Der Ablauf eines Gottesdienstes

Der Ablauf eines Gottesdienstes

Der evangelische Gottesdienst ist vielen Menschen fremd. Denn welchen Sinn haben all die Gesänge, Handlungen und Gesten? Obwohl Musik eine Rolle spielt, handelt es sich nicht um ein „Konzert“. Und obwohl der Altarraum einer Bühne ähnelt, wird kein „Schauspiel“ geboten. Es versammeln sich Menschen. Und doch ist es kein „Fest“. Wenn die Predigt gut ist, kann man etwas lernen. Und doch ist es keine „Bildungsveranstaltung“. Was ist ein Gottesdienst aber dann? Ich schlage vor, ihn als Gespräch zu verstehen. Denn Christen besuchen Gottes Haus, um mit Gott ins Gespräch zu kommen. Sie suchen seine Nähe. Und so vollzieht sich in der knappen Stunde am Sonntagmorgen eine Art von Dialog, in dem Frage und Antwort, Rede und Gegenrede, Zuspruch und Erwiderung einander abwechseln. In den Liedern, im Bekenntnis und im Gebet spricht die Gemeinde. In der Schriftlesung, in der Predigt, im Zuspruch der Vergebung und im Segen antwortet Gott. Der Pfarrer wechselt aber beständig die Seiten. Denn einmal spricht er im Namen der Gemeinde zu Gott (mit Blickrichtung zum Altar), und dann wieder im Namen Gottes zur Gemeinde (mit Blickrichtung zur Gemeinde). Im Folgenden werden die wichtigsten Elemente des Gottesdienstes erklärt, die alle miteinander nur ein Ziel haben: Sie geben Gelegenheit, in das Gespräch mit Gott einzutreten und darin ein Gott entsprechender, ihm gemäßer Mensch zu werden.

 

Glockengeläut

Einmal in der Woche werden wir laut und rufen alle herbei. Wir fordern Aufmerksamkeit für das, was sich sonst nicht aufdrängt. Wir rufen zur Unterbrechung des Alltags, der die Menschen sonst verschlingt. Wir rufen sie heraus aus dem ewigen Kreislauf des Geld-Verdienens und Geld-wieder-Ausgebens. Wir erinnern an die „vertikale“ Dimension des Lebens und rufen zur Besinnung auf Gott, das maßgebliche Gegenüber unseres Daseins. Selbstbespiegelung kann uns gefangen nehmen, Betriebsamkeit blind machen. Und so fordern wir sonntags die Herzen nach oben zu öffnen. Der spitze Kirchturm zeigt „himmelwärts“. Und die Glocken geben das akustische Signal dazu. Lasst nun die Belanglosigkeiten des Alltags hinter euch und nehmt das Wesentliche in den Blick! Lasst Arbeit und Zerstreuung beiseite und tretet vor Gott, den Ursprung und das Ziel eures Lebens! Warum tun wir‘s aber nicht jeder für sich im „stillen Kämmerlein“, sondern gemeinsam? Zum einen, weil Christus versprochen hat gegenwärtig zu sein, wo sich zwei oder drei in seinem Namen versammeln (Mt 18,20). Seine Jünger sollen nicht getrennt, sondern „eins“ sein (Joh 17,20-23). Und zum anderen, weil wir Brüder und Schwestern brauchen, die uns im Namen Christi sein Wort, seine Vergebung und seinen Segen zusagen. Solchen Zuspruch kann man sich nicht selbst geben, solchen Trost sich nicht selbst spenden. Und erst recht das Abendmahl können wir uns nicht in einem Akt der Selbstbedienung „nehmen“, sondern einer anderer, der in diesem Moment Christus vertritt, muss es uns „geben“.    

 

Orgelvorspiel

Am Eingang der Kirche hat man Bekannte getroffen, hat dann vielleicht den Sitznachbarn begrüßt und eine Plauderei begonnen. Doch beim Orgelvorspiel enden die Gespräche. Denn das dient weniger dem musikalischen Genuss als der inneren Sammlung. Wir sind nicht gekommen, um mit dem Nachbarn zu schwatzen, sondern um in Austausch zu treten mit Gott. Alltagsgedanken und Alltagsgespräche sind also nicht dran. Der Fokus liegt bei Gott, denn wir sind in seinem Haus, wir sind ihm gegenübergetreten und konzentrieren uns auf das, was er zu sagen hat.

 

Bitte um den Heiligen Geist

Komm, Heiliger Geist, erfüll die Herzen deiner Gläubigen und entzünd in ihnen das Feuer deiner göttlichen Liebe, der du in Mannigfaltigkeit der Zungen die Völker der ganzen Welt versammelt hast in Einigkeit des Glaubens. Halleluja, Halleluja. (EG 156, alternativ auch EG 136,1)

Diese gesungene Bitte ist nicht überall üblich, macht aber Sinn. Denn durch den kurzen Vers wird uns bewusst, dass eine Begegnung mit Gott nur durch ihn selbst zustande kommen und gelingen kann. Wir würden Gott vergeblich suchen, wenn er nicht bereit wäre, sich von uns finden zu lassen. Es ist nicht unsre „Andacht“, die den Kontakt herstellt – und auch nicht die mehr oder weniger große Geschicklichkeit des Pfarrers. Obwohl wir im Singen, Beten und Reden eine Menge „machen“ (und versuchen, es gut und richtig zu machen), ist das Entscheidende im Gottesdienst doch nicht „machbar“. Gott begegnet uns nicht, wenn wir, sondern wenn er das will. Sein Heiliger Geist muss die unendliche Distanz zwischen ihm und uns überbrücken. Und wir, die wir das nicht erzwingen können, bitten darum.  

 

Begrüßung 

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes: 

Der Friede Gottes sei mit euch allen.

Ein Mensch begrüßt die Gemeinde. Er tut es aber nicht so, als wäre er hier der Hausherr und sagt auch nicht jovial „Guten Morgen!“, sondern „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Denn die Gemeinde ist nicht gekommen, um den Pfarrer zu besuchen. Er ist nicht der Gastgeber und begrüßt auch nicht als Showmaster ein Publikum, das er im Laufe des Gottesdienstes mit verschiedenen Darbietungen zu erfreuen gedenkt, sondern verweist auf den dreieinigen Gott. Der wird nun reden, hören und handeln. Denn Gottesdienst ist nicht unser Dienst für Gott, sondern Gottes Dienst an uns. Und weil die Gemeinde nicht auf eine Performance des Pfarrers aus ist, geht der auch gleich zum Wochenspruch über, damit Gott in jeder Hinsicht „das erste Wort“ habe.

