C. F. W. Walther (1811-1887):

Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.


Zweiunddreißigste Abendvorlesung (19. Juni 1885.)

 

Als, meine theuren Freunde, der Rationalismus im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts wie eine Sturmfluth hereinbrach in die sogenannte protestantische Kirche, und als nun derselbe als ein neues, großes Licht von den Kathedern der Universitäten den jungen Theologen verkündigt wurde, und als hierauf derselbe dem armen Volke als das wahre Christenthum, als das gereinigte Christenthum gepredigt wurde, und als er auf diese Weise nach und nach zur völligen Herrschaft kam, da konnte es nicht anders sein, als daß das Bewußtsein: „Es ist nicht gleichgültig, ein Lutheraner oder ein Reformirter oder ein Katholik zu sein“, sich gänzlich verlor. Die wenigen rechtschaffenen Christen, die übrig geblieben waren, die da glaubten und mit ihrem Munde auch bekannten, daß die heilige Schrift Gottes Wort sei, daß JEsus Christus der Sohn des lebendigen Gottes sei, und daß man allein durch den Glauben an ihn vor Gott gerecht und selig werde, diese wenigen reichten sich nun brüderlich die Hand, wie etwa Gerettete aus einem großen Schiffbruch, während die meisten andern in den Fluthen versunken sind, sich mit Freudenthränen umarmen, obgleich sie vorher einander fremd waren. Bei einem solchen Zustande war es denn nicht anders möglich, als daß in den Herzen der allgemeine Gedanke aufstieg, es sei jetzt die Stunde gekommen, in welcher man dem greulichen Hader, wie man es nannte, nämlich den Lehrstreitigkeiten zwischen den einzelnen Kirchen ein Ende machen müßte; die Zeit sei nun gekommen, daß alle Schranken zwischen den Kirchen fallen müßten, daß man die besonderen Bekenntnisse als Schlagbäume, die ja nur das Gute hinderten, hinwegräumen müsse, kurz, daß man nun endlich eine große allgemeine Union, oder wenigstens eine Vereinigung der protestantischen Kirchen einrichtete. Doch was ist geschehen? Schon im Jahre 1817, als man diesen Plan ausführen wollte, schrieb Claus Harms, in welchem noch einige Tropfen von lutherischem Blut geblieben waren, 95 Thesen, welche ein Seitenstück sein sollten zu den 95 Thesen Luthers – sie sollten Thesen sein gegen den Rationalismus und gegen die Union – und sagte in denselben: „Ihr wollt die lutherische Kirche als eine arme Magd durch eine Copulation reich machen. Vollzieht den Act nicht über Luthers Gebeinen! Es wird lebendig werden darin, und dann wehe euch!“ Ein herrliches Wort! Und es traf ein. Als man in Preußen die Union wirklich vollzog, da erwachten plötzlich ganze Schaaren von Lutheranern aus ihrem (S. 322) Schlaf, besannen sich wieder auf die Kirche, zu der sie doch eigentlich gehörten, und erklärten nun, sie würden nimmer die Kirche ihrer Väter verlassen. Sie ließen sich auch in der That lieber ausweisen, lieber einkerkern, lieber aus dem Land vertreiben, als daß sie hätten sollen eingehen auf eine Union der Wahrheit mit dem Irrthum, des Wortes Gottes mit Menschenwort, und der wahren Kirche mit einer falschen Kirche. O, das waren glorreiche Tage in der Mitternachtszeit der Mitte dieses Jahrhunderts! Leider aber ist aus diesem wirklich herrlichen Kampf in jener schrecklichen Zeit die alte, reine, wahre lutherische Kirche nicht wieder hervorgegangen. Warum? Jene Männer, welche halten wollten, was sie hatten, damit niemand ihre Krone nehme, hatten selbst keine klare, reine Erkenntniß, und so geschah es denn, daß sie von einem Extrem in das andere fielen, nämlich vom