gott getrennt hat und ihm fremd wurde, seit der Vertreibung aus dem Paradies stehen die Türen des Himmels nicht mehr offen, und Gott ist auch nicht jedermanns Freund, sondern ganz bewusst steht er mit manchen Menschen im Bunde – und mit anderen nicht. Die Bibel aber befasst sich genau mit der Frage, auf die es nun ankommt: Wie nämlich ein von Gott getrennter Mensch neue Gemeinschaft mit ihm erlangen kann. Und das Evangelium gibt darauf die klare Antwort, dass wir neue Gemeinschaft mit Gott nur erlangen durch die Vermittlung Christi und durch die Teilhabe an Christus im Glauben. Das Evangelium selbst ist nichts anderes als eine von Christus ausgehende Einladung zur Gemeinschaft mit ihm. Die aber ist zugleich die erneuerte Gemeinschaft mit Gott dem Vater im Heiligen Geist. Und wir erlangen sie durch den Glauben, die Taufe und das Abendmahl. Denn nicht jeder Mensch gehört automatisch zu Gottes vertrautem Freundeskreis. Nein! Seit die ursprüngliche Harmonie zerbrach, gibt es ein „Draußen“ und ein „Drinnen“. Es gibt getrennte Welten des Unheils und des Heils. Und das Evangelium tut uns kund, wie man von einer Sphäre in die andere hinübergelangt. Denn eben dazu hat Gottes Sohn den Himmel verlassen und sich auf den Weg gemacht, um hier in der Welt all die Verlorenen zu suchen, die mit Gott gebrochen haben, sie wieder heimzubringen und mit dem Vater zu versöhnen. All die Abgeschnittenen und Verlaufenen, die Christus findet, integriert er in den „Leib Christi“, den wir „Kirche“ nennen. Er holt sie herein. Er beansprucht sie für sich. Und die sich nicht entziehen, haben dann nicht bloß an Christus teil, sondern haben in ihm und durch ihn auch das Heil, die Seligkeit und das ewige Leben. Denn Gott nicht kennen zu wollen, das ist recht eigentlich der Tod. Wahres Leben aber besteht in der versöhnten Gemeinschaft mit ihm. Und Christus ist der Lotse und Türöffner, der die Verlaufenen und Zerstreuten bei Gott wieder einführt und den Kontakt wieder herstellt. Als Sünder sind wir erst mal alle Ausgestoßene, die sich unmöglich gemacht haben, sind mit dem himmlischen Vater nicht mehr kompatibel und zu Recht aus seiner Nähe verbannt. Da stehen wir vor verschlossenen Türen und finden aus eigener Kraft keinen Zugang mehr. Doch Christus hat uns an den Straßen und Zäunen aufgelesen und in das Haus des Vaters zurückgerufen zu neuer Gemeinschaft. Durch die Taufe auf seinen Namen hat er uns in den Leib Christi einbezogen. Und dieser Zugehörigkeit dürfen wir uns bei jedem Abendmahl neu vergewissern. Denn der Kelch ist „die Gemeinschaft des Blutes Christi“. Und wer am Brot teilhat, steht in der „Gemeinschaft des Leibes Christi“ (1. Kor 10,16-17). Als Christen haben wir „Gemeinschaft in Christus“ und „in einem Geist den Zugang zum Vater“ (Phil 2,5; Eph 2,18). Gottes Sohn ist das Haupt des Leibes, zu dem er uns zusammenfügt (Kol 1,18-20; Röm 12,5). Und er tut es, damit alle, die mit ihm Gemeinschaft haben, auch wieder Gemeinschaft haben mit seinem himmlischen Vater (1. Joh 1,3). Jesu Jünger sollen „eins“ sein, wie er selbst mit dem Vater „eins“ ist (Joh 17,11). Denn eben dazu ist er in die Welt gekommen und hat seinen Jüngern die Herrlichkeit gegeben, damit sie in Christus sind, wie der Vater in Christus ist, und durch ihn als „Bindeglied“ der göttlichen Liebe teilhaftig werden, die dann nicht bloß den Vater und den Sohn im Geist zusammenschließt, sondern auch alle, die durch ihren Glauben im Sohn inbegriffen sind (Joh 17,20-23). In Christus „wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“. Und „in ihm“ haben wir an dieser Fülle teil (Kol 2,9-10; Hebr 3,14; 