 

Abkündigungen

Taufen, Trauungen und Beerdigungen werden der Gemeinde mitgeteilt, damit sie die betroffenen Menschen während des Gottesdienstes in ihre Fürbitte mit einschließen kann. Aber wie steht es mit den „Bekanntmachungen“? Wo es um den Austausch mit Gott geht, darf man schon mal fragen, ob die Öffnungszeiten der Bücherei und die Termine der Kindergruppe wirklich ein Teil davon sind. Ist es ratsam, die Aufmerksamkeit der Besucher gleich zu Beginn des Gottesdienstes auf ihre Wochenplanung zu lenken? Freilich – wenn es um Dinge geht, die erkennbar zum christlichen Leben der Gemeinde gehören, kann man ihrer auch vor Gott gedenken. Nichts, was im Namen Gottes getan wird, ist unbedeutend. Es sollte seinen Ort aber besser am Ende des Gottesdienstes finden.

 

Eingangslied

Kirchenmusiker behaupten manchmal, Gott offenbare sich durch Musik. Doch das ist Unsinn. Denn Tonfolgen ohne Text mögen noch so ergreifend sein – man kann ihnen dennoch kein Evangelium entnehmen. Und so deutlich das Neue Testament auch bestätigt, dass Gott sich in seinem Wort offenbart, sagt es doch nichts dergleichen von der Musik. Kirchenmusik hat nur dann Teil am Verkündigungsauftrag der Kirche, wenn sie sich mit entsprechenden Texten verbindet. Und das heißt: im Prinzip ist Musik im Gottesdienst entbehrlich. Es ginge auch ohne sie. Es ginge aber schlecht. Denn (ohne Offenbarung zu sein) sind Musik und Gesang doch hervorragende Mittel, um auf Gottes Offenbarung zu antworten. Und wenn sie nichts verkünden, sind sie dennoch eine passende Reaktion auf Verkündigung. Denn die führt uns Gottes Barmherzigkeit vor Augen – und wer darauf nicht mit Lobpreis und Jubel reagieren wollte, hätte die Botschaft nicht verstanden. Auch die Engel im Himmel singen, um Gott die Ehre zu geben. Das ist das angemessene Verhältnis eines Geschöpfes zum Schöpfer, wenn es seine Güte erkennt! Und obwohl man Ehre notfalls auch in der Stille erweisen könnte, ist Musik hier doch am rechten Ort, weil sie stärker als das gesprochene Wort den Menschen mit seiner ganzen Leiblichkeit und Emotionalität einbezieht. Die von Musik getragene Botschaft berührt uns tiefer als der nüchterne Gedanke. Der ganze Mensch schwingt mit, nicht nur der Intellekt. Und so gibt es keinen Grund, im Gottesdienst auf Musik zu verzichten. Sie offenbart zwar nichts. Aber sie ist nach dem Glauben die schönste Antwort, die man der Offenbarung geben kann – und steht (in Verbindung mit entsprechenden Texten) als gesungenes Credo mit dem gesprochenen Bekenntnis auf einer Stufe. 

 

Psalm

Wer die Psalmen betet, versucht nicht originell zu sein, sondern im Gegenteil – er macht sich Worte zu eigen, die seit mehr als 2000 Jahren gebetet werden. Er „klinkt sich ein“ in den zeitübergreifenden Strom des Gebets. Und dieser Anschluss gelingt zuverlässig, weil wir unsere Ängste, Freuden, Nöte und Hoffnungen mit den Gläubigen aller Jahrhunderte teilen. Den Psalmen ist nichts Menschliches fremd. Was uns umtreibt, haben sie längst in Worte gefasst. Und wer sich in ihnen wiederfindet, muss nicht erst mühsam nach eigenen Formulierungen suchen, sondern lässt sich in die Tradition des biblischen Betens mit hineinnehmen. Er fügt seine Stimme ein in den überzeitlichen Chor, dessen Klang er nicht trägt, sondern von dem er getragen wird. Denn alle Not und Freude des Lebens findet darin Platz. Alles, was im Alltag ungesagt blieb, alles, was sich aufgestaut hat, darf ins Psalmgebet einfließen. Und weil Gott sich davor nicht verschließt, sondern zuhört, geht die Gemeinde danach ganz folgerichtig zum Lobgesang über.

 

Ehr‘ sei dem Vater…

Ehr‘ sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Warum singen wir das? Mangelte es Gott etwa an Ehre, wenn wir ihm nicht Ehre gäben? Nein. Da Gott sagt, was er denkt, tut, was er sagt, und hält, was er verspricht, ist er der Inbegriff nicht zu übertreffender Integrität. Seiner Ehre können wir weder etwas wegnehmen noch etwas hinzufügen. Aber immerhin können wir sie wahrheitsgemäß bezeugen – und uns damit zu Gott in das einzig angemessene Verhältnis setzen. Alles, was an uns gut ist, haben wir von ihm empfangen. Keines Vorzugs können wir uns rühmen, außer jenes völlig unverdienten, dass Gott uns seine Gnade schenkt. Und dem entsprechen, das verkünden und bekennen wir, indem wir seinen Namen verherrlichen. 

 

Bittruf und Lobpreis

Herre Gott, erbarme dich; Christe, erbarme dich; Herre Gott, erbarme dich.

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen sein Wohlgefallen.

