Pfarramt und Allgemeines Priestertum

Pfarramt und Allgemeines Priestertum

Haben alle Christen ein geistliches Amt? 

Wenn ich sie einlade, über den seltsamen Beruf eines Pfarrers nachzudenken, so könnte vielleicht einer sagen: „Wozu? Da gibt es doch nicht viel nachzudenken. Wir wissen doch, was ein Pfarrer ist! Der hält sonntags Gottesdienst und unterrichtet am Dienstag die Konfirmanden, er besucht die Senioren zum Geburtstag und leitet Sitzungen des Kirchenvorstandes. Er beantragt Baumaßnahmen, tauft und beerdigt, schreibt Artikel für den Gemeindebrief, gibt Religionsunterricht, plant Bibelkurse und Gemeindeabende, stellt Patenscheine aus und wälzt überhaupt viel Papier auf seinem Schreibtisch herum.“ Rein äußerlich ist es nicht schwer, das Amt eines Pfarrers zu beschreiben. Doch wer nach dem Wesen des Pfarrerberufes fragt, muss vom Tagesgeschäft absehen und muss den historischen Wurzeln dieses Amtes nachgehen. Er landet dann zwangsläufig im Neuen Testament und erlebt dort eine Überraschung. Denn da wird im Brief an die Hebräer klargestellt, dass es in der Christenheit eigentlich nur einen „Pfarrer“, einen „Pastor“, „Hirten“ und „Priester“ gibt – und das ist Christus selbst.

Gewiss gab es vor ihm viele, viele Generationen von Priestern, die nach alttestamentlicher Ordnung im Tempel dienten, sangen, beteten und ein Opfertier nach dem anderen darbrachten, um Gottes Vergebung zu erwirken und sichtbar zu machen. Das geistliche Amt besteht ja in den meisten Religionen aus einer Art „Beziehungspflege“. Der Priester pflegt stellvertretend für das ganze Volk die Beziehung zu Gott, damit der Kontakt nicht abreißt oder dem Volk Gottes Segen verlorengeht. Auch die Priester im Tempel zu Jerusalem brachten Opfer dar, um das Volk Israel mit seinem Gott auszusöhnen und die durch die Sünden des Volkes entstandenen Störungen zu beheben. Nur dass eben dieser Arbeit kein Ende war und auch kein Ende werden konnte, weil keines dieser Opfer vollkommen war und genugsam. Jesus Christus dagegen – so lehrt es der Hebräerbrief –, hat ein unvergängliches Priestertum aufgerichtet, das alle selig macht, die durch ihn zu Gott kommen. Denn er hat dem unablässigen Opferdienst ein Ende gemacht durch das eine vollkommene Opfer, dass er auf Golgatha am Kreuz sein eigenes Leben opferte für unsere Sünden. Und das war das Ende des priesterlichen Berufsstandes.

Tatsächlich hat Christus die vielen, vielen Priester der Religionsgeschichte überflüssig gemacht, weil er die traditionelle Aufgabe des Priesters – zwischen Gott und den Menschen zu vermitteln – ein für allemal erledigte. Er, Jesus Christus, ist der eine, wahre Hohepriester, nach dem und neben dem es keinen anderen mehr geben kann. Denn wer Christus hat, der braucht keinen Menschen mehr als Vermittler, sondern hat bereits den besten Mittler und steht durch Gottes Sohn unmittelbar im Bund mit dem Vater. So ist es also nur konsequent, dass die evangelische Kirche keinen priesterlichen Dienst mehr kennt. Denn wir haben zwar noch einen Altar, der von seinem Ursprung her der Opferung dient. Aber wir bringen dort keine blutigen Opfer mehr dar, weil über unserem Altar das Kreuz hängt als Zeichen für das eine, nun ewig genügende Opfer Christi, durch das er allen weiteren priesterlichen Mittlerdienst überflüssig gemacht hat. Es gibt keine Versöhnung mehr zu erwirken, die er nicht längst erwirkt hätte. Es gibt keinen Preis mehr zu zahlen, den er nicht schon gezahlt hätte. Am Altar wird kein Blut mehr vergossen, seit Jesus für uns geblutet hat. Der Opferstein ist bei uns zum Abendmahlstisch geworden! Wenn die Christenheit aber demnach keine Priester mehr braucht – warum gibt es dann noch Pfarrer?