2. Petr 1,4). Darum kann man das ganze Evangelium auf diesen einen Nenner bringen, dass es „Koinonia“ anbietet und herstellt – nämlich Gemeinschaft mit Gott durch die Teilhabe an Christus. Und natürlich ist dies neue Miteinander von wechselseitiger Liebe geprägt. Es zieht uns mächtig zu Gott hin, wie es ihn auch zu uns gezogen hat. Doch, wenn die Bindung von Dauer sein soll, gehört noch etwas anderes dazu. Denn – erinnern sie sich, was wir eingangs über „gute Gemeinschaft“ sagten? Sie lebt nicht bloß von inniger Nähe, sondern ebenso davon, dass man nicht übergriffig wird. Sie braucht Respekt. Und darum besteht die in Christus erneuerte Gemeinschaft mit Gott nicht darin, dass wir mit Gott „verschmelzen“, dass wir die Grenzen verwischen, aufdringlich werden oder gar anfangen, uns mit Gott zu verwechseln, sondern gerade darin, dass wir auch in der innigsten Gemeinschaft von Gott verschieden bleiben – und uns eben darin mit ihm ganz einig sind. Denn war’s nicht Distanzlosigkeit, war’s nicht ein freches Verwischen der Grenzen, was Gott und Mensch im Sündenfall auseinanderbrachte? Die anfangs harmonische Gemeinschaft zerbrach, als Adam und Eva „übergriffig“ wurden und zugleich mit Gottes Gebot den missachteten, der es gegeben hatte. Sie sind damit Gott „zu nahe getreten“. Sie taten einfach so, als wären seine Vorgaben nicht bindend. Sie missbrauchten sein Vertrauen, dispensierten sich von dem geschuldeten Respekt und nahmen sich Freiheiten, die nur Gott zustehen. Eben das zerstörte die Gemeinschaft. Und es hat Gott viel gekostet, die Sache zu bereinigen! Was wird nun also das oberste Prinzip der neuen Gemeinschaft sein? Was werden wir tunlichst vermeiden? Natürlich den alten Fehler, der die Gemeinschaft zerstörte – den gilt es zu vermeiden! Nachdem der Streit beigelegt ist, werden wir uns hüten, erneut in Gottes Recht einzugreifen. Und so lassen wir es (bei aller innigen Nähe zu Gott) doch nicht an Respekt fehlen. Sondern wir sind mit Gott genau darin einig, dass Gott und Mensch – ohne getrennt zu sein – doch unterschieden bleiben und sich nicht auf Augenhöhe befinden. Als wir das Gefälle zwischen Gott und uns nicht achten wollten, wurde uns das zum Verhängnis. Und der Glaube, der draus gelernt hat, sagt darum: „Ist in Ordnung, kommt nicht wieder vor. Gottes Gottheit soll nun ewig unbestritten sein! Er herrsche über alles, was meine Person innerlich oder äußerlich, jetzt oder künftig angeht. Denn in meinem Leben soll keiner mehr zu Gott in Konkurrenz treten – und am allerwenigsten ich selbst. Er ist Gott, und ich bin’s nicht. Er hat zu bestimmen, ich habe zu folgen. Und dieser Wahrheit will ich nicht mehr zuwiderhandeln, sondern will Gott die Ehre geben und mich selbst überhaupt keines Dinges rühmen, außer, dass er mich in seiner Barmherzigkeit duldet und mir gnädig ist“. Ja, an solcher Zurückhaltung erkennt man den Glauben. Wir sind mit Gott darin einig, dass wir uns von Gott grundlegend unterscheiden. Und eben dieser Konsens ist es, der uns aufs Schönste mit Gott verbindet. Denn so entgehen wir der Anmaßung, greifen nicht mehr frech nach Gottes Krone und setzen uns auch nicht mehr selbstherrlich auf seinen Thron. Nun klingt das, als wär‘s das Natürlichste von der Welt. Und mancher wundert sich wohl, dass ich es für nötig halte, auf das Offensichtliche hinzuweisen. Das scheint keine große Erkenntnis zu sein, wenn man bloß gelten lässt, was sowieso nicht zu leugnen ist! Und doch bekommen wir‘s ohne den Heiligen Geist nicht hin. Und Luther hält es für so wichtig, dass er einmal sogar sagt, der Glaube sei „der Schöpfer der Gottheit“. Er meint