C. F. W. Walther (1811-1887):

Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.


Dreizehnte Abendvorlesung. (9. Januar 1885.)

 

Daß, meine Freunde, ein Prediger durch sein Predigen auch etwas Rechtschaffenes ausrichte, dazu gehört zuerst und vor allem, daß er Gottes Wort predigt, und zwar lauter und rein verkündigt. Manche Prediger unserer Zeit verschweigen gewisse der Welt anstößige Lehren in der guten Meinung, sie wollten eben ihren Zuhörern keinen Anstoß bereiten. Aber das ist ein sehr großer Irrthum. Einen Menschen kann man allein zu einem wahren Christen machen, nicht durch noch so hohe, glühende Beredtsamkeit, sondern allein durch Gottes Wort. Dieses allein erzeugt die Buße, den Glauben, die Gottseligkeit und erhält ferner darin bis an das Ende. Das zweite Nöthige aber dazu, daß ein Prediger mit seinen Pre- (S. 104) digten auch etwas wirke, ist dieses, daß er nicht nur selbst glaube, was er andern predigt, sondern daß ihm auch von den Wahrheiten, die er verkündigt, seine Seele voll ist, so daß er mit brennender Begierde auf die Kanzel tritt, sein Herz vor seinen Zuhörern auszuschütten. Er muß für seinen Gegenstand begeistert sein im rechten Sinn des Worts. Dann erscheint es nicht anders, als ob seine Worte wie Flammen herausbrechen durch seinen Mund aus einer Seele voll Feuer. Damit soll nicht gesagt werden, daß der lebendige Glaube eines Predigers dem Worte Gottes erst seine Kraft und sein Leben gebe; denn der HErr sagt ja ausdrücklich: „Meine Worte sind Geist und Leben“, und der Schreiber des Briefs an die Ebräer: „Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn kein zweischneidig Schwert, und durchdringet, bis daß es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.“ Wenn aber ein Prediger das verkündigt, was er selbst so oft an seinem Herzen erfahren hat, dann findet er auch leicht die rechten Worte, um seine Zuhörer zu überzeugen, Worte, die, wie sie von Herzen kommen, auch wieder zu Herzen gehen nach dem alten, schönen Sprüchwort: „Pectus disertum facit, das Herz macht beredt“, wobei nicht die künstliche, kunstgerechte Beredtsamkeit gemeint ist, sondern die gesunde geistliche Kunst, daß man so redet, daß die Worte in den Herzen der Zuhörer zünden. Denn wenn die Zuhörer merken, daß es dem Prediger bei seinem Predigen ein voller, ein heiliger Ernst ist, dann werden sie mit unwiderstehlicher Gewalt gezogen, daß sie dem, was seine Predigten lehren, die gespannteste Aufmerksamkeit widmen. Daher kommt es auch, daß viele einfältige, weniger begabte und weniger gelehrte Prediger mehr wirken, als die begabtesten, grundgelehrtesten Männer. Ach, möchten Sie, meine theuren Freunde, darum vor allem erst recht lebendige, eifrige, für die Wahrheit glühende Christen sein! Das ist die Ausrüstung dafür, daß man seiner Zeit auch kann ein gewaltiger Prediger werden, dessen Geist seine Zuhörer nicht widerstehen können, wie das die Apostel bezeugten. Die Leute wußten nicht, woher es kam, aber die Predigt dieser einfältigen Leute machte einen so gewaltigen Eindruck auf sie. – Weit davon entfernt, daß damit gesagt sein soll, daß hohe Begabung und gründliche, theologische Gelehrsamkeit nicht hoch anzuschlagen seien, so ist vielmehr das directe Gegentheil hier der Fall. Denn wenn zu dem lebendigen Glauben eines Predigers auch noch hinzukommt hohe Begabung und gründliche Gelehrsamkeit, so ist er am Ende ein