Rationalismus und religiösen und kirchlichen Indifferentismus in einen Particularismus und antilutherischen Hierarchismus. Diejenigen nämlich, welche seit jener Zeit vor andern entschiedene Gegner der Union sein wollten und ebenso entschiedene Lutheraner, suchten das damit zu bestätigen, daß sie behaupteten, die wahre sichtbare lutherische Kirche sei die Kirche des dritten Artikels, wenn es in demselben heißt: „Ich glaube eine heilige, christliche Kirche, die Gemeine der Heiligen“, die lutherische Kirche sei die Kirche „kat exochen“, die Kirche im höchsten und eigentlichen Sinn des Worts, sie sei die ecclesia extra quam nulla salus, sie sei die Kirche, außer welcher ein Mensch nicht selig werden könne, nur etwa mit dieser Einschränkung: „es sei denn, daß der liebe Gott auch außerhalb dieser Kirche einen Menschen auf eine wunderbare und ganz außerordentliche Weise rette und zum ewigen Leben bringe“. Das war aber ein trauriger, schwerwiegender Irrthum, der schnurstracks dem lieben Wort Gottes widerspricht, und nicht nur dies, sondern der auch die Cardinallehre des Christenthums umstößt, die Lehre von der Rechtfertigung eines armen Sünders vor Gott allein um Christi willen durch den Glauben. Es war das ein Irrthum, bei welchem offenbar Gesetz und Evangelium aufs schmählichste vermengt und vermischt wurden und noch vermischt werden. In der preußischen lutherischen separirten Kirche geht dieser Irrthum noch im Schwange.

 

Thesis XX.

Das Wort Gottes wird sechzehntens nicht recht getheilt, wenn man die Seligkeit an die Gemeinschaft mit der sichtbaren rechtgläubigen Kirche bindet und jedem in irgend einem Glaubensartikel Irrenden die Seligkeit abspricht.

 

(S. 323) Das scheint ja fast unerklärbar, wie nach einer so langen Zeit der Herrschaft des Rationalismus und der größten Religionsgleichgültigkeit jene Männer auf die Lehre kommen konnten, daß die sichtbare lutherische Kirche die Kirche „kat exochen“ sei, außer welcher kein Heil zu finden sei. Aber so unbegreiflich dies auf den ersten Augenblick zu sein scheint, so leicht läßt es sich doch erklären. Auf diesen Irrthum sind sie gekommen durch einen andern Irrthum. Jeder Irrthum ist fruchtbar. Die Mutter jenes schrecklichen Irrthums war diese Lehre: Die Kirche sei eine sichtbare Anstalt, welche Christus auf Erden gestiftet habe; die Kirche sei nichts anderes als eine Art religiösen Staates, in welchem ja freilich nicht Könige und Kaiser und Generäle und Bürgermeister das Amt und die Herrschaft hätten, aber Superintendenten, Bischöfe, Kirchencollegien, Pastoren, Diakonen, Synoden und dergleichen. Es war das aber eine gar fruchtbare Mutter anderer schrecklicher Irrthümer; denn daß das ein Irrthum ist, weiß jeder, der einigermaßen mit Gottes Wort vertraut ist. Der Heiland sagt ja: „Auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeine, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.“ Dieser Fels ist Christus. Ein Glied der Kirche ist also nur derjenige, der auf Christum erbaut ist. Er wird aber nicht auf Christum erbaut dadurch, daß er sich mechanisch auf die Kirche erbaut, sondern daß er seine Zuversicht auf Christum setzt, von ihm allein Gerechtigkeit und Seligkeit hofft. Wer das nicht thut, der ist nicht erbaut auf diesen Felsen und ist also kein Glied der Kirche JEsu Christi. Eph. 2,19-22.: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen, und Gottes Hausgenossen, erbauet auf den Grund der Apostel und Propheten, da JEsus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinander gefüget, wächset zu einem heiligen Tempel in dem HErrn, auf welchem auch ihr mit erbauet werdet zu einer Behausung Gottes im Geist.