Die Gemeinde darf nicht aufgeblasen oder selbstzufrieden vor Gott treten, sie kann ihr Versagen nicht verschweigen oder überspielen – sie bekennt darum im Bittruf ihre Schuld und bittet demütig, dass Gott sich erbarmen möge. Wo die Gemeinde aber in dieser Weise das Haupt beugt, wird ihr Gnade zugesagt, die sie mit dem erleichterten Lobpreis der göttlichen Güte quittiert. Bittruf und Lobpreis bergen also den spannungsvollen Kontrast von Gesetz und Evangelium in sich, der für den evangelischen Glauben von so zentraler Bedeutung ist. Der dumme Stolz des natürlichen Menschen muss unter der Strenge des Gesetzes zerbrechen. Aber das Evangelium sorgt dafür, dass er nicht in bodenlose Verzweiflung stürzt. Das Gesetz nimmt ihm alles, worauf er bisher fälschlich vertraute. Doch das Evangelium bietet ihm eine viel bessere Alternative. Und eins geht nicht ohne das andere. Wir bekennen, dass wir auf Gottes Erbarmen angewiesen sind und nennen ihn dabei sehr bewusst und exklusiv den „Herrn“ (wir beugen uns vor ihm – und damit ausdrücklich nicht vor den Mächten dieser Welt). Zugleich bergen wir uns aber im Wohlwollen dessen, der unsere Schuld getragen hat. Gott selbst ist gekommen, um mit uns Friedlosen Frieden zu machen. Er erhebt uns aus dem Staub. Und die Gemeinde nimmt diese wunderbare Erfahrung mit ihrem Lobgesang auf.

 

Eingangsgebet

Man spricht hier auch vom „Kollektengebet“, weil es die Anliegen der Gemeinde sammelt und vor Gott bringt. Bemerkenswert ist aber die Art, wie diese Gebete argumentieren, weil sie oft an Gottes heilvolles Tun in biblischer Zeit erinnern, um dann – darauf gestützt – ein entsprechendes Tun am heutigen Gottesvolk zu erbitten. Gott, der sein Volk auf der Flucht vor den Ägyptern durch das Meer führte, möge heute auch uns vor unseren Feinden bewahren. Gott, der die ersten Apostel durch seinen Heiligen Geist gestärkt und geführt hat, möge uns heute in gleicher Weise stärken und führen. Gott, der seinen Sohn auferweckt hat, möge auch uns durch den Tod hindurch ins ewige Leben geleiten. So stellt uns das Eingangsgebet rückblickend Gottes große Taten vor Augen – und gründet darauf die Zuversicht, dass auch künftig entsprechend Großes von ihm zu erwarten ist. Wir sehen die Barmherzigkeit, die er seinem Volk erwiesen hat. Und die Erinnerung daran gibt uns Mut, ihm neue Bitten vorzutragen.

 

Schriftlesung

Ist es sinnvoll, unkommentiert aus der Bibel vorzulesen? Eifrige Theologen sind manchmal der Ansicht, ohne ihr geistreiches Bemühen könne die Schrift gar nicht verstanden werden. Sie meinen, die Bibel hätte eine Auslegung so nötig, dass sie unkommentiert nicht wirken könne. Doch die nehmen sich zu wichtig. Denn nach evangelischer Lehre ist Gottes Wort nicht nur klar und deutlich, sondern es trägt auch in sich selbst die nötige Kraft, um sich beim Hörer Geltung zu verschaffen. Nicht der Ausleger hat Vollmacht, Herzen zu ergreifen und zu wandeln, sondern die Schrift. Gottes Kraft ist in seinem Wort so enthalten, dass es aus sich selbst heraus wirkt – auch ohne dass ein Pfarrer den Senf seiner Beredsamkeit dazu gibt. Gott lallt und lispelt nämlich nicht. Sein Wort schafft selbst die Ohren, die es hören sollen. Und die Gemeinde antwortet mit „Halleluja“. Denn es ist große Gnade, dass Gott „von sich hören lässt“ und uns dadurch erhellt. Die Bibel erzählt uns keine fremde Geschichte, sondern unsre eigene. Und wer‘s begreift, beginnt sich selbst zu verstehen als einen kleinen Teil jener großen Erzählung von göttlicher Verheißung und Erfüllung, in der sein Leben (als Fußnote) einen Platz hat.

 

Bekenntnis

Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen.

Die passende Antwort auf die Selbstmitteilung Gottes im Wort der Schrift ist die Selbstmitteilung der Gemeinde, die sich durch ihr Bekennen als zu Gott gehörig identifiziert, sich mit allen Menschen zusammenschließt, die dasselbe bekennen, und sich von allen abgrenzt, die nichts oder etwas anderes glauben. Vor Gott und der Welt bekennen wir Farbe, nehmen einen Standpunkt ein, wissen uns von Gottes Anrede gemeint und antworten darauf. Denn was wir bekennen, ist das, was uns trägt und wofür wir einstehen. Gott trägt uns, so wahr er die Welt schuf, so wahr er für uns Mensch wurde, so wahr er uns einmal aus dem Tod erwecken wird. Das zu wissen und darauf zu bauen, macht unser Christ-Sein aus – wir könnten es nicht verleugnen, ohne damit uns selbst zu verleugnen. Und so ist das Bekenntnis ein kommunikativer Sonderfall, bei dem der Sprecher zugleich mit seiner Ansicht über „etwas“ auch „sich selbst“ offenbart, denn das Bekenntnis schließt in der Sachaussage eine Selbstaussage mit ein. Wer Jesus als den Christus bekennt, sagt damit ebenso viel über Jesus wie über sich selbst. Er kann nicht anders zu sich selbst stehen, als indem er öffentlich zu seinem Glauben steht – gibt also kund, unter welcher Flagge er segelt. Zugleich ist das Bekenntnis der Gemeinde aber ein Korrektiv, das den Gottesdienst gegen alle Abschweifungen, Einseitigkeiten und Fehlgriffe des Pfarrers schützt. Denn der kann in einer kurzen Stunde nie die ganze Wahrheit des Glaubens ausbreiten, sondern immer nur Aspekte. Und er gerät leicht in Gefahr, sich in den eigenen Gedanken zu verlaufen. In solchen Fällen bildet das Glaubensbekenntnis einen wertvollen Gegenpol. Denn das zumindest war richtig – auch wenn in der Verkündigung sonst alles verkehrt gewesen wäre.

