C. F. W. Walther (1811-1887):

Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.


Sechsundzwanzigste Abendvorlesung. (1. Mai 1885.)

 

Um ein rechter Christ zu sein, ist nur eins schlechterdings nöthig, nämlich, daß ich recht glaube; um aber ein rechter Prediger zu sein, ist es nicht genug, daß ich recht glaube; ich muß auch das, was geglaubt werden soll, mit den rechten Worten auszudrücken verstehen. Darum ruft auch der heilige Apostel Paulus mit großem Ernst seinem Gehülfen Timotheus zu: „Halte an dem Vorbild der heilsamen Worte“, – oder wie es noch deutlicher im Grundtext heißt: „der gesunden Worte“ – „die du von mir gehöret hast, vom Glauben und von der Liebe in Christo JEsu.“ 2 Tim. 1,13. So unerläßlich es also freilich ist, daß ein Prediger den wahren Glauben in seinem Herzen trage, daß da das Geheimniß des Glaubens wohl bewahrt sei, ebenso unerläßlich ist es doch auch, daß er diesen rechten Glauben mit gesunden Worten, wie der Apostel sagt, mit klaren, deutlichen, mit unmißverständlichen, adäquaten Worten vorlege. Das haben diejenigen jungen Theologen wohl zu merken, welche eben nicht, wie Timotheus nach dem Zeugniß des Apostels Paulus, auferzogen sind in den gesunden Worten des Glaubens, die nicht von Kindheit auf die rechte Lehre gehört haben, sondern die vielleicht eben nur rationalistische Prediger, oder doch nur modern-gläubige Prediger gehört haben – denn da ist vielleicht dieser oder jener grundverkehrte irrthümliche Ausdruck hängen geblieben, und den verwerthen sie auch in ihren Predigten zum großen Schaden der Zuhörer. – Sie wissen ja, wenn die rationalistischen Prediger von Buße und Bekehrung redeten, so haben sie es (S. 265) Lebensbesserung genannt; wenn sie predigten von der Heiligung, so nannten sie das den Tugendpfad; wenn sie predigen wollten von Gottes Zorn, so nannten sie es höchstens Gottes Ernst; sprachen sie von der Vorherbestimmung Gottes, so gebrauchten sie anstatt dessen das Wort „Schicksal“, welches über den Menschen waltet; anstatt sich des Wortes „Evangelium“ zu bedienen, sprachen sie von der Lehre JEsu. Wer das nun von Kindheit auf hat in seinen Ohren klingen hören, der kann gar leicht, wenn auch nicht aus falschem Glauben, solche gefährliche, rationalistische Ausdrücke annehmen. Aber auch die modern-gläubigen Theologen sind oft ängstlich, solche kirchlich-biblische termini technici ecclesiastici zu gebrauchen, weil sie fürchten, das errege Anstoß bei ihrem Auditorium. Sie sprechen in ihren Predigten nicht gerne von der Erbsünde, von dem Zorn Gottes über die Sünder, von der Blindheit des natürlichen Menschen, von dem geistlichen Tod, in dem von Natur alle Menschen liegen; sie sprechen nicht gerne von dem Teufel, und wie er umhergehet wie ein brüllender Löwe und suchet, welchen er verschlinge – denn da würden sie es bald verschüttet haben bei ihren Zuhörern; sie reden nicht gerne von dem höllischen, ewigen Feuer, reden nicht gerne von der ewigen Pein und Verdammniß – nein, da suchen sie solche Ausdrücke, die ihren Zuhörern nicht so fremd, irrig und widerlich vorkommen. Sie nehmen dafür solche Worte, die mehr entsprechend sind „dem religiösen Gefühl eines aufgeklärten Volkes“. Diese Männer wollen ja auch die Leute gerne bekehren, – daran ist kein Zweifel – aber indem sie falsche Ausdrücke gebrauchen. Und sie glauben, dadurch sie zu bekehren, wenn sie etwas verschweigen, oder wenn sie doch alles so darstellen, daß es auch dem natürlichen Menschen wohlgefällt. Die sind eben gerade wie jene schlechten Aerzte, die ihren zärtlichen Kranken keine bittere Arzenei verschreiben mögen, aber wenn sie dann sehen, es muß etwas geschehen, verschreiben sie ihm solche, und dann mischen sie so viel Zucker hinein, daß man gar nichts mehr von der bitteren Arzenei