großes, geschicktes Werkzeug in der Hand Gottes; denn alle natürlichen Gaben und alles, was wir uns durch natürlichen Fleiß erworben haben, das legt Gott, wenn wir in seinen Dienst treten, nicht beiseite, sondern er reinigt (S. 105) es, läutert es und nimmt es in seinen Dienst. Daher es denn auch kommt, wo große Begabung und gründliche Gelehrsamkeit gepaart waren mit lebendigem Glauben, daß da große Ereignisse geschehen sind im Reiche Gottes und große Erfolge erzielt worden sind. Ich erinnere Sie nur an den Apostel Paulus, der der einzige Gelehrte unter den Aposteln war. Er hat mehr gearbeitet und mehr gewirkt, als alle anderen, wie er selbst bezeugt. Ich erinnere Sie ferner an den großen Reformator Luther. Wäre er nur ein Glaubensheld gewesen und nicht auch zugleich ein so großer, hochbegabter und gelehrter Mann, so wäre er nie der Reformator geworden, der das größte Werk jener Zeit ausführte, und zwar so herrlich. Daher möchte ich Sie doch daran erinnern, daß Sie in der Zeit Ihrer Studien auch Tag und Nacht nur darnach trachten, daß Sie in allen Zweigen des theologischen Wissens, nicht nur in der didaktischen, sondern auch in der praktischen Theologie, das höchste Ziel zu erreichen suchen. Das wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen! Möchte doch dieser Wunsch erfüllt werden! Dann wird sich an Ihnen bewähren, von welcher Wichtigkeit Beides ist, nämlich ein lebendiger Glaube und gute Begabung mit Treue und Fleiß. Das sei hierüber genug. Denken Sie nicht, das wäre eine Einleitung. Nein, es sollte nur ein Vorwort sein. Möge dieses Wort, wenn auch in Schwachheit gesprochen, bei Ihnen einen guten Ort finden! Das helfe Ihnen der Heilige Geist! Denn Großes, Großes hängt davon ab, meine Freunde, daß Sie nicht nur als Lichtträger in die Welt treten, sondern auch als Lichter der Welt. Das sollen Sie sein zwar nicht durch unmittelbare, aber durch mittelbare Erleuchtung. Gehen wir nun zu unserm Gegenstand über. Den ersten Theil der achten Thesis haben wir bereits betrachtet, daß nämlich Gottes Wort nicht recht getheilt wird, wenn man das Gesetz den schon über ihre Sünden Erschrockenen verkündigt. Gehen wir heute über zu dem zweiten Theil dieser Thesis, der uns sagt, daß Gottes Wort nicht recht getheilt wird, wenn man das Evangelium den in Sünden Sicheren verkündigt. Das eine ist so gefährlich wie das andere. Wer einem sicheren Sünder den Trost des Evangeliums bringt, oder wer doch so in den Haufen hineinpredigt, daß die sicheren Sünder aus des Predigers Schuld meinen, ihnen gehöre dieser evangelische Trost, der bringt unaussprechlichen Schaden. Er kann ganze Schaaren, anstatt in den Himmel, in die Hölle hineinpredigen. Nein, das Evangelium ist nicht für die sicheren Sünder. Wir können es freilich nicht hindern, daß die sicheren Sünder in unsere Kirchen kommen und das Evangelium hören, aber das ist eben die Kunst des Predigers, daß man den ganzen evangelischen Trost in seiner vollen (S. 106) Süßigkeit bringe, daß aber die sicheren Sünder merken: „Dieser Trost gilt dir nicht“ Sie müssen es merken an der ganzen Art und Weise, wie der Prediger das vorlegt. Hören Sie nun einige Schriftbeweise. Matth. 7,6.: „Ihr sollt das Heiligthum nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, auf daß sie dieselbigen nicht zertreten mit ihren Füßen, und sich wenden und euch zerreißen.