“ Auf den Grund der Apostel und Propheten ist eben nur der erbaut, der sich im festen Glauben an das Wort der Apostel und Propheten hält. Wer also nicht im lebendigen Glauben steht, ist kein Glied der Kirche. Der Heiland nennt sich ferner einen Bräutigam. Wer nicht mit Christo vermählt ist im Innersten seines Herzens, der sage nur nicht, daß er ein wahrer Christ sei, daß er ein Glied der Kirche sei. Er ist ein Fremder Christo gegenüber. Die Kirche aber ist seine, Christi, Braut. Ferner wird Christus genannt das Haupt der Gemeinde. Ein Glied der Kirche kann also nur derjenige sein, auf welchen aus Christo, als dem Haupt, Licht, Leben, Kraft und Gnade fließt. Wer nicht in dieser geistlichen Verbindung mit Christo steht, der hat auch Christum nicht zum (S. 324) Haupt. Wer sich selbst regiert und nicht von Christo, als seinem Haupte, regiert wird, der gehört nicht zur Kirche. Der Apostel nennt die Kirche auch Christi Leib. Da haben auch viele von den treuesten Lutheranern gesagt: „Einen Leib kann man doch sehen, also muß die Kirche etwas Sichtbares sein!“ Aber das ist schändlich, so zu exegesiren! Das tertium comparationis (der Vergleichungspunkt) ist nicht die Sichtbarkeit, sondern daß die Kirche nicht aus vielen todten Werkzeugen zusammengesetzt ist, daß die Kirche ein Organismus von Gliedern ist, die von einem Glauben, von einem Glaubensleben durchströmt sind. Gerade damit ist unwidersprechlich bewiesen, daß die Kirche nicht etwas Sichtbares, sondern etwas Unsichtbares ist. Nur derjenige ist ein Glied der Kirche, der fort und fort den Ausfluß aus dem Haupt Christo erfährt. Ferner nennt Christus die Kirche seine Heerde. Also ist niemand ein Glied der Kirche, der nicht aus Christi Heerde ist, der nicht zu Christi Schafen gehört, nicht auf seiner Weide geht und nicht auf seine Stimme hört. Man sagt: „Christus vergleicht die Kirche mit einem Acker, auf welchem Weizen und Unkraut steht.“ Aber man sieht das Gleichniß nicht recht an. Denn, Gott Lob! der Heiland hat uns den Schlüssel dazu gegeben. Er sagt nicht: „Der Acker ist mein Reich.“ Sagte er das, so wäre es ausgemacht, daß die Kirche eine Gemeinschaft von Guten und Bösen ist. Aber nein, er sagt: „Der Acker ist die Welt.“ Darauf wird auch in der Apologie besonders hingewiesen. Wenn der Heiland seine Kirche vergleicht mit einem Acker, auf welchem Unkraut und Weizen wächst, oder mit einem Netze, in welchem gute und faule Fische gefangen werden, oder mit einer Hochzeit, bei welcher sich auch einfinden thörichte Jungfrauen, oder mit einer Hochzeit, bei welcher auch einer nicht mit einem hochzeitlichen Kleide angethan ist, so will er eben nicht das Wesen seiner Kirche beschreiben, sondern er will sagen, wie die Kirche in dieser Welt in die Erscheinung tritt, welches Loos sie auf Erden hat, daß, obwohl sie aus lauter guten Schafen besteht, aus lauter Wiedergebornen, sie doch niemals sich darstellt als eine aus lauter wahren Christen bestehende Gemeinde. Sie kann sich nicht sondern von den Heuchlern, es hängen sich immer Heuchler an; es drängen sich immer Gottlose ein. Erst im ewigen Leben wird die Kirche allein und triumphirend dastehen, ganz makellos und rein, gesondert von denen, die es nicht redlich und rechtschaffen meinten, die im Grunde nur das Ihre suchten. Während die Heuchler und Scheinchristen Christum mit dem Maul bekennen, ist ihr Herz doch weit von ihm. Sie suchen ihren fleischlichen Lüsten zu dienen, aber nicht allein dem HErrn. Luc. 14,26. sagt der HErr: „So jemand zu mir (S. 325) kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“ Damit richtet er alle, die nicht absagen wollen allem, das sie haben. Erst vor Christi Richterstuhl wird man sie aber sehen und erkennen als Heuchler. Man kann wohl die Leute sehen, wie sie zur Kirche gehen; man kann aber nicht sehen, ob sie zur Kirche gehören. Ich kann nicht sagen: „Der und der ist ein wahres Glied der Kirche.