Tatsächlich: Wenn das Vorbild des Pfarrerberufes der alttestamentliche Tempelpriester wäre, so dürfte es in der Christenheit keine Pfarrer geben. Nach dem Opfer Jesu gibt es nichts mehr zu opfern. Doch liegen die Wurzeln des geistlichen Amtes anderswo: Sie liegen nämlich bei Christus selbst. In Christi Tun. Und in seinem Befehl. Denn was hat Christus sein Leben lang an seinen Jüngern getan? Er war ihnen Prophet und Lehrer, er predigte in den Synagogen und auf den Gassen das Evangelium von der Barmherzigkeit Gottes. Er lud seine Jünger zum Abendmahl und verband sie damit zu einer engen Gemeinschaft. Er lehrte sie Gottes Wahrheit begreifen und war ihr Seelsorger. Christus war für seine Jünger der gute Hirte, der seinen Schafen den Weg zum Leben wies. Und weil er nicht wollte, dass das nach Ostern aufhört, sondern wollte, dass es mit Hilfe des Heiligen Geistes weitergehen sollte, darum ist das geistliche Amt in der Kirche nichts anderes als eine Fortsetzung von Christi eigenem Amt. Denn wer dürfte sich mit größerem Recht einen Prediger des Wortes Gottes nennen, wenn nicht Jesus, der selbst das Wort Gottes ist? Wer verdiente den Namen eines „Seelsorgers“, wenn nicht er, der die Seelen rettet? Wer ist ein Pastor – ein „Hirte“ –, wenn nicht er, der sein Leben gab für die Schafe? Zuallererst und eigentlich ist Christus der Mittler zwischen Gott und Mensch – der große Menschenfischer –, und niemand dürfte sich anmaßen, es ihm nachzutun, wenn er nicht selbst dazu aufgefordert hätte. Doch hat er das. Er hat den Schafen seiner Herde aufgetragen, selbst Hirten zu werden und seine Lämmer zu weiden. Und er hat sie mit seinem Heiligen Geist begabt, damit sie das auch können.

Der große Menschenfischer hat seinen Jüngern befohlen, selbst Menschenfischer zu werden. Er, der seinen Jüngern in aller erdenklichen Weise diente bis hin zur Fußwaschung, hat diesen Jünger geboten, einander dasselbe zu tun. Sie sollen einander – und aller Welt – diesen Dienst der Liebe erweisen, dass sie weitergeben, was sie von Christus empfangen haben. Und den Wortlaut seines Auftrages kennen wir alle: „Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Der Gehorsam der Jünger gegen dieses Wort ist der Ursprung des geistlichen Amtes. Denn Christus fordert hier, dass die Jünger sein Werk fortsetzen sollen, dass sie hingehen, weitere Jünger gewinnen, taufen, lehren und weitergeben, was sie empfangen haben. Sie sollen sich und der ganzen Welt Hirten, Propheten und Lehrer sein, sollen weiterhin zur Umkehr rufen, zur Buße und zur Versöhnung mit Gott. Das befreiende, erleuchtende und erlösende Werk, das Christus an ihnen getan hat, sollen sie aneinander tun, so gut sie es vermögen, ja einer soll dem anderen zum Christus werden, soll den anderen annehmen, wie Christus ihn angenommen hat, und ihm Seelsorger sein, wie Christus ihm Seelsorger war.