spürt. Aber was ist die Folge? Es wirkt auch nichts. Darum sind die, welche das der Welt anstößige Evangelium nicht klar und deutlich verkündigen, nicht treu in ihrem Amt und richten großen Schaden an den Seelen an. Anstatt die Christen in der reinen Erkenntniß der Lehre zu fördern, lassen sie dieselben im Finstern umhertappen und befördern sie nur in ihrem falschen Wahn, befördern sie auf einem falschen, gefährlichen Wege. Die Kirchengeschichte zeigt, wie gefährlich es ist, wenn ein auch sonst als rechtgläubig anerkannter Theolog verkehrte Ausdrücke gebrauchte, die man leicht mißverstehen konnte. Denn was ist oft die Folge davon ge- (S. 266) wesen? Dann haben sich die greulichsten Ketzer mit einem Heiligenschein auf die Ausdrücke berufen, welche anerkannt rechtgläubige Männer gehabt haben. Warum, meinten sie, wolle man sie also verdammen, da jene anerkannt rechtgläubige Männer gewesen seien? Sie nahmen freilich die verkehrten Ausdrücke, die jene Männer recht verstanden hatten, zum Schanddeckel ihrer Ketzerei. Aber dennoch liegt eine gewisse Schuld bei denen, die sich vor jenen Ausdrücken nicht gehütet haben und glaubten deutlich genug geredet zu haben. So hat sich ein Arius, ein Nestorius etc., so haben sich alle Scholastiker auf anerkannt rechtgläubige Männer berufen und dadurch sich den Schein gegeben, sie führen noch fort, dieselbe Lehre der alten Kirche zu treiben, und wer gegen sie auftrete, der müsse sicher ein falscher Lehrer sein. Merken Sie sich das, meine lieben Freunde, und bedenken Sie: Ihre Pflicht ist nicht nur, als Diener des Evangeliums mit der Kirche zu glauben, sondern auch mit der christlichen Kirche zu reden. Sie müssen daher Ihre Predigtmanuscripte, ehe Sie Ihre Predigt memoriren und der Gemeinde vortragen, einer strengen Kritik unterwerfen, nicht nur, ob alles dem Glauben ähnlich ist, sondern ob Sie auch immer die richtigen Ausdrücke gewählt haben, damit Sie nicht wider Ihren eignen Willen nicht bauen, sondern zerstören. Dies ist gar zu wichtig. Darum hat auch von Anfang an, je und je unsere lutherische Kirche erklärt, sie fordere von jedem Prediger, daß er von diesem Bekenntniß „auch nicht einen Finger breit“ weiche, daß er von der in Schrift und Bekenntniß niedergelegten Lehre nicht abweiche „non tantum in rebus, sed etiam in phrasibus“, nicht nur in Absicht auf die Sache, sondern auch in Absicht auf die Art und Weise zu lehren. Das ist freilich eine große Aufgabe und erfordert ein großes Studium! Doch in drei Jahren kann man viel thun, und wer unter Ihnen treu ist, der wird, wenn er sein Triennium absolvirt hat, nicht nur die rechte Lehre kennen, sondern wird auch wissen, davon zu reden, der eine mehr, der andere weniger. Namentlich denen, welche bis in das hohe Jünglingsalter verkehrte Lehrer gehört haben, denen wird es schwerer. Man hört es bei solchen auch gleich in ihren Predigten, daß sie nicht auferzogen sind in den gesunden Worten des Glaubens. Man soll aber die rechten Worte gebrauchen, wie der Apostel Paulus die ganze corinthische Gemeinde ermahnt, 1 Cor. 1,10., „einerlei Rede“ zu führen. Es soll also nicht verschiedene Rede geführt werden, wenn auch dieselbe Lehre da ist. Das ist dann aber auch besonders wichtig, daß der Apostel Paulus hinzusetzt: „sondern haltet fest aneinander in einem Sinn und in einerlei Meinung.“ Denn einerlei Lehre hilft nichts, wenn sie nicht (S. 267) gelehrt wird in einerlei Sinn und Meinung. Das ist der Fall mit der unirten Kirche. Wenn sie auch mit uns reden, so reden sie doch nicht in einerlei Sinn und Meinung. Aber es soll beides da sein: Einerlei Lehre und Rede, und einerlei Sinn und Meinung. Wir bekommen nun in der fünfzehnten Thesis ein Beispiel dafür, daß es sehr schädlich ist, wenn man sich verkehrt ausdrückt.