“ Ich weiß es nicht, Gott allein weiß es. Vor Gottes Augen allein ist die Kirche sichtbar, aber vor der Menschen Augen ist sie unsichtbar. – Jener Irrthum ist in unserer Zeit das proton pseudos. Ja, es ist ein ganz erschrecklicher Irrthum! Denn was thun diejenigen, welche diesem Irrthum huldigen? Sie wollen gute Lutheraner sein im Gegensatz zum Pabstthum, und doch wechseln sie nur die Waffen. Einst vertheidigten die Papisten jene falsche Lehre; jetzt wagen es Lutheraner, ihnen entgegenzuhalten: „Nein, wir, wir, wir sind die Kirche, außer welcher kein Heil ist.“ So können solche einem Papisten zum größten Spott dienen. Solche übernehmen dann die Rolle, welche bis dahin der Pabst und seine Rotte gespielt hatten. Daraus folgt entweder, daß die Pabstkirche die wahre Kirche ist, oder daß die Kirche untergegangen war, als Luther kam. Aber die Schrift sagt, daß die rechte Kirche nicht untergehen kann; die bleibt bis an den jüngsten Tag. Aber eine Kirche, die den Namen „lutherisch“ trug, hat es nicht gegeben bis zum 15. und 16. Jahrhundert. Ja, wir finden keine Kirche nach der Zeit der Apostel, die die reine Lehre so gehabt hat, wie unsere Väter. Also muß entweder die Schrift erlogen sein, oder die papistische Kirche war die wahre Kirche und somit muß Luthers Reformation eine Rebellion gewesen sein. In dieses schwierige Dilemma bringen sich solche, die jene falsche Lehre von der Kirche festhalten wollen. Aber die Hauptsache ist: Wer die Seligkeit an die Zugehörigkeit und Gemeinschaft mit der sichtbaren rechtgläubigen Kirche bindet, der stößt damit die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben um; das kann nicht geleugnet werden. Die zur lutherischen Kirche kommen, haben schon vorher den rechten Glauben. Die Meinung, daß Luther, ehe er, daß ich mich so ausdrücke, ein Lutheraner war, nicht den wahren Glauben gehabt habe, ist ein gefährlicher Irrthum. So hoch wir unsere Kirche halten, so sei doch ein so schändlicher Fanatismus fern von uns, daß unsere lutherische Kirche die alleinseligmachende sei! Die wahre Kirche geht über den ganzen Erdkreis. Die findet sich in allen Secten. Die Kirche ist nicht ein äußerlicher Organismus, der seine besondere Einrichtung hätte, in die man sich fügen müßte – dann sei man ein Glied der Kirche. Wer an (S. 326) JEsum Christum glaubt und ein Glied an seinem geistlichen Leib ist, der ist ein Glied der Kirche. Die Kirche kann auch nicht wieder zerrissen werden; sie bleibt einig, wenn sie auch durch Ort und Zeit getrennt ist. „Aber“, spricht man, „redet die Schrift nicht von äußerlichen Kirchengemeinschaften?“ Aber Luther hat ekklesia mit „Gemeine“ übersetzt nur deswegen, daß man nicht meinen sollte, der Pabst sei die Kirche. „Gemeine“, das ist auch ganz richtig. „Ja“, sagt man, „die römische Gemeinde wird Kirche genannt. Die corinthische, sogar die galatische, die philippensische, die thessalonichensische und alle die Gemeinden in Kleinasien, an die der HErr einen Sendbrief ergehen ließ durch Johannes, alle diese werden Kirchen genannt. Die waren aber sichtbar. Also sieht man, daß die Kirche sichtbar ist.