 

Haupt- bzw. Wochenlied

Die Wochenlieder waren früher den Sonntagen des Kirchenjahres fest zugeordnet, und diese wiederum mit dem bäuerlichen Kalender verwoben. Man lebte in festen Zyklen und verstand auch noch, warum die Tücher vor der Kanzel und dem Altar mal diese und mal jene Farbe zeigen. Doch von alldem ist heute im städtischen Kontext wenig geblieben. Dass jeder Sonntag sein eigenes Thema hat, wissen nur noch die Pfarrer. Und so wird auch das Lied vor der Predigt frei gewählt. Das Singen selbst ist aber nicht bloß „Zwischenspiel“ und „Abwechslung“, sondern birgt Chancen. Denn die Lieder des Gesangbuchs enthalten einen Schatz konzentrierter Glaubenserfahrung, der über viele Generationen hinweg gesammelt wurde und sich bewährt hat. Diese Glaubenserfahrung ist zu weit, zu tief und zu reich, als dass einer allein sie ganz in sich aufnehmen könnte. Vielmehr gilt das Umgekehrte – die umfassende, 2000-jährige Erfahrung der Kirche nimmt mich auf, gibt mir Wohnung, beheimatet und birgt mich in ihrem Strom. So kann ich einstimmen in den Gesang der Christenheit, der viele Generationen übergreift, und gewinne dabei Anteil an der Zuversicht, die schon über so viele Jahrhunderte hinweg Menschen getragen hat.

 

Predigt

Wenn jemand auf die Kanzel steigt, ist das nicht nur für die Akustik gut. Die „erhöhte“ Position erinnert auch daran, dass hier nicht des Pfarrers neuester Einfall, sondern Gottes Wort gepredigt werden soll. Der Prediger als Person steht natürlich in keiner Weise „über“ der Gemeinde. Gott aber schon. Und der soll zu Wort kommen. Das ist aber durch die Schriftlesung noch nicht erledigt, sondern fordert eindringendes Bemühen um den Text, weil die biblische Botschaft zwar immer dieselbe bleibt, die Situation der Hörer aber im Laufe der Geschichte ständig variiert. Gewiss ist Gottes Wort immer die Antwort. Aber nicht jede Zeit stellt dieselben Fragen. Und so soll der Prediger beides in Beziehung setzen, indem er zwar substantiell nichts „Neues“ sagt, das bekannte Evangelium aber immer wieder „neu“ sagt – ohne dabei etwas wegzulassen oder hinzuzufügen. Diese Aufgabe, das biblische Wort ohne inhaltliche Verzerrung in der Sprache der Gegenwart neu zu formulieren, ist erschreckend anspruchsvoll – und aus Respekt vor Gottes Wort sollte sich keiner unberufen oder unvorbereitet dran versuchen. Die entscheidende Qualifikation ist aber doch nicht das theologische Studium, sondern der Glaube. Denn Gottes Wort trifft uns als Ruf – und der Glaube ist die menschliche Antwort, nach der dieser Ruf verlangt. Glaube ist dialogisches Geschehen. Und die Aufgabe des Predigers besteht darin, seine Hörer in den Dialog mit Gott hineinzunehmen. Das aber kann nicht gelingen, wenn er nicht selbst mit Gott im vertrauensvollen Gespräch steht, so dass er die Schwierigkeiten und Glücksmomente dieses Gesprächs aus eigener Erfahrung kennt. Wer predigt, muss nicht nur Gottes Wort in all seiner Schärfe und Milde kennen, sondern auch die Menschen, die es in ihren so verschiedenen Lebenslagen trifft. Und nur wenn er erkennbar „einer von ihnen“ ist, kann er glaubhaft darstellen, welche Antwort Gottes Ruf von ihnen fordert. Das Ziel ist aber nicht, die Zuhörer zu informieren, zu unterhalten oder zu beeindrucken (das wäre vergleichsweise leicht!), sondern das Ziel muss sein, dass die Hörer jene Gemeinschaft mit Gott, für die sie geschaffen wurden und aus der sie schuldhaft gefallen sind, durch Gottes barmherzigen Zugriff wieder erlangen. Sie erlangen Gemeinschaft mit Gott durch den Glauben, der Gott Recht haben lässt, weil das verkündigte Wort (wo immer es gläubige Aufnahme findet), das Heil der Hörer nicht nur beschreibt, sondern tatsächlich wirkt und schafft. Der Prediger selbst ist dabei aber nicht das Thema, sondern bezieht sich höchstens zum Zwecke der Illustration auf sich selbst. Weder soll er seine frommen Gefühle vor der Gemeinde ausbreiten, noch sollte er den Eindruck erwecken, dass er keine hätte. Denn „hängen bleiben“ soll nicht die Befindlichkeit des Verweisenden, sondern nur das, worauf er verwiesen hat. Nicht eine Bindung an den Prediger ist das Ziel, sondern die Bindung an Christus. Bei ihm muss also der Fokus liegen. Ob das äußere Wort den Hörern dann aber zur inneren Bewegung des Glaubens hilft, haben sie ebenso wenig in der Hand wie der Prediger. Denn den Glauben zu schenken oder nicht zu schenken, hat sich der Heilige Geist vorbehalten. Der Prediger ist bestenfalls ein Werkzeug – und das begrenzt seine Verantwortung. Aber wehe ihm, wenn er sich nicht müht, das beste Werkzeug zu sein, das er sein kann!    

 

Predigtlied

Das „Lied nach der Predigt“ antwortet auf das Gehörte und lässt es nachklingen. Es gibt dem Hörer Gelegenheit, zu sichten und zu ordnen, was die Predigt in ihm angeregt hat. Es beginnt in ihm zu arbeiten. Er setzt sich zum Gehörten in Beziehung. Und wenn der Prediger ein passendes Predigtlied gewählt hat, kann es nebenbei den Nachweis erbringen, dass die Predigt nicht aus des Pfarrers privaten Ideen bestand, sondern in ihren Hauptaussagen mit der Tradition evangelischer Frömmigkeit übereinstimmte. Die viel geschmähten „alten“ Lieder sind ein Niederschlag jahrhundertealter Erfahrung. Und sie wären nicht bis heute überliefert worden, wenn sich nicht unzählige Generationen darin wiedergefunden hätten. Sie enthalten wenig Modisches, dafür aber umso mehr Bewährtes. Und wenn die Predigt sich damit im Gleichklang befindet, ist das eine Empfehlung ganz eigener Art.   