 

Thesis XV.

Das Wort Gottes wird elftens nicht recht getheilt, wenn man das Evangelium zu einer Bußpredigt macht.

 

Wollen Sie diese Worte recht verstehen, so müssen Sie daran denken: „Es hat mit dem Wort Evangelium eine ähnliche Bewandtniß, wie mit dem Wort Buße. In der heiligen Schrift selbst wird das Wort Buße in zweierlei Sinn gebraucht, erstens in einem weiteren Sinn, und dann in einem engeren Sinn. Wenn es in einem weiteren Sinn gebraucht wird, so versteht man darunter die ganze Bekehrung: die Erkenntniß der Sünde, Reue und Glauben. Das geschieht z.B. Apost. 2,38.: „Thut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen“ etc. Er sagt nicht: „Thut Buße und glaubet!“ Somit versteht er darunter die ganze Bekehrung, auch den Glauben schließt er mit ein. Und wie könnte er sagen, sie sollten erst reuen und dann sollten sie sich taufen lassen? Nein, er muß die Reue in Verbindung gedacht haben mit dem Glauben. Er will also sagen: „Wenn ihr eure Sünden erkennt und ihr glaubt an das Evangelium, welches ich euch jetzt gepredigt habe, dann laßt euch auch taufen zur Vergebung der Sünden!“ Dann wird das Wort Buße auch in einem engeren Sinn gebraucht, nämlich nur von der Erkenntniß der Sünde, Reue und Zerknirschung des Herzens. So heißt es Marc. 1,15.: „Thut Buße und glaubet an das Evangelium.“ Hier hat Johannes der Täufer doch offenbar unter Buße nicht den Glauben mitverstanden, sonst wäre das eine ganz unnütze Wiederholung. Apost. 20,21.: „Und habe bezeuget, beide den Juden und Griechen, die Buße zu Gott und den Glauben an unsern HErrn JEsum Christum.“ Da kann auch unter Buße nicht zu verstehen sein: Reue, Erkenntniß der Sünde und Glaube, denn gleich darauf heißt es ja: „und den Glauben.“ Und so sagt denn auch der HErr von den Juden, sie hätten trotz der Predigt Johannis des Täufers nicht Buße gethan, und setzt hinzu: „daß ihr darnach geglaubet hättet.“ Matth. 21,32. Also versteht er unter Buße nur die Wirkungen des Gesetzes. Er sagt damit, (S. 268) weil sie vorher nicht über ihre Sünden erschrocken gewesen seien, so wäre es nicht anders möglich gewesen, als daß sie nicht geglaubet hätten. Denn wer nicht von Herzen erschrickt, der wird auch nicht von Herzen glauben. Gerade so ist es nun auch mit dem Worte Evangelium. Einmal wird es in einem weiteren, einmal in einem engeren Sinn gebraucht. Und dieser engere Sinn ist der eigentliche Sinn, und Evangelium in einem weiteren Sinn ist nur der synekdochische Sinn. Darunter ist zu verstehen alles, was JEsus Christus gepredigt hat. Er hat auch das Gesetz gepredigt, und sehr scharf gepredigt, wie wir das an der Bergpredigt sehen. Und so oft der HErr den Mund aufthut, predigt er das Gesetz, wenn er böse Buben vor sich hat. Dann wird Evangelium auch gebraucht im Gegensatz zu dem alten Testament, wie man unter dem alten Testament auch oft nur die Lehre des Gesetzes versteht. Röm. 2,16.: „Auf den Tag, da Gott das Verborgene der Menschen richten wird laut meines Evangelii.“ Da kann der Apostel nicht meinen das Evangelium im engeren Sinn, denn das hat nichts mit dem Gericht zu thun. Im Gegentheil sagt die Schrift: „Wer da glaubet, wird nicht gerichtet, der kommt nicht ins Gericht.