“ Aber das folgt gar nicht daraus. Denn wo die Schrift absolut von der Kirche redet, da redet sie immer von ihr als einer unsichtbaren Gemeinschaft. Aber dann gibt sie auch solchen Gemein- schaften diesen Namen, in denen die unsichtbare Kirche ganz besonders verborgen ist, wie man einen Haufen einen Weizenhaufen nennt, wiewohl man da auch viel Gras und Stroh findet. Ein Glas Wein mit Wasser vermischt nennt man ein Glas Wein a potiore parte. So auch hier. Weil die unsichtbare Kirche daruntersteckt, weil es einen himmlischen Samen darunter gibt, wird die Gemeinschaft Kirche genannt. Die falschen Christen, die Heuchler tragen auch den Namen „Gemeindeglieder“, sind es aber nicht. Wir geben ihnen aber der Liebe nach auch den Titel, weil sie doch den Namen JEsu bekennen – und der Liebe nach setzen wir voraus, daß ein solcher auch glaubt, was er bekennt. Ins Herz können wir ihm nicht sehen. Das überlassen wir Gott. Wir wollen nicht über ihn richten, außer wenn es offenbar wird: „Das ist ein Gottloser.“ Dann hört es auf, dann thun wir ihn hinaus, dann nennen wir ihn einen Heiden und Zöllner. Nun ist aber auch die lutherische Kirche nur eine sichtbare Kirche im synekdochischen Sinn. Darum ist es erschrecklich, zu sagen: „Nur in dieser Kirche kann man selig werden.“ Nicht deswegen soll man zur lutherischen Kirche treten, weil man meint, man käme erst dann zur Kirche Gottes. In der reformirten Kirche, unter den Methodisten, ja, unter den Papisten sind doch noch Christen. Jes. 55,11. heißt es: „Mein Wort soll nicht wieder zu mir leer kommen.“ Eine theure Verheißung! Wo Gottes Wort immer noch erschallt, wo es noch bekannt wird, wenn es auch nur vorgelesen wird, da sammelt sich der HErr auch sein Volk. Die papistische Kirche bekennt z. B. noch: „Christus ist der Sohn Gottes und ist am Kreuz gestorben, um die Welt zu erlösen.“ Das ist schon Wahrheit genug, durch welche ein Mensch zur seligmachenden Erkenntniß kommen kann. Wer das leugnet, der muß auch leugnen, daß in (S. 327) manchen lutherischen Gemeinschaften Christen sind, denn da kommen auch Irrthümer vor. Einige Kinder Gottes befinden sich aber immer da. Gottes Wort ist da und Gottes Wort ist fruchtbar, indem es immer einige Seelen zu Gott bekehrt. Wer nun jene falsche Lehre von der Kirche hat, der vermischt aufs Greulichste Gesetz und Evangelium. Das Evangelium sagt: „Glaube an den HErrn JEsum Christum.“ Das Gesetz hingegen stellt allerlei Forderungen. Sobald nun einer neben dem Glauben noch eine Forderung bringt als nöthig zur Seligkeit, so vermischt er Gesetz und Evangelium. Ich halte mich deswegen nur zur lutherischen Kirche, weil ich mich zur Wahrheit halten will. Wenn ich erkenne: „Diese Kirche, zu welcher ich gehöre, hat Irrthümer“, so muß ich diese Gemeinschaft verlassen, um nicht mit Irrthümern befleckt zu werden, um mich nicht fremder Sünden theilhaftig zu machen, und um mich dann zur lautern und reinen Wahrheit zu bekennen. Denn Christus sagt: „Wer mich bekennet vor den Menschen, den will ich bekennen vor meinem himmlischen Vater; wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“ Paulus sagt ferner ausdrücklich zu Timotheus: „Schäme dich nicht des Zeugnisses unsers HErrn, noch meiner, der ich sein Gebundener bin.