natürlich nicht, der Glaube sei „der Schöpfer der Gottheit“, was Gott selbst betrifft – denn Gott ist von niemandem abhängig. Aber der Glaube ist sozusagen „der Schöpfer der Gottheit“ in unserem Denken, Reden, Leben und Tun. Denn was den Bereich unsrer persönlichen Empfindungen, Urteile und Wertungen betrifft, setzt erst der Glaube Gott wieder an die rechte Stelle. Was unsren persönlichen Horizont betrifft, schafft erst der Glaube wieder klare Verhältnisse, gibt Gott die Ehre und beugt sich seiner Wahrheit. Der Sünder in uns bringt das nie fertig. Der ist mit seiner Rolle immer unzufrieden. Der Glaube aber, voller Demut und Vertrauen, wahrt den Frieden und zankt nicht mehr mit Gott. Denn wer im Glauben steht, bekennt rundheraus, nicht sein eigener Herr zu sein. Er sagt „Gott ist Gott, und ich bin’s nicht“. So schlicht ist die Erkenntnis! Doch ohne sie gibt es keine Gemeinschaft. Und obwohl es selbstverständlich klingt, haben wir ein Leben lang dran zu lernen. Denn wenn’s im Alltag mal wieder um prekäre Entscheidungen geht: wer macht dann die Regeln, wer setzt die Ziele? Da ruft der kleine Mensch doch wieder „Ich! Hier! Ich will der Bestimmer sein! Ich weiß es besser!“ Anmaßend versuchen wir, dem Vater ins Steuer zu greifen, weil wir uns klug vorkommen. Doch eben das gilt es zu überwinden. Denn die Gemeinschaft mit Gott können wir nur wahren, indem wir uns sorgsam von ihm unterscheiden. Und wer‘s nicht lassen kann, mit Gott um das Herr-Sein zu konkurrieren, wird auf Dauer keine Gemeinschaft mit ihm haben. Die Rollen zwischen ihm und uns sind klar verteilt! Das aber nicht nur grummelnd zuzugestehen, sondern fröhlich zu bejahen – das ist ebenso schwer, wie es nötig ist. Denn wie sonst würden wir Gott gerecht? „Gerecht“ ist doch, wer dem anderen gibt, was ihm zusteht und gebührt! Also lassen wir Gott erst dann „Gerechtigkeit widerfahren“, wenn wir uns vor ihm beugen und ihm das Vertrauen schenken, das er verdient. Eben das aber tut der Glaube. Und er ist damit die einzige menschliche Haltung, die Gott gerecht wird. Der Glaube wahrt die Gemeinschaft, in der die Bestimmung des Menschen liegt. Und er verbindet uns als Christen zur Gemeinschaft derer, die mit Gott Gemeinschaft haben. Der Glaube ist somit der Schlüssel zu der „koinonia“, auf die es ankommt. Und ohne den Glauben lässt sich auch keine kirchliche Gemeinschaft denken. Denn Christen untereinander bilden nur dadurch eine Gemeinschaft, dass sie alle demselben Herrn verbunden sind. Alles andere, was uns kulturell, biografisch, sozial oder mental verbindet, ist zufälliger Natur. Die Teilhabe an Christus aber erwächst nicht aus der menschlichen Gemeinschaft, sondern unsere Gemeinschaft erwächst aus dieser Teilhabe. Nicht die Kirche als Institution hält uns zusammen, sondern der Herr der Kirche, der alle, die ihm verbunden sind, auch miteinander verbindet. Kirche ist definiert als die Gemeinschaft derer, die mit Gott Gemeinschaft haben. Diese Gemeinschaft gibt es nur in und durch Christus. Und wo dieser Bezugspunkt verloren geht, ist es kein Wunder, dass Kirche auseinanderfällt. Das liegt in der Natur der Sache und kann nicht anders sein. Weil der Zerfall aber gleichbedeutend wäre mit dem Verlust der „Koinonia“ (die wir brauchen, weil sie das Ziel unseres Lebens bildet!) – darum wollen wir Gott herzlich bitten, dass er uns weiterhin im Glauben zusammenhält und uns durch den Glauben weiter bei sich beheimatet in der Zugehörigkeit, ohne die wir Gott selbst verfehlen müssten.

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Hartaus (Devotion)

Hugo Simberg, Public domain, via Wikimedia Commons