Nur: An wen ging dieser Auftrag? Ging er, wie die katholische Kirche meint, nur an Petrus und seine Nachfolger? Ging er nur an die mit „höheren Weihen“ ausgestatteten Geistlichen? Ging er nicht an alle Christen? Es ist entscheidend, sich das klarzumachen. Denn tatsächlich ging Jesu Auftrag an alle Jünger – und das heißt: an alle Christen. Christus hat nicht Einzelne herausgehoben, die irgendwie frömmer oder heiliger gewesen wären als der Rest, um ihnen das geistliche Amt als Privileg beizulegen, sondern er ermächtigte und beauftragte alle Christen, sein Werk weiterzutreiben und fortzuführen. Und er hat davon keinen ausgenommen. Jeder soll dem anderen den Dienst tun, den Christus ihm tat. Und darum ist die Kirche keine Zweiklassengesellschaft von „Geistlichen“ und sogenannten „Laien“, sondern eine Gemeinschaft von Geschwistern, die alle gleichermaßen den Auftrag haben, einander Lehrer, Propheten, Hirten und Seelsorger zu sein. Jeder Christ hat Teil an diesem allgemeinen Priestertum, jeder ist in diesem Sinne „Pfarrer“, denn so sagt es der 1. Petrusbrief: „Ihr ... seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht.“

Jeder Christ hat also Teil am geistlichen Amt – ja, Christ-Sein ist ein geistliches Amt. So entspricht es dem Auftrag Christi. Warum wird dann aber das Pfarramt trotzdem einem Einzelnen übertragen? Das hat eigentlich nur praktische Gründe. Denn wenn jeder alles macht, macht’s vielleicht keiner richtig, und die Dinge gehen leicht durcheinander. Es geht geordneter zu und professioneller, wenn sich einer darauf konzentriert und sich durch ein Studium darauf vorbereitet, die Sakramente zu verwalten und schriftgemäß zu predigen. Es kann ja auch nicht jeder alles gleich gut. Und so lag es immer nahe, den Auftrag Christi zu delegieren und Ämter in der Kirche einzurichten. Es ist zweckmäßig, wenn einer als Pfarrer die Dinge der Gemeinde regelt, während die anderen ihren Berufen nachgehen, denn dieses Prinzip der Arbeitsteilung praktizieren wir auch sonst. Nicht jeder macht seine Schuhe selbst, sondern der Schuster macht sie für alle. Nicht jeder muss Arzt werden, sondern einer studiert Medizin und versorgt den Rest. Warum also soll es in Kirchendingen anders sein? Einer wird zum Pfarrer ausgebildet und tut dann für die anderen, was zu tun ist. Das ist in Ordnung so. Nur möchte ich betonen, dass es da eine Einschränkung gibt. Denn die „professionelle“ Ausübung des Pfarramtes, wie wir sie kennen, ist nur so lange in Ordnung, wie darüber das allgemeine Priestertum aller Christen nicht in Vergessenheit gerät. Sollte sich aber die Mehrheit der Gemeindeglieder aus der Verantwortung für das Evangelium zurückziehen – nach dem Motto: „Wofür man einen Pfarrer hat, darum muss man sich nicht mehr kümmern“ – so wäre der Schaden immens. Denn das hat Jesus bestimmt nicht gemeint, dass, wenn einer Pfarrer wird, der Missionsbefehl die anderen nichts mehr anginge. Nein! Nach wie vor ist jeder Christ aufgerufen, das Wort Gottes zu verkündigen – in seiner Familie, im Freundeskreis und am Arbeitsplatz. Jeder soll Fürbitte halten, soll Gott loben und danken. Jeder soll seinen Glaubensgeschwistern Seelsorger, Zuhörer und Ratgeber sein. Jeder Christ soll den anderen dienen so gut er kann, weshalb auch jeder mit den Augen und Ohren eines Pfarrers durch seinen Alltag gehen soll, damit er sich, wenn er auf geistliche Not und geistlichen Hunger stößt, auch zuständig fühlt. Jeder Christ ist da kompetent. Denn eine höhere geistliche Weihe, als die Taufe sie verleiht, gibt es in der Kirche nicht!

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Gudstjänst i skärgården

Albert Edelfelt, Public domain, via Wikimedia Commons