“ Daraus, daß man in allen Secten selig werden kann, daß in allen Secten Kinder Gottes sind, folgt keineswegs, daß man in allen Secten bleiben kann. Viele begreifen das nicht; sie meinen, das sei ein ganz unionistischer Grundsatz, wenn man sage, in allen Secten könne man selig werden. Nein, weil ich eben durch den Glauben soll selig werden, darum können auch in allen Secten einige selig werden. Erkenne ich aber den Irrthum und ich gehe nicht heraus aus der falschgläubigen Gemeinschaft, so gehe ich ewig verloren, weil ich den Irrthum erkenne und will ihn doch nicht verlassen. Ich weiß noch recht gut die Zeit, als ich zum Glauben kam. Da kam ich auch zu den Unirten. Es kamen auch einige, die wollten mich zur lutherischen Kirche bringen. Aber ich sagte: „Ich habe den Glauben, und ich will nicht zu einer Kirche gehören, welche sagt, daß sie nur selig mache.“ Doch dann bekam ich gute Schriften in die Hände, und ich erkannte, daß das nicht der Fall sei. Die lutherische Kirche sagt, sie habe allein die reine Lehre des göttlichen Worts, aber sie sagt nicht, daß sie die alleinseligmachende Kirche sei, sondern auch in den Secten könne man selig werden, wenn man ihre Irrthümer nicht erkenne. Sobald ich das erkannt hatte, verließ ich die unirte Gemeinschaft und schloß mich den Lutheranern an. Das hatte ich längst erkannt, daß die lutherische Kirche die Wahrheit hatte, aber ich wollte nicht solche (S. 328) papistische Grundsätze aussprechen. Nun merkte ich, das lehre sie gar nicht, daß man alle anderen in irgend einem Glaubensartikel Irrenden verdammen müsse, sondern nur die, welche den Irrthum erkannt haben und dabei bleiben wollen. Hören Sie nun auch, daß das die Lehre unserer Kirche ist. In der Vorrede zum Concordienbuch (Müller, S. 16.17) heißt es also: „Was denn die condemnationes, Aussetzung und Verwerfung falscher und unreiner Lehre, besonders im Artikel von des HErrn Abendmahl betrifft, so in dieser Erklärung und gründlichen Hinlegung der streitigen Artikeln ausdrücklich und unterschiedlich gesetzt werden müssen, damit sich männiglich vor denselben wüßte zu hüten, und aus vielen andern Ursachen keineswegs umgangen werden kann: ist gleichergestalt unser Wille und Meinung nicht, daß hiemit die Personen, so aus Einfalt irren und die Wahrheit des göttlichen Worts nicht lästern, vielweniger aber ganze Kirchen in- oder außerhalb des heiligen Reichs deutscher Nation gemeinet, sondern daß allein damit die falschen und verführischen Lehren und derselben halsstarrige Lehrer und Lästerer, die wir in unsern Landen, Kirchen und Schulen keineswegs zu dulden gedenken, eigentlich verworfen werden, dieweil dieselben dem ausgedrückten Wort Gottes zuwider und neben solchem nicht bestehen können, auf daß fromme Herzen für denselben gewarnet werden möchten, sintemal wir uns ganz und gar keinen Zweifel machen, daß viel fromme, unschuldige Leute, auch in den Kirchen, die sich bishero mit uns nicht allerdings verglichen, zu finden seind, welche in der Einfalt ihres Herzens wandeln, die Sache nicht recht verstehen und an den Lästerungen wider das heilige Abendmahl, wie solches in unsern Kirchen nach der Stiftung Christi gehalten und vermöge der Wort seines Testaments davon einhelliglich gelehret wird, gar keinen Gefallen tragen, und sich verhoffentlich, wenn sie in der Lehre recht unterrichtet werden, durch Anleitung des Heiligen Geistes zu der unfehlbaren Wahrheit des göttlichen Worts mit uns und unsern Kirchen und Schulen begeben und wenden werden; wie dann den Theologen und Kirchendienern obliegen will, daß sie aus Gottes Wort auch diejenigen, so aus Einfalt und unwissend irren, ihrer Seelen Gefahr gebührlich erinnern und dafür verwarnen, damit sich nicht ein Blinder durch den andern verleiten lasse.