C. F. W. Walther (1811-1887):

Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.


Vierte Abendvorlesung. (3. October 1884.)

 

Wenn ein Theolog auch nicht in einem einzigen Punkt der christlichen Lehre weichen und nachgeben will, damit doch endlich in der Kirche Friede würde, so sieht das freilich in den Augen der Vernunft aus wie unerträglicher Eigensinn, ja, wie offenbare Bosheit. Daher werden denn auch solche Theologen, so lange sie leben, von Wenigen geliebt und gelobt, ja, die Meisten schelten sie vielmehr Friedestörer, sogar Zerstörer des Reiches Gottes. Man sieht sie für verabscheuungswürdige Menschen an. Zuletzt aber wird es doch offenbar, daß das ganz entschiedene, unerbittliche Festhalten an der reinen Lehre des göttlichen Worts die Kirche keineswegs niederreißt. Mitten im größten Unfrieden baut gerade das die Kirche und endlich bringt es den wahren Frieden. Darum wehe einer solchen Kirche, welche keine solchen Männer hat, die da auf den Zinnen Zions als Wächter stehen und jeden Feind, der einzudringen droht, melden und sich unter die Fahne JEsu Christi stellen zum heiligen Krieg! Stellen Sie sich nur einmal etwas lebendig vor: ein Athanasius hätte in der Lehre von der Gottheit Christi ein wenig nachgegeben, hätte mit den Arianern einen Compromiß gemacht und sich damit beruhigen lassen, daß die Arianer erklärten, sie glaubten auch, daß Christus Gott sei, nur nicht von Ewigkeit – (…) er sei Gott geworden – aber sie setzten hinzu: „Dennoch ist er anzubeten, denn er ist Gott“, was wäre dann geschehen? Schon damals wäre die Kirche herabgefallen von (S. 27) dem Felsen, auf den sie allein gegründet ist, und dieser Felsen ist allein JEsus Christus. Stellen Sie sich einmal ferner vor: ein Augustinus wäre auch nur ein wenig gewichen in der Lehre vom freien Willen, oder vielmehr von dem gänzlichen Unvermögen des Menschen in geistlichen Dingen, hätte einen Compromiß mit den Pelagianern gemacht, und sich damit beruhigen lassen, daß die Pelagianer erklärten: „Ja freilich, ohne Hülfe der Gnade Gottes kann kein Mensch selig werden“ – aber unter der Gnade Gottes verstanden sie die Gabe Gottes, die einem jeden Menschen zu Theil wird – was wäre dann geschehen, wenn Angustinus hier nachgegeben hätte? Schon zur damaligen Zeit hätte die Kirche den Kern des Evangeliums verloren, nichts wäre davon erhalten geblieben als die leere, hohle Schale, ja, nichts als den Namen hätte die Kirche behalten. Denn die Lehre des Evangeliums, daß der Mensch aus purlauterer Gnade Gottes durch JEsu Christi Verdienst vor Gott gerecht und selig wird, ist ja die allerwichtigste Lehre, der Kern und Stern der christlichen Lehre. Wo diese Lehre nicht verkündigt wird, da ist kein Christus, kein Evangelium, keine Seligkeit, da sind die Menschen verloren, da ist der Sohn Gottes vergeblich in diese Welt gekommen. Stellen Sie sich endlich vor: Luther wäre auch nur ein wenig gewichen in der Lehre vom heiligen Abendmahl, hätte mit Zwingli einen Compromiß gemacht in jener Zeit des Marburger Colloquiums und sich damit beruhigen lassen, daß die Zwinglianer sagten: „Wir glauben auch an eine gewisse Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl, aber nicht an die leibliche Gegenwart, denn Gott gibt uns nicht solche hohe, unbegreifliche Dinge zu glauben“ – womit Zwingli das ganze Christenthum in Frage stellte, so daß selbst Melanchthon, der sonst sehr geneigt war, etwas nachzugeben, erklärte, daß Zwingli ins Heidenthum zurückgefallen sei – was wäre dann geschehen? Schon damals wäre die Kirche verfallen in Nationalismus, der die Vernunft stellt über das klare Wort Gottes. Darum seien gesegnet alle die treuen Kämpfer, welche gekämpft haben, ohne nach Menschengunst zu fragen, ohne sich vor Menschen zu fürchten, für jeden Punkt der christlichen Lehre! Ihre Schmach ist nicht vergeblich gewesen, obgleich sie oft groß war. Als Verfluchte gingen sie einher bis an ihren Tod, aber jetzt tragen sie den Kranz der Ehren, sind in seligster Gemeinschaft mit Christo, allen Engeln und Auserwählten. Nicht umsonst ist auch ihre Arbeit und ihr heißer Kampf gewesen, denn noch jetzt nach mehr als einundeinhalb Jahrtausend oder doch nach mehreren Jahrhunderten erntet die Kirche, was sie gesäet haben. – Darum, meine Freunde, lassen Sie uns auch festhalten an diesem Kleinod der reinen Lehre! Lassen Sie es sich nicht befremden, wenn wir dann auch (S. 28) die Schmach tragen müssen, die jene getragen haben, sondern bedenken Sie, daß das Wort Sir. 4,33.: „Vertheidige die Wahrheit bis in den Tod, so wird Gott der HErr für dich streiten!“ dann auch an uns wahr wird. Das sei Ihr Motto! Streiten Sie für die Wahrheit bis in den Tod, so wird Gott der HErr für Sie streiten! Wir kommen nun zu einer Thesis, die uns sagt: Da die beiden Lehren des Gesetzes und Evangeliums so verschieden sind von einander, so müssen wir auch diese beiden Lehren in unsern Predigten unterscheiden.