 

Sündenbekenntnis und Vergebung

Durch das nun folgende Abendmahl wird jeder, der teilnehmen darf, in die Tischgemeinschaft Jesu einbezogen – und zugelassen sind dazu alle getauften Christen, die ihrer Kirche die Treue halten. Das Abendmahl greift hinweg über die Grenzen von Raum und Zeit, es verbindet uns mit den Christen aller Jahrhunderte, es verbindet uns mit den Aposteln, die damals mit Jesus zu Tisch saßen, es verbindet uns mit den kommenden Generationen, die nach uns dasselbe tun werden – und verbindet uns sogar mit den verstorbenen Glaubensgeschwistern, die schon heute das Freudenmahl feiern mit den Engeln im Himmel. Etwas vom Reich Gottes wird hier und jetzt am Altar vorweggenommen. Der Gastgeber aber, der dazu einlädt, ist Jesus selbst, der sich uns nicht nur verbal „mitteilt“, sondern auf geheimnisvolle Weise „sich–mit–uns–teilt“ und „sich–uns–gibt“ in Brot und Wein. Sein Sakrament will nicht zerredet, sondern mit Ehrfurcht und Freude gefeiert werden. Und es steht um keine Gemeinde gut, in der das nicht regelmäßig geschieht. Die Mahlfeier beginnt mit einem Sündenbekenntnis. Denn in der Annäherung an das Heilige wird uns peinlich bewusst, wie schlecht wir für diese Begegnung gerüstet sind. Was hat der Reine zu schaffen mit den Schmutzigen, der Glanzvolle mit den Erbärmlichen, der Herr mit den Knechten? Wie soll sich ohne Konflikt begegnen, was unverträglich ist? Und wie sollten unreine Lippen Gottes Lob singen können (Jes 6,1-7)? Diese Schwierigkeit erkennend legt die Gemeinde die Karten auf den Tisch und bekennt, dass sie der Gemeinschaft Gottes nicht würdig ist. Sie bittet aber zugleich im Namen Christi um Vergebung. Und diese Vergebung wird ihr (vom Pfarrer, aber natürlich nicht im Namen des Pfarrers, sondern im Namen Christi) verbindlich zugesagt. Niemand weiß besser als der Pfarrer, dass nur Gott Sünden vergeben kann. Doch Gott selbst beschloss, die Jünger Christi dazu zu autorisieren und sie damit zu beauftragen. Das ist das „Amt der Schlüssel“, das Christus seinen Jüngern anvertraut hat (Joh 20,23; Mt 16,19; 18,18). Und darum ist dort, wo die Bitte um Vergebung echt und ehrlich war, auch die Absolution so echt und gültig, als hätte Christus sie in eigener Person gesprochen. Die Absolution als „Freispruch“ wird nicht bloß erbeten (so dass evtl. offen bliebe, ob Gott der Bitte auch entsprechen möchte), sondern Absolution wird verbindlich erteilt, d.h. sie schafft das Faktum, von dem sie redet.

 

(Pfarrer zum Altar gewandt:) Allmächtiger Gott, barmherziger Vater, wir haben gesündigt in Gedanken, Worten und Werken. Wir haben deinem Wort nicht geglaubt und haben gegen dein Gebot verstoßen. Unseren Nächsten sind wir viel Liebe schuldig geblieben und haben ihnen mit deinen Gaben nicht immer gedient. Wir sind deiner Gemeinschaft darum nicht würdig – aber wir nehmen Zuflucht zu deiner Barmherzigkeit und bitten im Namen Jesu um Vergebung. Amen.

(Pfarrer zur Gemeinde gewandt:) Vor dem Angesicht Gottes frage ich euch: Ist dies euer aufrichtiges Bekenntnis und begehrt ihr Vergebung eurer Sünde um Christi willen, so antwortet „Ja“.

(Gemeinde:) „Ja“

(Pfarrer zur Gemeinde gewandt:) So hört den Trost und die Absolution: Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes: Eure Sünde ist euch vergeben. Amen.

 

In Wahrheit ist es würdig und recht…

Die empfangene Vergebung macht den Weg frei, so dass wir uns nun unbelastet und froh der Gegenwart des Heiligen zuwenden und gemeinsam mit irdischen und überirdischen Mächten Gott die Ehre geben. Denn das heilige Geschehen übergreift nicht nur Raum und Zeit – es verbindet auch Himmel und Erde. Und so, wie es uns mit Christus und den ersten Aposteln verbindet, so auch mit denen, die längst die „kämpfende Kirche“ auf Erden verlassen haben, um in die „triumphierende Kirche“ im Himmel überzugehen. Wir beginnen also nicht von uns aus einen neuen Lobgesang, sondern „klinken uns ein“ in die himmlische Liturgie, die ganz unabhängig von uns gefeiert wird, und in deren überzeitlichen Chor wir einstimmen, um dabei etwas vom Reich Gottes schon hier und heute vorwegzunehmen.     

In Wahrheit ist es würdig und recht, dass wir dir, Herr, allmächtiger Vater, ewiger Gott, zu aller Zeit und an allen Orten Dank sagen durch unseren Herrn Jesus Christus. Er hat uns die Vergebung der Sünde verheißen, dass wir, durch deine Gnade gerecht, ein neues Leben führen. Darum loben die Engel deine Herrlichkeit, darum beten dich an die Mächte und fürchten dich alle Gewalten. Die Kräfte des Himmels preisen dich mit einhelligem Jubel. Mit ihnen vereinen wir unsere Stimmen und lobsingen ohne Ende…

 

Heilig, heilig, heilig…

Heilig, heilig, heilig ist der Herre Zebaoth; alle Lande sind seiner Ehre voll. Hosianna in der Höhe. Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn. Hosianna in der Höhe.

Spätestens hier wird der Gemeinde bewusst, dass der Gottesdienst sie aus dem Alltag herausgehoben und in den Thronsaal Gottes versetzt hat. Sie tritt ihrem König gegenüber und erlebt die bestürzende Fremdheit dessen, der ihr unendlich überlegen und in jeder Hinsicht „anders“ ist. Die Gemeinde kann dem nur entsprechen, indem sie das unendliche Gefälle zwischen den Gästen und dem Gastgeber anerkennt und sich tief verneigt. Ehrfurcht ist am Platze. Denn das Heilige ist gleichermaßen mächtig, dem Menschen das Heil zu schenken – oder ihm den Untergang zu bereiten. Es ist ebenso faszinierend wie erschreckend. Und wer das spürt, wird das Heilige zugleich suchen und meiden. Es zieht ihn an, weil ihm die Macht innewohnt, die dem Menschen so sehr fehlt. Es schreckt ihn ab, weil er sich dieser Macht gegenüber nicht behaupten kann. Und doch ist am Altar nicht zu übersehen, dass der Unfassliche sich in Brot und Wein für uns fasslich machen will. Er hält an seinem Tisch einen Stuhl für uns frei. Aus reiner Güte schafft er die Gemeinschaft, deren wir nicht würdig sind. Und das freudige Gotteslob, mit dem wir seine Einladung quittieren, bringt uns vollends in die Gott gegenüber angemessene Haltung. Denn Loben ist das, was jeder ganz von selbst tut, wenn er Gottes Herrlichkeit erkennt. Es ist der spontane Reflex aller, die mit Gott im Reinen sind. Denn wir haben vor Augen, was er an uns tut. Und dass es uns jubeln lässt, ist unausweichlich. Erst im Lobpreis entspricht die Gemeinde ganz dem lobwürdigen Gott, dem sie sich gegenübersieht.