“ Paulus versteht hier unter Evangelium die Lehre, welche er verkündigt hatte, welche aus zwei Lehren zusammengesetzt ist: Gesetz und Evangelium. In engerer Bedeutung ist das Wort Evangelium ohne Zweifel genommen Röm. 1,16.: „Ich schäme mich des Evangelii von Christo JEsu nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, selig zu machen alle, die daran glauben.“ Erstlich heißt es ein Evangelium von JEsu Christo, und dann sagt er, daß es selig macht alle, die daran glauben. Das ist nicht, was das Gesetz von uns verlangt. Das Gesetz sollen wir halten. Hier ist also die Rede von der Gabe JEsu Christi an die Welt, und wir sollen glauben. Also ist das Evangelium im engeren Sinne gemeint mit Ausschluß des Gesetzes. Dahin gehört auch Eph. 6,15., wenn es da genannt wird ein Evangelium des Friedens. Das Gesetz bringt uns keinen Frieden, sondern nur Unfrieden. Auch hier redet Paulus also vom Evangelium im engeren Sinn, von jener fröhlichen Botschaft, daß JEsus Christus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen. Wie die Bibel nun das Wort Evangelium in zweierlei Sinn gebraucht, so auch unser Bekenntniß. Bald wird es in einem weiteren, bald in einem engeren Sinn genommen. Daher können wir es uns erklären, daß darin der Ausdruck vorkommt: „Das Evangelium predigt Buße.“ Das haben Sie wohl zu merken, um diese Thesis recht zu ver- (S. 269) stehen. Wenn aus dem Evangelium von Christo, aus dem Evangelium im engeren Sinn eine Bußpredigt gemacht wird, so wird Gesetz und Evangelium greulich vermischt. In der Apologie, Art. 12, § 29 (Müller, S. 171) heißt es: „Denn in diesen zweien Stücken stehet die Summa des Evangelii. Erstlich sagt es: Bessert euch, und macht jedermann zu Sündern. Zum andern beut’s an Vergebung der Sünde, das ewige Leben, Seligkeit, alles Heil und den Heiligen Geist durch Christum, durch welchen wir neu geboren werden.“ – Ganz offenbar braucht hier Melanchthon das Wort Evangelium im weiteren Sinn. Das finden Sie auch in Luthers Schriften unzählige Male, daß er sagt, das Evangelium strafe. Aber wenn er nun wirklich lehrt, was das Evangelium eigentlich ist, da weiß er nichts als Trost, Gnade, Vergebung der Sünde, kurz, was das Evangelium im engeren Sinn lehrt. Und damit Sie nicht denken: „Vielleicht hat Melanchthon, dem sonst nicht gerade absolut zu trauen ist, sogar in unserm Bekenntniß verkehrt geredet, so hören Sie noch eine Stelle aus der Apologie, Art. 12, §53. 54. (Müller, S. 175): „Darum führt auch die ganze Schrift diese zweierlei Lehren. Eine ist das Gesetz, welche uns zeiget unsern Jammer, strafet die Sünde. Die ander Lehr ist das Evangelium; denn Gottes Verheißung, da er Gnade zusagt durch Christum, und die Verheißung der Gnaden wird von Adam her durch die ganze Schrift immer wiederholet. Denn erstlich ist die Verheißung der Gnaden oder das erste Evangelium Adam zugesagt: Ich will Feindschaft setzen etc. Hernach sind Abraham und andern Patriarchen von demselbigen Christo Verheißung geschehen, welche denn die Propheten hernach geprediget, und zuletzt ist dieselbige Verheißung der Gnaden durch Christum selbst, als er nun kommen war, geprediget unter den Juden und endlich durch die Aposteln unter den Heiden in alle Welt ausgebreitet. Denn durch den Glauben an das Evangelium oder an die Zusage von Christo sind alle Patriarchen, alle Heiligen von Anbeginn der Welt gerecht für Gott worden, und nicht um ihrer Reue oder Leid oder einigerlei Werk willen.