 

Thesis II. Ein reiner Lehrer ist nur derjenige, welcher nicht nur alle Artikel des Glaubens schriftgemäß darlegt, sondern auch Gesetz und Evangelium recht von einander unterscheidet.

 

Diese Thesis zerfällt in zwei Theile. Der eine Theil verlangt, daß ein reiner Lehrer alle Artikel des Glaubens schriftgemäß darlege. Das ist nun in unserer Zeit eine ganz unerhörte Forderung. Man entsetzt sich davor, und zwar von Seiten der sogenannten Gläubigen, wenn jemand sagt: „Ich habe die Wahrheit gefunden, ich bin gewiß in jeder Lehre der Offenbarung.“ Man sieht eine solche Behauptung für eine Arroganz an. Namentlich soll ein junger Student von sich das nicht sagen. „Nur nicht abgeschlossen“, – ruft man Ihnen in Deutschland zu – „glauben Sie nur nicht, daß Sie die Wahrheit schon gefunden haben! Studiren Sie nur weiter, bis Sie das Ziel erreicht haben!“ Aber das Ziel wird bei ihnen nicht erreicht, denn wenn auch einer sagte: „Ich habe abgeschlossen“, „ so geräth er schon sehr in Verdacht. . . . Es gibt Menschen, die ihre Lust nicht in Essen und Trinken suchen, auch nicht in Reichthum, auch nicht in guten Tagen, sondern in der Befriedigung ihres Wissenstriebes. Das billigt man freilich auch nicht, aber im Grunde thut man doch dasselbe, wenn man seinen eigenen Studenten sagt, sie warnt: „Nur nicht abgeschlossen mit der christlichen Lehre!“ – denn sie fürchten, daß man mit irgend einem Artikel abschließt, anstatt den Stein ewig und ewig zu wälzen, um ihn in die Höhe zu bringen. Daher hat sich auch Kahnis, der früher treu lutherisch war, zu rechtfertigen gesucht in der Vorrede zu seiner elenden Dogmatik mit den Worten: „Dies diem docet“, womit er sagen will: „Vor einem Jahr habe ich dies und das geglaubt, aber dann sind mir andere Gedanken gekommen, dann habe ich andere Lehren gefunden.“ Eine elende, schreckliche Stellung! Nein, Gottes Wort verlangt, daß wir es ganz rein und lauter haben sollen, daß wir sagen können, wenn wir (S. 29) von der Kanzel gehen: „Ich habe Gottes Wort recht gepredigt, daß ich darauf schwören kann, ja, daß ich, wenn ein Engel vom Himmel käme, doch sagen könnte: Ich habe recht gepredigt!“ Daher sagt Luther, obwohl in paradoxer Weise, wenn ein Prediger von der Kanzel käme, dürfe er kein Vaterunser beten, sondern vor der Predigt solle er es thun; ein rechter Prediger brauche nämlich nach der Predigt nicht zu sagen: „Vergib mir meine Schuld“, sondern: „Ich habe die reine Wahrheit verkündigt.“ Man wird aber heutzutage, wenn man das sagt, für einen Halbwahnsinnigen angesehen. So sehr ist man im Skepticismus versunken. Das Wort Gottes sagt uns Jer. 23,28. (wo der Prophet den HErrn redend einführt): „Wer mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen? spricht der HErr.“ Also nur Weizen und kein Stroh soll in unsern Predigten sein. Der Apostel Paulus warnt die Galater, Gal. 5,9.: „Ein wenig Sauerteig versäuert den ganzen Teig.“ Eine einzige falsche Lehre, will er sagen, verdirbt die ganze Lehre. Und Moses warnt schon: „Ihr sollt nichts dazu thun und sollt auch nichts davon thun“, 5 Mos. 4,2., und Johannes schließt die ganze Bibel mit denselben Worten. Wenn man nun sagt: „So weit bringt man es nie, daß man Artikel des Glaubens schriftgemäß darlegen kann“, so ist das eine teuflische Lehre. Namentlich wenn es die Studenten hören, so ist das ein wahres Höllengift, das in ihre Herzen gegeben wird; denn dann befleißigen sie sich gar nicht, der Wahrheit auf den Grund zu kommen, über die Wahrheit klar zu werden. Aber wenn einer auch sagen könnte: „Es war keine falsche Lehre in meiner Predigt“, so kann doch die ganze Predigt falsch