“ – Ein merkwürdiges Wort! Was ist denn das Heiligthum? Es ist eben Christi Wort. Und was sind die Perlen? Der Trost des Evangeliums, die darin verkündigte Gnade, Gerechtigkeit und Seligkeit. Davon sollen wir den Hunden, den Feinden des Evangeliums, nichts sagen, und auch nicht den Säuen, die in ihren Sünden bleiben wollen und die ihren Himmel und ihre Seligkeit in ihrem Sündenschmutz suchen. Jes. 26,10.: „Aber wenn den Gottlosen gleich Gnade angeboten wird, so lernen sie doch nicht Gerechtigkeit, sondern thun nur Uebel im richtigen Lande; denn sie sehen des HErrn Herrlichkeit nicht.“ – Es ist ganz vergeblich, daß ich dem Gottlosen Gnade anbiete. Er meint, er brauche keine Gnade, oder er denkt, er hat sie schon gänzlich. Er bildet sich ein, die kleinen Sünden, deren er sich schuldig gemacht hat, seien längst vergeben, oder darüber sei schon längst Gras gewachsen. Dem soll ich also das Evangelium nicht predigen, denn das ist nichts anderes als ein Anbieten der Gnade; dem hilft es ja doch nichts. Denn ein gottloser Mensch, der in seinen Sünden bleiben will, seien es grobe oder feine Sünden – denn der Teufel kann mich nicht bloß durch schmutzige, grobe Sünden binden, sondern auch durch ganz feine Fäden, durch Hochmuth, Neid, Lieblosigkeit etc. – ein solcher gottloser Mensch „sieht des HErrn Herrlichkeit nicht“. Solche Leute sehen gar nicht, was für ein großer Schatz ihnen angeboten wird. Sie verstehen die Lehre vom Seligwerden aus Gnaden nicht; entweder sie wollen sie nicht, oder sie mißbrauchen sie aufs Schändlichste. Sie denken: „O, wenn das zur Seligkeit genug ist, daß man bloß glauben soll, dann sind mir meine Sünden auch vergeben. Bleibe ich, wie ich bin, so komme ich doch in den Himmel. Ich glaube auch an meinen HErrn JEsum.“ Der Prediger, der daran Schuld ist, daß der sichere Sünder so das Evangelium mißbraucht, ladet eine große Schuld und Verantwortung vor Gott auf sich. Sprüchw. 27,7.: „Eine volle Seele zertritt wohl Honigseim; aber einer hungrigen Seele ist alles Bittere süß.“ – Wer sich schon satt und voll gegessen hat, dem kann ich immer Honigseim vorlegen, es ekelt ihn vor dieser Speise; aber einem Hungrigen schmeckt es köstlich. Das Evangelium, welches so süß ist wie Honig und Honigseim, sollen wir darum (S. 107) nur den hungrigen Seelen predigen. Denjenigen, die nicht hungrig sind gehört das Bittere, nämlich das Gesetz. Ein Vorbild hierin ist erstlich unser lieber HErr JEsus Christus. Beobachten Sie ihn in den Evangelien, so finden Sie: so oft er mit den sicheren Sündern zusammenkommt, welches damals sicherlich die selbstgerechten Pharisäer waren, da hat er kein Fünklein des Trostes für sie, sondern er nennt sie Schlangen und Otterngezüchte und ruft ihnen ein zehnfaches Wehe zu, deckt ihnen ihre scheußliche Heuchelei auf und spricht sie der Hölle zu, der ewigen Verdammniß, der sie nicht entrinnen können. Trotzdem daß er wußte, es seien dieselbigen Personen, die ihn an das Kreuz schlagen würden, sagt er ihnen furchtlos die Wahrheit. Das müssen sich die Prediger merken. Sie müssen den sicheren, ruchlosen Sündern, den Feinden und Heuchlern das Gesetz in seiner ganzen Schärfe predigen, wenn Sie auch im Voraus wissen, es wird ihnen gehen, wie dem HErrn Christus. Ich meine nicht, daß wir tragen können, was er getragen hat; wir können den Kelch nicht trinken, den er getrunken hat. Aber wir sollen die Feindschaft der Leute erfahren. Sie werden äußerlich gegen uns auftreten, oder sie werden immer heimlich gegen uns agitiren. Aber es hilft nichts; hat der Prediger solche Leute vor sich, so darf er ihnen nur das Gesetz und weiter nichts predigen. Und wenn er in den Haufen hineinpredigt, so müssen die denken: „Uns meint er nicht, sondern die Frömmler; denen soll das Evangelium gehören.