“ – Aus dieser Stelle können Sie sehen: wenn Melanchthon ein paar Seiten vorher sagt: „Erstlich sagt das Evangelium: Bessert euch“, so gebraucht er da das Wort Evangelium im weiteren Sinn, meint die Gnadenbotschaft verbunden mit der Gesetzespredigt, und umgekehrt. Hier aber redet er so, daß „beide Stücke“ gegeneinander sind. So nennt er zuerst die zwei Theile, in welche die ganze heilige Schrift sich eintheilt. Es ist aber im höchsten Grade nicht nur gefährlich, sondern auch seelenverderblich, wenn einer so predigt, daß die Leute meinen, er halte das Evangelium im eigentlichen und engeren Sinn für eine Gesetzespre- (S. 270) digt, für eine Predigt der Buße von dem Zorn Gottes über die Sünder. Wer da nicht vorsichtig redet, der begeht einen großen, schweren Fehler, wenn er auch selbst richtig glaubt. Daher hat man in der lutherischen Kirche darauf geachtet von Anfang an: wer da sagte: „Das Evangelium ist eine Bußpredigt“, ob er da rede von einem Evangelium im weiteren oder im engeren Sinn. Als Melanchthon seine Variata herausgab, machte er sich sehr verdächtig in der neuen Ausführung dieser Sache. Da wurde er von Flacius gleich vorgenommen, denn der verstand keinen Spaß, wenn es sich handelte um falsche Lehre. Und da gab Melanchthon nach und gestand, er habe sich allerdings keiner adäquaten, sondern falscher Ausdrücke bedient. Da war denn auch Flacius zufrieden und sagte: „Ueber Worte wollen wir nicht streiten. In den Worten steckt nicht die Ketzerei, sondern in der Sache.“ Aber die Worte sind nicht gleichgültig. Die Worte sind ja Ausdruck unserer Gedanken. Wenn wir nun Worte gebrauchen, die den Gedanken nicht richtig ausdrücken, so sind wir keine Ketzer, sondern leichtsinnige Menschen. Aber das hat Flacius nicht zu Melanchthon gesagt: „Um Gottes willen, was hast du gethan?“ Der erste, der hier ganz falsch gelehrt hat, ist Johannes Agricola, dieser antinomistische Gesetzesstürmer. Er war ein treuloser Mensch, leichtfertig durch und durch, und hat das Evangelium gemißbraucht. Als er selbst einmal sehr krank wurde und jedermann dachte, er würde sterben, sagte er leichtfertig: „Ach, Unkraut vergeht nicht.“ Er war im höchsten Grad hochmüthig, aber gelehrt. Er wollte nun auch gerne etwas sein. Wie nun Luther später ernster predigte, meinte dieser elende Mensch, Luther sei von seiner Lehre abgefallen. Aber das kam nicht daher, daß Luther anders gelehrt hätte, sondern weil er andere Zuhörer hatte. Zuerst hatte er lauter vom Gesetz zerschlagene Zuhörer vor sich, denen brachte er das süße Evangelium. Aber später wurden die Leute sicher, und denen mußte er das Gesetz bringen. Da dachte Agricola: „Jetzt will ich ’mal zeigen, daß ich der Reformator bin.