Zugehörigkeit zur Kirche

Zugehörigkeit zur Kirche

Gibt es Christen, die in keiner Kirche sind? 

Es ist üblich, diese Frage zu bejahen. Denn viele Menschen nehmen wie selbstverständlich an, das Christ-Sein habe mit der Zugehörigkeit zur Kirche nichts zu tun. Sie halten das Christ-Sein für eine innere Eigenschaft der Gläubigen, während die Zugehörigkeit zur Kirche nur etwas Formales und Äußerliches sein soll. Christ ist man im Herzen. Ein Glied der Kirche ist man auf dem Papier. Und der Umstand, dass in der Kirche viele Heuchler anzutreffen sind, wird zum Beweis herangezogen, dass das eine vom anderen zu trennen ist. Denn offenkundig kann man getauft sein und doch nicht glauben. Man kann der Kirche angehören, ohne in Wahrheit ein Christ zu sein. Und viele folgern dann im Umkehrschluss, man könne auch Christ sein, ohne der Kirche anzugehören. Doch dieser Umkehrschluss ist falsch und durchaus nicht logisch. Denn aus dem richtigen Satz „Man kann ein Säugetier sein, ohne zu den Schafen zu gehören“, folgt ja auch nicht, dass man ein Schaf sein könnte, ohne zu den Säugetieren zu gehören!

Ich gebe der Mehrheitsmeinung darin Recht, dass man der Kirche angehören kann, ohne in Wahrheit ein Christ zu sein. Ich bestreite aber, dass man in Wahrheit ein Christ sein kann, ohne einer Kirche anzugehören. Denn das Kennzeichen des Christ-Seins ist der Glaube an Jesus Christus. Und der ist nur echt, wenn er in die Nachfolge Christi führt und all das anstrebt, was Jesus seinen Jüngern so dringend ans Herz gelegt hat. Nicht umsonst hat Jesus die Seinen zu einer engen Gemeinschaft verbunden und hat sie gemahnt „eins“ zu sein im Heiligen Geist und in der Liebe! Nicht umsonst hat er ihnen aufgetragen, die Taufe und das Abendmahl zu praktizieren, hat sie das Beten gelehrt und sie zur Mission ausgesandt. Christus wollte keine Einzelkämpfer, sondern wollte, dass die Seinen sich gegenseitig stützen, ermahnen und trösten. Wer aber Christ sein will im Sinne Jesus Christi – wie könnte der sich ohne inneren Widerspruch von dieser Gemeinschaft absondern? Wer ernsthaft Christ sein will – wie könnte der sich der Gemeinschaft fernhalten, in die Jesus Christus seine Jünger einbinden will?

Das ist undenkbar. Und das genaue Gegenteil ist zu erwarten. Denn wo einer wirklich glaubt, hat er auch einen natürlich Drang zu den Geschwistern, die ihm das Wort Gottes auslegen und erklären, die ihm Vergebung zusagen, die ihm die Sakramente reichen und den Segen spenden. Wer aber gegen Jesu ausdrückliche Weisung (!) zu alledem keine Lust hat, weil es ihn weder zum Abendmahl zieht noch zum Austausch über Gottes Wort, der ist im Sinne des Neuen Testamentes auch nicht Christ zu nennen. Denn Christ ist man durch die Zugehörigkeit zum Leib Christi, der keine abstrakte Größe ist, sondern als Kirche sichtbare Gestalt gewinnt in den Mitchristen.

Damit ist nicht gesagt, dass es wahres Christentum nur in einer bestimmten Konfession gäbe. Die Zugehörigkeit zu Jesus Christus ist zum Glück nicht gebunden an die Zugehörigkeit zur evangelischen, katholischen oder orthodoxen Kirche. Aber ohne Zugehörigkeit zu irgendeiner christlichen Kirche ist Christ-Sein nicht (oder nur ganz vorübergehend) denkbar. In einer Situation der Christenverfolgung mag es eine unorganisierte, öffentlich kaum sichtbare Kirche sein. In nicht-christlichen Ländern kann ein Glaubender Schwierigkeiten haben, kirchlichen Anschluss und Gelegenheit zur Taufe zu finden. Und wenn einer, wie Martin Luther, aus seiner Kirche hinausgeworfen wird, kann es sogar vorkommen, dass sich Kirche um ihn herum erst neu formieren muss. Aber ein sich aus freien Stücken isolierender „Christ“, der die Gemeinschaft der anderen nicht sucht, sondern verachtet, ist nicht als Christ anzusehen, weil echter Glaube in die Gemeinschaft der Gläubigen hinein verweist und diese Gemeinschaft auch braucht. Christen sind Glieder am Leib Christi. Und in der Trennung von den übrigen Gliedern des Leibes erleiden sie dasselbe Schicksal, das ein Arm oder ein Bein erleidet, wenn es sich dauerhaft vom übrigen Organismus trennt. Welche Folgerungen sich für den Begriff der Kirche ergeben, verdeutlichen die folgenden Grafiken:

 

In Modell 1 ist die wahre und unsichtbare Kirche, die aus den wahren Christen besteht, deckungsgleich mit dem Bestand der verschiedenen Konfessionskirchen (evangelisch, katholisch, orthodox, etc.). Doch wenn das richtig wäre, dürfte es innerhalb der Konfessionskirchen nur wahrhaft Gläubige geben und keine Heuchler. Das Modell ist also offenkundig falsch.