“ Freilich sagt der HErr auch: „Kommet her zu mir alle“, aber er setzt sogleich hinzu: „die ihr mühselig und beladen seid.“ Damit gibt er zu erkennen: er ladet die sicheren Sünder nicht ein. Die würden doch nur seiner spotten, wenn er ihnen seinen geistlichen, himmlischen Reichthum vorhielte. Einst kam ein reicher Jüngling zu ihm und fragte ihn: „Guter Meister, was soll ich thun, daß ich das ewige Leben ererbe?“ Da weist er erst den Titel „guter Meister“ zurück, weil dieser Jüngling selbstgerecht war und meinte, er selbst sei ein guter Meister. Es war nicht aufrichtig gemeint von ihm. Hätte er Christum für den Sohn Gottes und den Weltheiland gehalten und an ihn geglaubt, und hätte er ihn deswegen den guten Meister genannt, dann wäre alles recht gewesen. Weil er aber den HErrn bloß aus Schmeichelei so nennt, so weist der HErr das zurück. Und was thut der HErr nun? Er stellt die Frage an ihn: „Wie stehet im Gesetz geschrieben, wie liesest du?“ Da antwortet der Jüngling ganz eifrig mit dem Hauptspruch aus dem Gesetz und spricht: „Du sollst Gott, deinen HErrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüth; und deinen Nächsten als dich selbst.“ Und der HErr sagt: „Du hast recht geantwortet; thue (S. 108) das, so wirst du leben.“ „O“, spricht er, „das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf.“ Er will sagen: „Wenn du keine anderen Lehren weißt, dann bist du doch kein weiser Mann; das wußte ich schon. Ich dachte, ich würde von dir ganz andre Aufschlüsse bekommen. Was fehlt mir noch?“ Spricht da der HErr etwa: „Der Glaube fehlt dir“? Mit nichten! Nein, er hat ja einen elenden sicheren, selbstgerechten Menschen vor sich. Darum predigt er ihm kein Wörtlein Evangelium. Den mußte er erst zur Erkenntniß seines eignen Elends bringen, obwohl er im Voraus nach seiner Allwissenheit wußte, daß an ihm alles verloren sei. Aber Gott thut vieles nach seiner Liebe, damit der Mensch sich nicht entschuldigen kann einst im Gericht, sondern Gott wird sagen: „Das und das habe ich an dir gethan, und du hast es doch zurückgewiesen.“ Der HErr Christus fährt nun fort und sagt: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach.“ Da heißt es: „Da der Jüngling das Wort hörete, ward er traurig, denn er hatte viele Güter.“ Er ging mit geschlagenem Gewissen fort, denn sein Gewissen sagte ihm ohne Zweifel: „Das ist allerdings eine andre Lehre, als die, welche ich bis jetzt gekannt habe. Das kann ich nicht thun. Meine Güter sind mir an mein Herz gewachsen. Wenn ich das thun soll, dann will ich es wohl bleiben lassen, ihm zu folgen. Ich will nicht mit ihm als ein Bettler im Lande herumziehen.“ Ja, sein Gewissen sagte ihm auch wohl: „Du bist nach der Lehre dieses Christus ein verdammter Mensch und dein Ziel ist die Hölle.