“ Er gab 18 Propositiones inter fratres sparsae heraus, schrieb aber seinen Namen nicht darunter. (Siehe Luthers Werke, St. L. A. XX, 1624ff.) Die achtzehnte dieser Thesen lautet: „Denn das Evangelium Christi lehrt den Zorn Gottes vom Himmel und zugleich auch die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, Röm. 1,17. Denn es ist eine Bußpredigt der Verheißung angehängt, welche die Vernunft von Natur nicht versteht, sondern durch göttliche Offenbarung.“ – Röm. 1,17. fängt der Apostel einen ganz neuen Abschnitt an. Nachdem er soeben das Thema des Briefes angegeben hat, kommt er nun zunächst auf das Gesetz und treibt in der zweiten Hälfte des ersten Capitels, im ganzen zweiten Capitel und in (S. 271) der ersten Hälfte des dritten Capitels nichts als das Gesetz. Diese Lehre beginnt er eben damit: „Gottes Zorn vom Himmel“ etc. Denn jeder trägt seinen ihn verdammenden Richter in seinem Inneren und sieht und spürt auch überall die Gerichte des heiligen und gerechten Gottes. Dann, nachdem der Apostel das Gesetz gepredigt hat, kommt er erst auf das Evangelium. Und Agricola stellt es so hin, als ob der Apostel sagen wollte, daß im Evangelium im eigentlichen Sinn der Zorn Gottes offenbart sei! Wenn er dann weiter sagt: „Denn es ist eine Bußpredigt der Verheißung angehängt, welche die Vernunft von Natur nicht versteht, sondern durch göttliche Offenbarung“, so ist das dummes Geschwätz! Es soll also ein Geheimniß sein, das nur durch göttliche Offenbarung erkannt werden könne; man könne es nicht verstehen, und doch will er es denen predigen, welche noch nicht zerschlagen sind. Da redet er gegen sich selbst. Aber so geht es, die Ketzer widersprechen sich immer. Dann haben in dieser falschen Lehre die Philippisten gesteckt. Der gute Melanchthon konnte es nicht hindern, daß seine fanatischen Anhänger, anstatt wie er zu sagen: „Das ist nicht meine Meinung, das ist nicht der adäquate Ausdruck“, vielmehr darauf pochten: „Ja, das ist gerade die rechte Lehre.“ Der ärgste unter ihnen war Kaspar Cruziger jun. Sein Vater war ein vortrefflicher Mann, sodaß Luther ihn sogar einmal zu seinem Nachfolger haben wollte. Aber er hatte diesen ungerathenen Sohn, der eine Schrift von der Rechtfertigung schrieb, 1570. Darin sagt er: „Gott will in diesem Amt (des Evangeliums) durch die Predigt der Buße erschrecken, welches sowohl die übrigen Sünden, die das Gesetz zeigt, als diese betrübteste Sünde, die eigentlich im Evangelium geoffenbart wird, nämlich die Nichtkenntniß und Verachtung des Sohnes Gottes, straft.“ (Disp. de justif. hom. 1570. Thes. 10.) S. Hutters Expl. Conc. p. 472. Cruciger setzt also das Evangelium dem Gesetz gegenüber und behauptet, das Gesetz zeige uns nicht so schlimme Sünden, die schrecklichsten zeige uns das Evangelium. Da haben manche gemeint: „Da hat er doch nicht ganz unrecht. Das Gesetz weiß nichts vom rechtfertigenden Glauben, also muß doch die Sünde des Unglaubens durch das Evangelium offenbart sein.