sein. Sollte man das glauben? Das sagt der zweite Theil unserer Thesis. Nur derjenige ist ein reiner Lehrer, welcher auch Gesetz und Evangelium recht von einander unterscheidet. Das ist zuletzt die Probe einer rechten Predigt. Nicht nur darauf kommt es an, daß alle die Sätze, die in der Predigt vorkommen, aus und nach Gottes Wort sind, sondern auch darauf, ob Gesetz und Evangelium geschieden sind. Zwei Baumeistern kann ganz dasselbe Baumaterial gegeben werden, aber der eine führt davon ein herrliches Gebäude auf, während der andere, der dasselbe hat, alles verpfuscht. Ist er nicht recht bei Sinnen, so fängt er wohl mit dem Dach an, macht in ein Zimmer alle Fenster, oder er nimmt die Steine und legt sie aufeinander und alles wird schief. Das eine Haus wird schief und verpfuscht und fällt zusammen, das andere bleibt stehen, ist wohnlich und lieblich. So können in zwei Predigten alle Lehren vorkommen; die eine ist herrlich und köstlich, die andere ist durch und durch verkehrt. Das haben Sie sich wohl zu merken! Hören Sie die Predigten der Schwärmer, so werden Sie oft (S. 30) sagen: „Der hat Wahrheit gepredigt“, und doch fühlt man sich unbefriedigt. Der Schlüssel zu diesem Geheimniß ist dieser: Der Prediger hat Gesetz und Evangelium nicht recht geschieden, und somit ist alles falsch. Er hat gesetzliche Wahrheit gepredigt, wo er hätte evangelische Wahrheit bringen sollen, und hat evangelische Wahrheit gebracht, wo er hätte Gesetz bringen sollen. Wer nun diesem Prediger folgt, der geht irre, der kommt nicht auf den gewissen Grund der göttlichen Wahrheit, der kommt nicht zur Gewißheit der Gnade und Seligkeit. Das findet auch häufig bei Predigten von Studenten statt. Da liegen Tröstungen vor, da wird gesagt: „Es ist alles Gnade“, dann heißt es: „Man muß gute Werke thun“, und dann wieder: „Es ist mit unserm Thun verlor’n.“ Es ist alles durcheinander und niemand versteht es, am allerwenigsten der, welcher das eine vor dem andern nöthig hat. Gesetz und Evangelium müssen recht geschieden werden. Achten Sie wohl darauf, daß Sie sich nach dieser Regel richten bei der Ausarbeitung Ihrer Predigten! Es ist vielleicht einmal recht gut geflossen, aber nun lesen Sie die Predigt durch und sehen zu, ob Gesetz und Evangelium recht geschieden sind, und da werden Sie oft sehen: „Ja, da fehlt’s!“ Die Predigt ist dann falsch, trotzdem daß keine falsche Lehre darin ist. Doch vernehmen Sie nun auch die Bibelstellen, die das bezeugen. 2 Tim. 2,15.: „Befleißige dich, Gott zu erzeigen einen rechtschaffenen und unsträflichen Arbeiter, der da recht theile das Wort der Wahrheit.“ „Orthotomein“, „recht theilen“ ist offenbar metaphorisch gebraucht. Es ist entnommen entweder dem Theilen der Priester oder dem Theilen, welches ein Hausvater vornehmen muß, wenn er die Hausleute versorgen will mit Speise und Trank. Diese letzte Auffassung scheint die richtige zu sein, obwohl viele unserer Theologen die erstere annehmen. Und Luc. 12,42. sagt der HErr: „Wie ein großes Ding ist es um einen treuen und klugen Haushalter, welchen der Herr setzt über sein Gesinde, daß er ihnen zu rechter Zeit ihr Gebühr gebe.