“ Das war es, was der HErr bezweckte, das war das Ziel, welches der HErr an diesem Mann erreichen wollte. Ob der Mensch sich später bekehrt hat, oder nicht, das wissen wir nicht. Dem sei auch, wie ihm wolle. Wir haben daran ein Vorbild, wie wir uns zu verhalten haben bei solchen Sündern, die noch sicher und selbstgerecht sind. Hier ist das schärfste Gesetz am Platze. Wir können freilich nicht einen solchen Auftrag geben, wie Christus, der HErr aller Herren. Aber wir haben genug Fragen, die wir ihnen vorlegen können, daß sie wohl einsehen können: „Du bist noch ganz in Sünden versunken, du bist noch ein verlorner Mensch!“ (Vgl. Matth. 19, und Luc. 10.) Dasselbe sehen wir auch an den Aposteln. So oft sie predigten, verkündigten sie zuerst das Gesetz, daß es den Zuhörern durch das Herz ging. Vergleichen wir: Apost. 2. Da macht Petrus in der ersten Pfingstpredigt seine Zuhörer erst zu Christusmördern und traf damit ihr Herz. Erschrocken fragten sie: „Ihr Männer, lieben Bruder, was sollen wir thun?“ Nun sagt ihnen der Apostel Petrus: „Thut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen (S. 109) auf den Namen JEsu Christi zur Vergebung der Sünden.“ Er predigt ihnen das Evangelium und sagt ihnen, daß auch sie können Vergebung aller ihrer Sünden, auch der allerschrecklichsten Sünden, finden. Und so finden wir die Apostel überall, nicht nur in Jerusalem, sondern auch in Athen, Corinth, Ephesus etc. Ueberall predigen sie zuerst Buße und dann den Glauben; denn sie wußten, sie hatten hier überall meistens sichere Sünder vor sich, die ihr natürliches sündliches Elend noch nicht erkannt hatten. Doch sie waren nicht nur scharf mit dem Gesetz gegen diejenigen, welche nichts vom Christenthum gehört hatten, sondern auch gegen die, welche Christen sein wollten, dabei aber sicher in Sünden waren. Ein merkwürdiges Beispiel haben wir im letzten und vorletzten Capitel des zweiten Corintherbriefs. Da schreibt der heilige Apostel: „Ich fürchte, wenn ich komme, daß ich euch nicht finde, wie ich will, und ihr mich auch nicht findet, wie ihr wollet, daß nicht Hader, Neid, Zorn, Zank, Afterreden, Ohrenblasen, Aufblühen, Aufruhr da sei.“ 2 Cor. 12,20. Er will sagen: „Ihr werdet denken, daß ich euch das Evangelium predige, aber ihr werdet euch wundern, wenn ich komme, und ihr hören werdet, was ich euch predigen werde. Und er redet nicht von Büberei, Hurerei, Diebstahl, Fluchen, Morden, sondern von allen Sündern, auch von den Heuchlern, wie sie sich noch in allen christlichen Gemeinden finden. V. 21.: „Daß ich nicht abermal komme und mich mein Gott demüthige bei euch, und müsse Leid tragen über viele, die zuvor gesündigt, und nicht Buße gethan haben für die Unreinigkeit, und Hurerei, und Unzucht, die sie getrieben haben.“ Jetzt lebten sie wohl nicht in Hurerei und Unzucht, aber sie hatten früher darin gelebt. Sie waren Christen geworden bloß durch Verstandesüberzeugung, hatten aber keine Buße gethan. Mit dem Munde bekannten sie sich zum Christenthum, aber es war kein Herzensglaube, sie waren nicht wiedergeboren und erneuert durch den Heiligen Geist. 2 Cor. 13,1.2.: „Komme ich zum dritten Mal zu euch, so soll in zweier oder dreier Zeugen Mund bestehen allerlei Sache. Ich habe es euch zuvorgesagt, und sage es euch zuvor, als gegenwärtig, zum dritten Mal, und schreibe es nun im Abwesen denen, die zuvor gesündigt haben, und den andern allen, wenn ich abermal komme, so will ich nicht schonen.