 

Einsetzungsworte

Unser Herr Jesus Christus in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach‘s und gab‘s seinen Jüngern und sprach: Nehmet hin und esset: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; solches tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Abendmahl, dankte und gab ihnen den und sprach: Nehmet hin und trinket alle daraus: Dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden; solches tut, sooft ihr‘s trinket, zu meinem Gedächtnis.

Der Pfarrer spricht die Einsetzungsworte. Und er hütet sich dabei, vom Wortlaut abzuweichen. Denn eigenmächtige „Variationen“ müssten hier alles verderben. Er macht aber zugleich über Brot und Wein das Zeichen des Kreuzes, wodurch das, was bisher ein gewöhnliches Nahrungsmittel war, dem besonderen Zweck des Abendmahls gewidmet, gesegnet und durch Gottes wirkmächtiges Wort zu Christi Leib und Blut gewandelt wird. Nach evangelischer Lehre hören Brot und Wein zwar nicht auf, Brot und Wein zu sein. Aber in, mit und unter der Gestalt von Brot und Wein ist nun zugleich Christi Leib und Blut gegenwärtig – und beides wird gemeinsam mit dem Brot und dem Wein leiblich gegessen und getrunken. Das ist nicht bloß „symbolisch“ gemeint, sondern sehr real, weil Christus bei der Einsetzung des Abendmahls nicht sagte, das Brot sei ein Zeichen, Gleichnis oder Bild seines Leibes, sondern sagte: „das ist mein Leib“ (Mt 26,26-28; 1. Kor 11,23-25). Wie Christus das bewerkstelligt, dass er (in Brot und Wein enthalten) sich uns gibt, versteht kein Mensch. Aber wozu ist es auch nötig, das zu verstehen, wenn man sich doch der Wohltat freuen darf, dass Christus mit uns eins werden will? Das eigentlich große Rätsel ist nicht „wie“ er das macht, sondern „warum“ er‘s überhaupt will! 

 

Christe, du Lamm Gottes…

Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, erbarm dich unser. Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, erbarm dich unser. Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, gib uns deinen Frieden. Amen.

Indem die Gemeinde vom „Lamm Gottes“ singt, macht sie sich noch einmal klar, wie ihre Gemeinschaft mit Gott zustande kam. Denn hätte Christus nicht unsre Schuld auf sich genommen und unsre Strafe getragen, stünde die Sünde immer noch trennend zwischen uns und unsrem Schöpfer. Ohne das Opfer, das Christus am Kreuz brachte, ohne seinen Mittlerdienst, wären wir nicht mit Gott versöhnt und dürften uns bei ihm nicht blicken lassen. Doch wenn Gott uns Christi Gerechtigkeit zugute hält – dann geht es. Wir hüllen uns also in Christi Gerechtigkeit wie in einen Mantel. Sie ist unser „Schmuck und Ehrenkleid“ (EG 350), seit wir auf den Namen Christi getauft wurden. Und so erkennen wir es als Zugangsbedingung zur Gemeinschaft mit Gott, dass wir nicht anders als im Namen des Lammes kommen, das der Welt Sünde trägt (Joh 1,29; Jes 53,7; Apg 8,32-35; Offb 5,12). 

 

Austeilung

Während der Austeilung von Brot und Wein repräsentiert der Pfarrer die Person Christi, so dass die Teilnehmenden Brot und Wein eigentlich aus Christi Händen empfangen. Und während sie sich den Leib Christi „einverleiben“, werden sie auch ihrerseits in den Leib Christi „einverleibt“ – ja, während sie Christus in sich aufnehmen, nimmt er sie in sich auf. Als Christen sind wir in Christus, und er in uns, weil wir nur so Heil und ewiges Leben erlangen. Die vielen aber, die in Christus „eins“ sind, können auch in der Welt nicht wirklich „getrennt“ sein – weshalb uns das Abendmahl nicht nur (vertikal) mit Gott verbindet, sondern auch (horizontal) mit den Geschwistern, die sich mit uns um den Altar herum versammeln. Anders als die Predigt, die immer viele Menschen und keinen „im Speziellen“ anredet, richten sich die Spendeworte beim Abendmahl ganz individuell an den Einzelnen: „Christi Leib, für dich gegeben – Christi Blut, für dich vergossen“. Da kann keiner mehr dran zweifeln, dass er persönlich gemeint ist. Und wer den Worten glaubt, hat dann auch, was sie sagen – hat nämlich Anteil an Christus und in ihm das Heil. So versteht sich dann, dass die Feier des Abendmahls mit einem Dankgebet endet. Übrigens sind Brot und Wein nach evangelischer Lehre nur während des sakramentalen Gebrauchs Christi Leib und Blut. Ist der Gottesdienst mit dem Segen beschlossen, endet auch die besondere Gegenwart Christi in Brot und Wein. Trotzdem sind verbleibende Reste nicht achtlos zu „entsorgen“, sondern umgehend zu verzehren.