“ Da wird zweierlei von einem guten Haushalter verlangt: nämlich erstens, dem Hausgesinde, Knechten und Mägden und Kindern, muß er zu rechter Zeit alles geben, was sie brauchen, und dann muß er zweitens einem jeden einzelnen sein Gebühr geben, was der einzelne gerade nöthig hat. Wenn ein Haushalter weiter nichts thäte, als daß er alles zusammenbrächte aus Küche und Keller, so wäre er nicht verständig; dann würden wohl die Kinder nach vielem zulangen und die andern kriegten nichts davon. Er muß auch jedem die rechte Quantität geben, je nachdem er hart oder nicht hart gearbeitet hat. Und wenn Kinder und erwachsene Leute da sind, so wäre er ein Narr, wenn er den Kindern Fleisch und Wein und den Erwachsenen (S. 31) Milch und leichte Speise vorsetzte. Aber wie schwer ist es einzusehen, daß dieselben Fehler oft gemacht werden in der Predigt. Ein Prediger darf nicht alle Lehren hinschütten, wie sie ihm gerade einfallen, sondern er soll seinen Zuhörern vorschneiden, wie es jeder bedarf. Er soll sein wie ein Apotheker, der die Arznei den Kranken geben muß, die gerade gegen die Krankheit hilft, an der sie leiden. So muß auch ein Prediger einem jeden geben, was ihm gebührt. Sichere, sorglose, muthwillige Sünder muß er den Donner des Gesetzes hören lassen, die zerknirschten Sünder aber die süße Stimme der Gnade des Heilandes. Das heißt einem jeden seine Gebühr geben. Hesek. 13,18-22.: „So spricht der HErr HErr: Wehe euch, die ihr Kissen machet den Leuten unter die Arme und Pfühle zu den Häupten, beides Jungen und Alten, die Seelen zu fangen. Wenn ihr nun die Seelen gefangen habt unter meinem Volk, verheißet ihr denselbigen das Leben; und entheiliget mich in meinem Volk um einer Hand voll Gerste und Bissen Brods willen, damit, daß ihr die Seelen zum Tode verurtheilet, die doch nicht sollten sterben, und urtheilet die zum Leben, die doch nicht leben sollten, durch euer Lügen unter meinem Volk, welches gerne Lügen höret. Darum spricht der HErr HErr: Siehe, ich will an eure Kissen, damit ihr die Seelen fanget und vertröstet, und will sie von euren Armen wegreißen; und die Seelen, so ihr fanget und vertröstet, los machen. Und will eure Pfühle zerreißen und mein Volk aus eurer Hand erretten, daß ihr sie nicht mehr fangen sollt, und sollt erfahren, daß ich der HErr sei. Darum, daß ihr das Herz der Gerechten fälschlich betrübet, die ich nicht betrübet habe; und habt gestärkt die Hände der Gottlosen, daß sie sich von ihrem bösen Wesen nicht bekehren, damit sie lebendig möchten bleiben.“ Da können Sie sehen, daß das Wehe über einen Prediger ausgerufen wird, welcher weiß, seine Gemeinde braucht das Gesetz, aber um eines Bissens Brodes willen schweigt er. Ja, wehe, wehe jedem, der Kissen und Pfühle macht den sichern Sündern! Die sie durch das Gesetz vom Schlaf aufschrecken sollten, lullen sie ein durchs Evangelium. Dann ist das Evangelium aber falsch angewandt, wenn es denen gepredigt wird, die vor der Sünde nicht erschrecken. Wiederum ist es schrecklich, ja noch schrecklicher, wenn ein Pastor ein gesetzlicher Lehrer ist und seiner Gemeinde das Evangelium nicht predigen will, weil er denkt: „Die mißbrauchen es doch.“ Sollen deswegen die armen Sünder desselben beraubt werden? Mögen die Gottlosen dahinfahren! Die Kinder Gottes werden dann doch erfahren, wie nahe die Hülfe und wie leicht sie zu erlangen ist. Wer aber den Trostbedürftigen das Evangelium verschweigt, der scheidet Gesetz und Evangelium nicht und – wehe, wehe ihm! (S. 32 ) Sach. 11,7.: „Und ich hütete der Schlachtschafe um der elenden Schafe willen; und nahm zu mir zween Stäbe, einen hieß ich Sanft, den andern hieß ich Wehe; und hütete der Schafe.