“ So scheint es, aber es scheint nur so. Das Evangelium ist eine Trostpredigt. Wenn wir auch daraus schließen müssen, daß die Verachtung des Evangeliums die allerschrecklichste Sünde ist, so lehrt es doch das Evangelium nicht; es ist das nur ein consequens. Das ist gewiß, daß ich aus einer tröstlichen Lehre, wenn ich sie umkehre, eine ganz trostlose Lehre machen kann. – Nein, das Gesetz straft auch den Unglauben. Wo denn? Im ersten Gebot. „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ Da (S. 272) weiß freilich das Gesetz nicht, in welchem Falle das eintritt. Das sieht man aus dem Evangelium. Wenn mir Gott aus Gnaden zuruft: „Glaube an meine Gnade, vertraue meiner Verheißung!“ so ist es das Gesetz, welches mir gebietet, zu glauben und Gott zu vertrauen. Das Evangelium gebietet mir gar nichts. Das Evangelium ist eine frohe Botschaft. Nein, auch der Unglaube ist im ersten Gebot verboten, mag er nun in irgend einem Verhältniß vorkommen. Wenn ich durch den Unglauben Sünde thue, so kommt das daher, weil das Gesetz es von mir fordert, ich soll glauben. Aber das Evangelium ist nicht in die Welt gekommen, um mir die Sünde des Unglaubens zu offenbaren; die ist mir schon vorher offenbart gewesen durch das Gesetz, nicht durch das Evangelium. Das müssen Sie sich wohl merken, sonst können Sie mit solchen Gesetzesstürmern nicht durchkommen! Ein anderer, der an diesem Irrthum festhielt, war Pezel. Er schrieb eine Schrift gegen Wigand. Darin sagt er: „Das Evangelium, eigentlich genommen, hat die strengsten Drohungen, straft die Sünde, nämlich den Unglauben, das Nichtkennenwollen (ignoratio) des Sohnes, die Verachtung des Zornes und endlich die Verzweiflung.“ (Adversus Wigandum. Vgl. Hutters Explic. Conc. p. 472.) Es ist der größte Unsinn, wenn er da sagt, das Gesetz wisse nicht, daß Verzweiflung Sünde sei. Wir sollen ja Gott lieben und vertrauen; da ist Verzweiflung ausgeschlossen. Verzweiflung muß demnach eine schreckliche Sünde sein, die lästerlichste, schändlichste, greulichste Sünde muß es sein. Das Evangelium sagt ja: „Glaube, so wirst du selig.“ Daraus kann ich schließen: wenn ich nicht glaube, so werde ich nicht selig, aber weil das Gesetz es von mir fordert, an Gott zu glauben. Das müssen Sie sich einprägen, sonst können Sie leicht denken: „Das läßt sich doch hören!“ Nein, das läßt sich nicht hören, sondern das ist die greulichste Vermischung des Gesetzes und des Evangeliums. Wir müssen uns davor hüten, damit nicht, wenn wir das Evangelium predigen, darüber immer noch eine schwarze Wolke schwebe, sondern freien Trost, freie Gnade gilt es da zu verkündigen. Denn wenn wir in die Todesnoth kommen, müssen wir uns an einem sichern Seil halten können, daß wir wissen: „Da ist kein Gesetz!“ Es war ja gut gemeint von jenen Leuten. Sie waren pharisäische Leute und sie wollten dadurch der Welt helfen. Die armen, blinden Menschen! Sie halfen der Welt nicht, sondern nahmen ihr noch das einzige Mittel der Rettung. Ferner gehört hierher eine Schrift gegen Wigand von Paul Crell, 1571. „Da die höchste und hauptsächlichste Sünde allein vom Evangelium gezeigt, gestraft und verdammt wird, so ist ausdrücklich und namentlich auch allein das Evangelium wahrhaft und eigentlich die Predigt und Stimme (S. 273) der Buße oder Bekehrung im wahren und eigentlichen Sinne.