 

Gebet

Wie ein Freund dem Freund sein Herz ausschüttet, so darf es die Gemeinde vor Gott tun. Denn er ist gewillt, mit offenen Ohren alles zu hören, was uns bewegt (Mt 7,7-11). Und wie das Buch der Psalmen zeigt, gehören dazu nicht nur schöne und vorzeigbare Gefühle, sondern auch andere. Auch Klagen und Bitterkeiten gehören dazu, Wut und Verzweiflung, Freude und Jubel, Lob, Dank und Bitte. Wir müssen vor Gott nichts verbergen – und könnten‘s auch gar nicht. Denn er sieht sowieso in die Herzen. Er kennt unsre Gedanken, bevor wir sie aussprechen, und muss daher nicht erst über unsre Lage „informiert“ werden. Doch seltsamerweise rückt das, was wir vor Gott ausbreiten, schon dadurch in ein neues Licht, dass wir‘s vor Gott bedenken. Manches aus unsrem Innenleben wirkt gar nicht mehr plausibel, wenn wir es Gott gegenüber aussprechen wollen. Wir können den guten Gott nicht bitten, unsren bösen Gedanken zu folgen. Und uns wird bewusst, dass sein Wille wichtiger ist als unsrer. Nicht Gott soll das Werkzeug unserer Pläne sein, sondern im Gebet stellen wir uns für seine Pläne zur Verfügung. Er schuldet uns nichts, wir schulden ihm alles. Gebunden ist er nur an seine Verheißungen. Nur bei ihnen können wir Gott behaften. Und so reduziert sich, was wir ihn sinnvoll bitten können, auf das, was er selbst schon zu tun versprochen hat – dass nämlich sein Reich komme (auch zu uns!), dass sein Wille geschehe (auch durch uns!) und sein Name geheiligt werde (auch in unsrer Mitte!). Das gottesdienstliche Beten erfordert, dass der Pfarrer die Anliegen der Gemeinde stellvertretend so formuliert, dass sie ohne inneren Vorbehalt einstimmen und sich in seinen Worten wiederfinden kann. Und in Anbetracht dessen, dass jeder Teilnehmer in einer anderen Gemütsverfassung zum Gottesdienst kommt, ist das keine leichte Aufgabe. Weil manches aber zu persönlich und nicht geeignet ist, vor aller Ohren ausgesprochen zu werden, hat nach den Fürbitten auch das „stille Gebet“ eine wichtige Funktion. Denn in der Stille kann jeder seine Anliegen in das gemeinsame Gebet einfügen, kann seinem Herzen Luft machen und Gott all jene namentlich ans Herz legen, von deren Not er weiß. Sollte der Pfarrer aber Wesentliches vergessen haben (und die anderen auch), so darf Gesagtes und Ungesagtes in das abschließende Vaterunser mit einfließen. Denn an dem Gebet, das Christus selbst seine Jünger lehrte, kann ja nie etwas falsch sein. Da kann auch nichts Entscheidendes fehlen. Und so sammeln wir dahinein alles, was zu sagen uns nicht gelungen ist – und überlassen das Übrige dem Heiligen Geist (Röm 8,26-27). 

Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

In dieser Weise beten zu können, ist ein Privileg der Christenheit. Denn sie allein kennt die richtige Adresse und das Gegenüber, dem die Not und Bedrängnis der Welt vorgetragen werden kann. Andere kennen wohl auch die Not. Sie wissen aber nicht, wo sie ihre Bedrängnis loswerden können, bleiben damit allein, verbittern und verstummen. Der Christenheit aber ist versprochen, dass Gott sie erhören will. Denn sie betet von Gottes eigenem Geist getrieben im Namen Jesu zum himmlischen Vater. 

 

Segen

Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.

Christus hat uns vom Fluch erlöst, indem er unseren Fluch trug. Er tat’s aber, „damit der Segen Abrahams unter die Heiden komme“ (Gal 3,13-14). Und so nimmt ihn die Gemeinde am Ende des Gottesdienstes dankbar entgegen. Sie stellt sich bewusst unter den Segen. Der aber ist nicht etwa eine freundliche Geste des Pfarrers, der seiner Gemeinde Segen anwünscht oder ihn bloß erbittet (ungewiss, ob Gott denn auch segnen möchte), sondern der Segen wird in Vollmacht erteilt und gespendet als hoheitlicher Akt Gottes – d.h. er bringt die Gesegneten effektiv unter die heilende und heiligende Macht Gottes, von der im Segen die Rede ist. Wohl hebt der Pfarrer die Hände. Aber seine Person tut gar nichts zur Sache. Denn es ist Gott, der hier schützend und besitzergreifend seine Hand auf die Gemeinde legt, sie seiner Macht unterstellt, sie für sich in Anspruch nimmt und damit dem Zugriff anderer Mächte entzieht. Was unter Gottes Segen steht, gehört ihm. Und die Mächte der Finsternis sollen sich nicht dran vergreifen. Es untersteht seiner Herrschaft – und wird dadurch ebenso gefördert wie gefordert, begabt und verpflichtet. Die Gesegneten tragen forthin Gottes Zeichen an sich, sie haben die Bestimmung in Gottes Reich einzugehen, und sollen, wenn sie die Kirche wieder verlassen, dieser ehrenvollen Berufung im Alltag genügen. Gott hat sie für sich reklamiert. Er wird sie nun auch gnädig und mit Frieden im Blick behalten.

 

Amen

Die Gemeinde antwortet auf den ihr zugesprochenen Segen mit „Amen“. Und sie bekräftigt damit ihren im Gottesdienst erneuerten Bund mit Gott. Denn „Amen“ ist keine Floskel, sondern ein zustimmender Ruf, der das Gesagte und Getane bejaht, aneignet und bestätigt. Das „Amen“ hat etwa die Funktion einer Unterschrift, die man unter ein Dokument setzt. Es heißt „so ist es!“, so sei es!“, „ich stimme zu!“, „ich bin dabei!“, „darauf baue ich!“, „das steht fest!“ Und darum wäre es gut, sich bei dem kurzen Wort mehr zu denken und es bewusster zu sagen als üblich. Denn eigentlich macht sich die Gemeinde die vom Pfarrer gesprochenen Gebete erst durch das abschließende „Amen“ zu eigen. Mit „Amen“ quittiert sie den Empfang des Segens. Und mit „Amen“ bestätigt sie das Glaubensbekenntnis als das ihre. Wer „Amen“ sagt, hat etwas in seiner Geltung anerkannt – nicht halb, sondern ganz. Und weil ihn das hinterher bindet, sollte er‘s nicht gedankenlos tun.

 

Orgelnachspiel

Das Orgelnachspiel bündelt musikalisch, was vielleicht alle Worte übersteigt – Überschwang, Freude und Trost, Wehmut, Trauer und Schmerz. Die Welt vor der Kirchentür ist nach dem Gottesdienst immernoch dieselbe. Aber wir, die wir unser Leben vor Gott bedacht und unsren Bund mit ihm erneuert haben, nehmen mit hinaus, was uns zugesagt wurde: Nicht die Welt spricht das letzte Wort über uns, sondern Gott tut es. Er allein ist unser Richter. Nichts ist wichtig, was er nicht wichtig nimmt. Ihm haben wir unser Herz vertrauensvoll geöffnet – und haben seine Antwort vernommen.