Modell 2 erweitert den Kreis der wahren Kirche über die Konfessionskirchen hinaus. Es schließt die Konfessionskirchen restlos ein, rechnet aber auch jenseits dieser sichtbaren Kirchen mit wahren Christen. Das widerspricht einerseits dem zu Modell 1 Gesagten, weil es auch hier innerhalb der Konfessionskirchen keine Heuchler geben könnte. Es widerspricht aber auch unseren einleitenden Überlegungen, nach denen christlicher Glaube nicht „kirchenlos“ existiert, sondern immer zur sichtbaren Gemeinschaft strebt. Auch dieses Modell kann daher nicht richtig sein.

Modell 3 kommt der Wahrheit näher, weil es unserer ersten Einsicht Rechnung trägt: Man kann der sichtbaren Kirche angehören, ohne wirklich Christ zu sein. Jede Konfessionskirche hat einen Anteil von Heuchlern und Karteileichen. Doch rechnet Modell 3 mit wahren Christen außerhalb jeder Konfessionskirche, und widerspricht damit der oben begründeten These, dass wahrer Glaube immer zur kirchlichen Gemeinschaft drängt.

Erst Modell 4 berücksichtigt beide Wahrheiten: Nicht alle Getauften, die formal zu einer Konfessionskirche gehören, sind wahrhaft Gläubige. Aber alle wahrhaft Gläubigen gehören zu einer der Konfessionskirchen und finden in ihr ihre geistliche Heimat. Man kann ein Säugetier sein, ohne ein Schaf zu sein. Aber man kann kein Schaf sein, ohne ein Säugetier zu sein!

Wenn Modell 4 den Sachverhalt richtig beschreibt, ist das kein erfreulicher Befund. Man würde den Kreis der wahren Kirche gerne größer zeichnen, um möglichst viele Menschen einzubeziehen. Um nicht engherzig zu wirken, erklären viele Theologen auch diejenigen zu „anonymen Christen“, die sich von allem kirchlichen Leben fern halten. Man scheut sich, den Glauben, der im Leben keinerlei Gestalt gewinnt, defizitär zu nennen. Doch das Ergebnis ist nur, dass die säkulare Gesellschaft von kirchlicher Seite bestätigt bekommt, was sie sowieso schon dachte: Dass es nämlich auf die Teilhabe am kirchlichen Leben nicht ankommt. Damit bestreitet Kirche ihre eigene Relevanz. Und zugleich versäumt sie, die Distanzierten auf ihren Irrtum aufmerksam zu machen. Denn die meinen ja, sie kämen ohne Taufe, Bibel, Gebet, Gottesdienst und Abendmahl gut aus. Sie halten diese Dinge für entbehrlich. Aber das sind sie nicht. Denn wenn einer nichts von dem praktiziert, was nach neutestamentlichem Zeugnis zum Christ-Sein gehört, dann ist er auch keiner.

Oder kann man Christ sein, wenn man Gottes Wort nicht kennt, es nicht liest und dort nicht hingeht, wo es erklärt wird? Sollte die Bibel eine so leichte Lektüre sein, dass sie sich jedem auch zuhause mühelos erschließt? Wer aber die Bibel weder kennt noch schätzt noch je darin liest: Was hat der wohl mit dem Gott zu schaffen, der sich durch die Bibel offenbart? Der Glaube, von dem Jesus redet, besteht nicht in der Ansicht, dass es „etwas Höheres“ geben muss, sondern er ist eine Gottesbeziehung, die den ganzen Menschen erfasst, um jeden Teil seines Lebens zu prägen. Wirkliches Christ-Sein ist Hingabe und Entschlossenheit und lebenslanges Wachstum im Glauben. Es ist kein ruhender Besitz, den man einmal erwerben könnte, um ihn dann zu vergessen, sondern ist eine Lebenshaltung für alle Tage und alle Fälle. Darum kann es im Gesangverein „passive“ Mitglieder geben, die dazugehören obwohl sie nie einen Ton singen. In der Christenheit aber gibt es so etwas nicht.

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Rouen Cathedral, West Façade, Sunlight

Claude Monet, Public domain, via Wikimedia Commons