“ (Disp. adversus Joh. Wigandum 1571. Vgl. Hutters Explic. Conc. p. 471 sq.) Nun hören Sie, was unser Bekenntniß sagt. Ueber diese Sache herrschten viele Unklarheiten. Durch die Concordienformel sollte auch in diesem Punkte die Eintracht wieder hergestellt werden. Concordienformel, Epitome (Art. V, §6.7.11. Müller, S. 534f.): „Wann aber das Gesetz und Evangelium, wie auch Moses selbst ein Gesetzlehrer, und Christus als ein Prediger des Evangeliums gegen einander gehalten: glauben, lehren und bekennen wir, daß das Evangelium nicht eine Buß- oder Strafpredigt, sondern eigentlich anders nichts, denn eine Trostpredigt und fröhliche Botschaft sei, die nicht strafet noch schrecket, sondern wider das Schrecken des Gesetzes die Gewissen tröstet, allein auf den Verdienst Christi weiset, und mit der lieblichen Predigt von der Gnade und Huld Gottes, durch Christus Verdienst erlanget, wieder aufrichtet.“ – Die Schrift braucht das Wort Evangelium nicht in gleicher Bedeutung. Darum hatte man dem Evangelium im engeren Sinn etwas zugeschrieben, was nur dem Evangelium im weiteren Sinn darf zugeschrieben werden. Aber wir müssen wissen, daß es auch ein solches Evangelium gibt, welches keine Sünden straft, sondern uns Sündern alleinigen Trost gibt. Das müssen wir wissen, wenn wir in der Schrift lesen: „Hier ist das Evangelium im weiteren Sinn, hier im engeren Sinn gemeint.“ Da muß man sich merken, wie man das erkennen kann, ob von dem Evangelium im engeren Sinn oder von dem Evangelium im weiteren Sinn die Rede ist. Ja, ganz absonderlich nöthig ist es, daß wir darüber ganz gewiß werden: „In welchen Stellen der Schrift ist das Evangelium im engeren Sinn gemeint?“ § 7. „Was dann die Offenbarung der Sünden belanget, weil die Decke Mosis allen Menschen vor den Augen hänget, so lange sie die bloße Predigt des Gesetzes und nichts von Christo hören, und also ihre Sünde aus dem Gesetz nicht recht lernen erkennen, sondern entweder vermessene Heuchler werden wie die Pharisäer, oder verzweifeln wie Judas: so nimmt Christus das Gesetz in seine Hände, und leget dasselbige geistlich aus, Matth. 5. Röm. 7. Und also wird Gottes Zorn vom Himmel herab geoffenbaret über alle Sünder, wie groß derselbe sei, dadurch sie in das Gesetz gewiesen werden, und alsdann aus demselben erst recht lernen ihre Sünde erkennen, welches Erkenntniß Mose nimmermehr aus ihnen hätte erzwingen können.“ § 11. „Demnach verwerfen wir und halten es vor unrecht und schädlich, wann gelehrt wird, daß das Evangelium eigentlich eine Buß- oder Strafpredigt, und nicht allein eine Gnadenpredigt sei, dadurch das (S. 274) Evangelium wieder zu einer Gesetzlehre gemacht, der Verdienst Christi und heilige Schrift verdunkelt, die Christen des rechten Trostes beraubet und dem Pabstthum die Thür wiederum aufgethan wird.“ Dieselbe Lehre, die hier verworfen wird, steht schon im Interim und in den Tridentinischen Decreten. Die halten ja das Evangelium für ein neues, strengeres Gesetz, als das Gesetz, welches Moses gegeben hat. Doch da die Zeit verstrichen ist, wollen wir nächstes Mal uns darüber klar zu werden versuchen, an welchen Stellen der Schrift das Evangelium im engeren Sinn gemeint ist. Die Sache ist nicht so unwichtig, namentlich für junge Prediger, damit sie sich recht ausdrücken.


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