 

Kollekte

Spätestens beim Verlassen der Kirche zückt man den Geldbeutel und spendet etwas für die Gemeinde oder für einen anderen guten Zweck. Doch ist das nicht der Ersatz für ein Eintrittsgeld, das am Anfang des Gottesdienstes nicht erhoben wurde, sondern es zeigt, dass uns das Evangelium – recht verstanden – auch zur Fürsorge für unsre Mitmenschen verpflichtet. Wie könnte, wer von Gott große Barmherzigkeit erfahren hat, nicht auch barmherzig sein mit seinem Nächsten? Ist Gott uns gegenüber gütig, sollten wir da nicht auch gütig sein gegen die Notleidenden? Christen sollen Gottes Liebe nicht nur empfangen, sondern auch weiterreichen. Und wie sie das auf der geistlichen Ebene tun, wenn sie das Evangelium im Alltag weitersagen, so tun sie‘s auf der materiellen Ebene, indem sie etwas vom eigenen Wohlstand mit den Bedürftigen teilen. Gehören wir Gott, so gehört ihm auch unser Geld. Und wir sollen nicht zögern, es in seinem Sinne zu gebrauchen. Denn wie sonst könnten wir ihm danken? Gott in seiner Vollkommenheit hat ja nicht nötig, dass wir etwas für ihn tun. Der Mitmensch in seiner Gebrechlichkeit aber schon. Und Gott sieht‘s mit Freude, wenn wir an den Bedürftigen den Dank abstatten, den wir eigentlich ihm schulden.

 

Nachwort

Wer den äußeren Ablauf des Gottesdienstes überschaut, findet darin vieles, was historisch gewachsen ist und je nach örtlicher und konfessioneller Tradition variiert. Die Reihenfolge der liturgischen Stücke ist eher plausibel als zwingend zu nennen. Und trotzdem ist das Ganze nicht planlos oder bloß „dem Herkommen geschuldet“, denn es hat seine organisierende Mitte in dem Wunsch der Gläubigen, ihrer Berufung gemäß Gott entsprechende Menschen zu sein, die sich stimmig zu ihm in Beziehung setzen und so gut zu ihm passen möchten, wie ein perfekt sitzender Handschuh zur Hand. Gott will zu uns sprechen, darum schweigen wir und hören sein Wort. Wo er aber ruft und Antwort fordert, bleiben wir sie nicht schuldig. Gott offenbart seine Gedanken, darum denken wir sie nach. Und weil er verspricht, dass er zuhören will, schütten wir unser Herz vor ihm aus. Gott will, dass wir ihm nichts vormachen, darum gestehen wir unsre Schuld. Und weil er sich über uns erbarmt, loben und preisen wir seine Gnade. Gott will die Seinen zu einem Leib verbinden, darum suchen wir die Gemeinschaft. Er möchte uns an Christus Anteil geben, darum empfangen wir, was er uns in Brot und Wein schenkt. Er lässt uns seine Herrlichkeit sehen, darum verneigen wir uns tief. Und weil Gott sich zu seinem Volk bekennt, bekennen auch wir uns zu ihm. Weil er segnen möchte, beugen wir uns dem darin liegenden Anspruch und Zuspruch. Das alles geht im Gottesdienst auf verwirrende Weise ineinander über. Dem Fremden erschließt es sich nicht gleich. Und dennoch folgt es einem Plan. Denn als Christen gehen wir mit Gott um, damit dieser „gute Umgang“ uns wandle und präge, und in Gottes Nähe – je länger, je mehr – alles aus uns verschwinde, was sich mit seiner Gemeinschaft nicht verträgt. Wir ringen um den Konsens mit Gott, um den, der immer Recht hat, (auch, was unser Leben betrifft) Recht haben zu lassen. Was ist also ein Gottesdienst anderes als Glaube im Vollzug? Was ist er anderes als ein Versuch gottgemäßen Daseins in Gottes Gegenwart – und somit (wenn Gott es gelingen lässt) eine Vorwegnahme dessen, was die ewige Seligkeit ausmachen wird? Wir möchten mit Gottes Absichten vertraut und mit seinem Willen im Einklang sein. Wir wollen an seinem Leben teilhaben und in seiner Treue ruhen. Wir wollen die Dinge so sehen, wie sie sich in Gottes Augen darstellen, und nichts anders bewerten, als er es bewertet. Wir versuchen so entschlossen auf Gott zuzugehen, wie er in Christus auf die Menschheit zuging. Und wir entsprechen ihm, indem wir uns der Peripherie zuordnen, ihn aber die Mitte sein lassen. „Gottgemäß“ verhält sich ein Mensch, der sich ganz mit Gott identifiziert, ohne sich auch nur eine Sekunde mit ihm zu verwechseln. Der Gottesdienst ist aber nichts anderes als eine gemeinschaftliche Übung in diesem bewussten „Sein vor Gott“. Er gelingt, wo Gott ihn gnädig gelingen lässt. Und da ist er dann keine menschliche Veranstaltung mehr, sondern Heilsgeschehen im vollen Sinne des Wortes. Weil unser Aufwand aber wenig dazu beiträgt, darf es ruhig schlicht zugehen. Denn wirklich erforderlich ist nur die Gemeinschaft von zwei oder drei Christen, das biblische Wort, das Gebet, das Bekenntnis und der Segen. 

 

Gott ist gegenwärtig.

Lasset uns anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten.

Gott ist in der Mitte.

Alles in uns schweige und sich innigst vor ihm beuge.

Wer ihn kennt, wer ihn nennt,

schlag die Augen nieder; kommt, ergebt euch wieder.

(EG 165)

 

(QUELLEN: Die hier wiedergegebenen liturgischen Texte folgen entweder dem Evangelischen Gesangbuch oder den Agenden der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck. Nur das Sündenbekenntnis wurde aus älteren Vorlagen zusammengestellt. T.G. 2024)

 

Bild am Seitenanfang: Solemn Mass in the Hofburg chapel (Ausschnitt)

Jindřich Tomec, Public domain, via Wikimedia Commons