“ – Merken Sie sich diese schöne Stelle! Wenn man Ihnen den Vorwurf machen will, die lutherische Kirche gebe sich für die alleinseligmachende aus und verdamme alle andern, so weisen Sie auf diese Stelle unsers Bekenntnisses hin! Die Concordienformel hat die Lehre der Reformirten verdammt, aber sie meint nicht die Personen, die aus (S. 329) Einfalt irren, sondern sie verdammt nur die falschen Lehren und die halsstarrigen, falschen Lehrer und Lästerer. Die anfangen schändlich zu lästern wider unsere Lehre, die sollen wir nicht für Kinder Gottes halten, die wohl sagen: „Ja, Christus sagt das wohl, aber das glauben wir nicht.“ Wenn sie aber so in Einfalt irren von Jugend auf, und halten sich an Christum, so können sie wohl selig werden. Es kann ein Irrthum einem so eingepflanzt worden sein von Jugend auf, daß er einen Lutheraner gleich abweist, und ist doch kein Bösewicht. – „Derwegen wir denn auch hiermit vor Gottes des Allmächtigen Angesicht und der ganzen Christenheit bezeugen, daß unser Gemüth und Meinung gar nicht ist, durch diese christliche Vergleichung zu einiger Beschwerung und Verfolgung der armen, bedrängten Christen Ursach zu geben. Dann wie wir mit denselben aus christlicher Liebe ein besonders Mitleiden tragen, also haben wir an der Verfolger Wüthen ein Abscheu und herzliches Mißfallen, wöllen uns auch dieses Bluts ganz und gar nicht theilhaftig machen, welches sonder Zweifel von der Verfolger Händen an dem großen Tag des HErrn vor dem ernsten und gestrengen Richterstuhl Gottes wird gefordert, sie auch dafür eine schwere Rechenschaft geben werden müssen.“ – Die Calvinisten sagten nämlich: „Seht, jetzt macht man es in Deutschland wie in Frankreich! Es wird da auch einmal eine solche Bartholomäusnacht kommen.“ Aber nein, betheuern die Lutheraner hier, sie würden niemand verfolgen. Das Blut der Hugenotten wird an den Händen der Papisten kleben bleiben. Lutheraner verdammen überhaupt niemand, außer wer sich selbst verdammt! Wie schwer es Luther geworden ist, gerade wegen der falschen Lehre von der Kirche, zu der rechten Erkenntniß durchzudringen, sehen wir aus seiner Vorrede zu seinen vorher edirten Sätzen wider den Ablaß. Er schreibt daselbst (W. Tom. XIV, 471 f.): „Was und auf welche Weise mein Herz dasselbe erste und andere Jahr erlitten und ausgestanden habe, und in waserlei Demuth, die nicht falscher noch erdichteter, sondern rechter Art war, wollte schier sagen: Verzweiflung, ich da schwebete, ach! da wissen die sicheren Geister wenig von, die hernach des Pabstes Majestät mit großem Stolz und Vermessenheit angriffen. Wiewohl sie mit aller ihrer Kunst nicht vermocht hätten, dem Pabst ein einig Härlein zu krümmen, wo Christus durch mich, sein schwach und unwürdig Werkzeug, nicht bereit ihm eine tiefe, unüberwindliche Wunde gehauen hätte. Gleichwohl trugen sie den Ruhm und Ehre davon, als wären sie die Leute, die es gethan hätten; welche Ehre ich ihnen gerne vergönnte. Ich aber, weil sie mir zuschaueten und allein in der Gefahr ließen stecken, war nicht so fröhlich, getrost und der Sache so gewiß. Denn ich wußte viel nicht, welches (S. 330) ich, Gott Lob! nun weiß; ja, ich verstand nicht, was das Ablaß war, wie auch alle Papisten auf einen Haufen gar nichts davon wußten, welches allein ums Brauchs und Gewohnheit willen wird hoch gehalten. Daher ich auch davon disputirt, nicht der Meinung, als wollte ich ihn verwerfen, sondern weil ich allerding nicht wußte, was