“ Da haben wir ein herrliches Beispiel für einen Prediger. Wenn die Leute anfangen, allerlei Sündliches ungestört zu treiben, und meinen, wenn sie nur immer noch zur Kirche kommen und zum heiligen Abendmahl gehen, dann müßte sie jedermann für gute Christen halten, da muß der Prediger merken: jetzt ist es Zeit, daß ich ihnen wieder einmal das Gesetz vorhalte, damit ich nicht sorglos in meiner Ruhe dahingehe und meine Zuhörer fahren zur Hölle, daß sie mich nicht einst am (S. 110) jüngsten Tage anklagen und sagen: „Du bist Schuld daran, daß wir Qual leiden müssen!“ Der Apostel mußte doch denken: „Wenn ich auftrete in dieser Gemeinde, so sind immer noch Sichere da, und die muß ich aufschrecken.“ Er fragte nichts darnach in dieser gottlosen, sodomitischen Zeit, ob sie ihm feind würden. Er sagte es ihnen gleich im Voraus: „Ich werde nicht schonen. Ich werde ihnen die Verdammniß zur Hölle ins Gesicht verkündigen; werde sie strafen als solche, die erfunden werden als Leute, die wider ihr Gewissen noch fortsündigen, und doch noch als Christen angesehen werden wollen.“ So dürfen auch wir denen, die sichere Sünder sind, nicht das Evangelium predigen, sondern das Gesetz. Erst müssen wir sie in die Hölle hineinpredigen, und dann erst können wir sie in den Himmel hineinpredigen. Erst müssen wir unsere Zuhörer dahin bringen durch unsere Predigt, daß sie sterben, und dann erst können sie durch das Evangelium zum Leben gebracht werden. Erst müssen wir sie dahin bringen, daß sie merken, daß sie todtkrank sind, und dann müssen wir sie durch den evangelischen Trost gesund machen. Erst müssen wir ihnen ihre eigene Gerechtigkeit durch das Gesetz aufdecken und zeigen, welch ein unfläthiges Kleid dieselbe ist, und dann müssen sie durch das Evangelium angethan werden mit dem Kleid der Gerechtigkeit Christi. Erst müssen wir sie dahin bringen, daß sie von Herzen sagen: „Ich verlorner und verdammter Mensch“, wie im Katechismus steht, damit sie dann durch das Evangelium dahin gebracht werden, daß sie vor Freuden ausrufen: „O, ich seliger Mensch!“ Erst müssen sie durch das Gesetz zu Nichts gemacht werden, dann durch das Evangelium etwas zu Lob der Gnade Gottes. Zwar können wir den Sündern nicht den Grad der Buße vorschreiben; denn wir finden in der heiligen Schrift, daß der Grad der Buße ein sehr verschiedener gewesen sei bei denen, von welchen uns berichtet wird, daß sie bekehrt wurden. Aber etwas von der bitteren Bitterkeit der Buße muß jedermann erfahren haben, oder er wird nie etwas von der Süßigkeit des Evangeliums schmecken. Und wenn der liebe Gott einen solchen Menschen ohne viel Angst und Schrecken zum Glauben hat kommen lassen, um ihn zur Seligkeit zu bringen, so holt er das immer später nach. Diejenigen, die der liebe Gott schnell zum Glauben und zur Freudigkeit gebracht hat, müssen immer wieder vom lieben Gott in rechte Traurigkeit über ihre Sünden hinein getaucht werden; sonst fallen sie ab. Wie denn der HErr von den Zeitgläubigen sagt: „In ihren Herzen ging der Same schnell auf und wuchs der Glaube bald, sie nahmen das Wort mit Freuden an, aber es half ihnen das nichts.