“ Ein rechter, geistlicher Hirt hat zwei Stäbe. Der Stab „Sanft“ ist das Evangelium, und der Stab „Wehe“ das Gesetz. Nun soll er wohl wissen, gegen wen er den einen und für wen er den andern brauchen soll. Der Messias sagt, er habe den Stab Wehe gebraucht gegen die Schlachtschafe, die zum Schlachten und nicht zum Weiden da sind. Die elenden Schafe sind die armen Sünder. Da braucht er den tröstenden Stecken und Stab des Evangeliums. Die meisten Prediger versehen es und werfen den Knüppel unter die Schafe und den Stab Sanft brauchen sie gegen die bösen Buben. – Uebrigens ist Luthers Uebersetzung an dieser Stelle unnachahmbar. Daß doch die Leute zu Hause blieben, die Luthers Bibel revidiren wollen! Auch die Natur lehrt, daß man gewisse Dinge durchaus nicht vermischen darf, wenn sie ihre heilsame Kraft behalten sollen. Es gibt gewisse Substanzen, die für sich allein heilsam sind, vermischt man sie aber, so werden sie zu Gift. So ist es auch mit Gesetz und Evangelium. Oder achten Sie auf die Farben, nehmen Sie gelb und blau zusammen, so ist es nicht blau und nicht gelb, sondern grün. Und wird so in der Predigt Gesetz und Evangelium vermischt, so entsteht ein tertium genus, das gar nicht hineingehört, ja, wodurch beide ihre Kraft verlieren. In dem Sermon vom Unterschied zwischen dem Gesetz und Evangelio schreibt Luther (W. IX, 412f.): „Ist darum hoch vonnöthen, daß diese zweierlei Wort recht und wohl unterschieden werden; daß, wo das nicht geschieht, kann weder das Gesetz noch das Evangelium verstanden werden und müssen die Gewissen in Blindheit und Irrthum verderben. Denn das Gesetz hat sein Ziel, wie weit es gehen und was es ausrichten soll, nämlich bis auf Christum. Die Unbußfertigen schrecken mit Gottes Zorn und Ungnade. Desgleichen hat das Evangelium auch sein sonderlich Amt und Werk, Vergebung der Sünden den betrübten Gewissen zu predigen. Mögen darum diese beiden ohne Verfälschung der Lehre nicht in einander gemengt, noch eines für das andere genommen werden. Denn Gesetz und Evangelium sind wohl beide Gottes Wort, aber nicht einerlei Lehre.“ Sie können ganz richtig sagen, was das Gesetz und was das Evangelium sagt; sagen Sie es aber so, daß beides in einander gemischt wird, so entsteht Gift für die Seelen; Gesetz und Evangelium ist Gottes Wort, aber zweierlei Lehre. – Wer diesen Unterschied, den rechten Unterschied nicht kennt, der hat gar nichts. Das bloße Wissen und Lernen dieses Unterschieds hilft freilich auch nichts – denn das kann man in ein (S. 33) paar Stunden lernen, so daß man beim Examen antworten kann – sondern es muß die Erfahrung dazu kommen. Dann sieht man erst: Der Unterschied zwischen diesen beiden Lehren ist ein herrlicher! Luther sagt am Anfang jenes Sermons: „St. Pauli Meinung ist diese: daß in der Christenheit soll beide von Predigern und Zuhörern ein gewisser Unterschied gelehrt und gefaßt werden zwischen dem Gesetz und Evangelio, zwischen den Werken und dem Glauben; wie er denn solches auch Timotheo befiehlt, da er ihn vermahnt, 2. Ep. 2,15., das Wort der Wahrheit recht zu theilen etc. Denn dieser Unterschied zwischen dem Gesetz und Evangelio ist die höchste Kunst in der Christenheit, die alle und jede, so sich des christlichen Namens rühmen, oder annehmen, können und wissen sollen. Denn wo es an diesem Stück mangelt, da kann man einen Christen vor einem Heiden oder Juden nicht erkennen; so gar liegt es an diesem Unterschied. Darum dringt St. Paulus so hart drauf, daß diese zwo Lehren, nämlich des Gesetzes und Evangelii, bei den Christen wohl und recht von einander geschieden werden. Beides ist wohl Gottes Wort, das Gesetz oder die zehn Gebote und Evangelium; dieses anfänglich im Paradies, jenes auf dem Berge Sinai von Gott gegeben. Aber daran liegt die Macht, daß man die zwei Wort recht unterscheide, und nicht in einander menge, sonst wird man weder von diesem noch von jenem rechten Verstand wissen noch behalten können; ja, wenn man meint, man habe sie beide, wird man keines haben.“

 

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