seine Kraft wäre, hätte ich’s gerne von andern erlernet. Und weil mich die todten und stummen Meister, das ist, der Theologen und Juristen Bücher, nicht genugsam unterrichten konnten, begehrte ich bei den Lebendigen Rath zu suchen und die Kirche Gottes selbst zu hören, auf daß, wo etwa fromme Leute vorhanden wären, durch den Heiligen Geist erleuchtet, sich über mich erbarmeten, und nicht allein mir, sondern gemeiner Christenheit zugut, rechten, gewissen Bericht vom Ablaß thäten. Da funden sich viel frommer Männer, die groß Gefallen an meinen Propositionen hatten und viel davon hielten; aber es war mir unmöglich, daß ich dieselben für Gliedmaß der Kirche, mit dem Heiligen Geist begabt, hätte können ansehen und erkennen. Sahe allein auf den Pabst, Cardinäle, Bischöfe, Theologen, Juristen, Mönche, Pfaffen: daher wartete ich des Geistes, denn ich hatte ihre Lehre so begierig in mich, daß ich so rede, gefressen und gesoffen, daß ich gar nicht duhn davon war und nicht fühlete, ob ich schlief oder wachte.“ – Das ist auch die Lehre, durch welche die Papisten bis auf den heutigen Tag die Leute bei sich zu erhalten suchen. Sie sagen: „Du weißt, wir sind die wahre Kirche. Mag nun die Kirche lehren, was sie wolle – willst du ein rechter Jünger Christi sein, so mußt du die Kirche hören! Mag der Pabst erklären, er sei infallibel, oder mag er lehren, daß Maria ohne Sünde empfangen sei, oder man solle die Heiligen anbeten – das mußt du annehmen. Da darfst du nicht deine Vernunft fragen. Die wahre Kirche hat das aufgestellt, und die kann nicht irren. Gehst du von der römisch-katholischen Kirche ab, so gehst du von der wahren Kirche ab.“ Das ist der furchtbare Köder, mit dem sie die Leute zu halten suchen. – „Und da ich alle Argumente, die mir im Wege lagen, durch die Schrift von mir verlegt, überwunden hatte, hatte ich letztlich dies einige, nämlich, daß man die Kirche hören sollte, mit großer Angst, Mühe und Arbeit durch Christi Gnade kaum überwunden.“ – Luther hatte schon fast alle papistischen Lehren in ihrer Unbegründetheit erkannt, aber in diesem Stück fehlte es ihm anfangs noch und so lange konnte er der Wahrheit nicht recht fröhlich und gewiß werden. Die Papisten haben sich aber eingebrockt, was sie nachher haben müssen ausessen. Gottes Stunde war gekommen, daß der Antichrist sollte offenbar werden. – „Denn ich hielt mit viel größerem Ernst und rechter Ehrerbietung (und that’s von Herzen) des Pabstes Kirche für die rechte Kirche, (S. 331) denn diese schändlichen, lästerlichen Verkehrer, die jetzt des Pabstes Kirche wider mich rühmen. Wenn ich den Pabst verachtet hätte, wie ihn jetzt verachten, die ihn doch mit Worten sehr loben, hätte ich mich besorget, die Erde würde dieselbe Stunde sich aufgethan haben und mich lebendig verschlungen, wie Korah und seine Rotte.“ – Helfe Gott, daß Sie sich nun nicht in die falsche Lehre von der Kirche hineinziehen lassen, daß nämlich die lutherische Kirche die wahre sichtbare Kirche JEsu Christi allein sei in dem Sinne, daß man nur darin selig werden könne. Freilich ist sie die wahre sichtbare Kirche, aber nur in dem Sinn, daß sie nur allein die reine, lautere Wahrheit hat. Sobald Sie aber jenes hinzusetzen, so nehmen Sie die Lehre von der Rechtfertigung aus Gnaden durch den Glauben an JEsum Christum weg und verwischen Gesetz und Evangelium. Davor bewahre Sie Gott um Ihrer eignen Seele willen, und auch um der Seelen willen, die Ihnen einst anvertraut werden.

 

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