“ Das Süße des Evangeliums hilft ihnen nichts, wenn nicht der Felsboden des Herzens zu Sand zerschlagen ist. (S. 111) Die Bemerkung machen wir allerdings, daß alle diejenigen, die anfänglich schon sehr große und tiefe Traurigkeit durchgemacht haben, die besten, beständigsten Christen geworden sind. Das sind auch die besten Pastoren geworden, die besten Theologen, die Gott schon in ihrer Jugend in die Fluthen der Angst und Noth versenkt hat, die vom lieben Gott recht in Angst und Noth wegen ihrer Seligkeit versetzt wurden. Wir sehen das unter anderm an dem lieben Luther. Ihm war das größte Werk, welches zu seiner Zeit vollbracht werden konnte, nämlich das Werk der Reformation anvertraut. Ohne daß er es selbst ahnte, bereitete ihn Gott vor, nicht dadurch, daß er ihn recht klug machte, daß er ihm große Menschenkenntniß beibrachte, auch nicht dadurch, daß er sogleich eine recht klare Erkenntniß vom Worte Gottes hatte – denn die hatte er Anfangs auch nicht, bis ihm der Heilige Geist das rechte Licht brachte – sondern Gott brachte ihn dahin, daß er sich auf die Kniee warf, und mit Gott rang, daß er in Angst und Schrecken gerieth, so daß er jeden Augenblick in Gefahr war, auf Gotteslästerungen zu gerathen. Das war aber die rechte Schule, aus welcher ein Reformator konnte hervorgehen. Dasselbe sehen wir auch an Flacius, der ohne Zweifel nächst Luther der größte Theolog seiner Zeit war, der leider später in Irrthümer fiel, von denen er sich nicht überweisen ließ. Auch er hat lange Zeit am Abgrund der Verzweiflung gestanden. Luther hat sich seiner angenommen, bis er dann endlich den Trost des Evangeliums annehmen konnte. Auch von Joh. Gerhard, dem größten Dogmatiker, lesen wir, daß er schon als Gymnasiast in die tiefste Angst und Noth kam und über ein Jahr darin blieb, daß ihn niemand trösten konnte, bis endlich Joh. Arnd, sein geistlicher Arzt, ihn tröstete und heilte. Aber als er aus dieser Höllenangst heraus war und sich erkannt hatte als einen elenden Sünder, da wurde er ein großer Mann. Und wenn wir die Geschichte aller großen Theologen wüßten, wovon vieles zumeist nicht an das Tageslicht gekommen ist, und erst in der Ewigkeit erkannt werden wird, so würden wir sehen, daß alle jene großen Männer erst klein und nichtig geworden sind und daß sie dann groß geworden sind, als sie aus der Angst und Noth herausgekommen waren, als sie das Evangelium zu glauben anfingen und andere Menschen wurden, daß sie dann große Werkzeuge Gottes geworden sind, wie wir sie im Reiche Gottes sehen. Es ist ein elendes Ding um einen jungen Mann, der bloß durch trockene Verstandesüberzeugung zum „Glauben“ an Gottes Wort gekommen ist. Ist er ein scharfsinniger Kopf, so kann er leicht in Gefahr kommen, allerlei Irrthümer anzunehmen und ein Ketzer zu werden; denn er ist nie in die rechte Herzensangst gekommen. Aber wer die Kraft des (S. 112) Worts erfahren hat, wer durch eine wahre, ernste Buße hindurchgegangen ist, der wird nicht so leicht den Untiefen seines Herzens folgen, denn er hat dieselben erkannt und traut ihnen nicht. Darum, wenn seine Vernunft anfängt zu reden, so hält er sich ans Wort und gebietet ihr zu schweigen. Gebe Gott, daß Sie dieses nicht nur angehört haben, daß Sie es nicht nur in Ihrer einstigen Amtsverwaltung verwerthen, sondern daß Sie es auch an Ihrer eigenen Seele erfahren. – Hören Sie nun hierüber Zeugnisse von Luther, und zwar zuerst aus Luthers Commentar über etliche Capitel des Exodus (W. III, 1285f.): „Denn das Evangelium ist nicht eine Predigt für grobe, rohe, wüste Sünder, die ohne einige Andacht leben, sondern ist ein Trost für die betrübten Seelen, Matth. 11,28. Denn es ist eine zarte Speise, die will eine hungrige Seele haben. Daher die liebe Jungfrau Maria in ihrem Magnificat Luc. 1,53. auch singt: Die Hungrigen hat er mit Gütern gefüllt. Sonst fällt der tolle Pöbel hinein, und wollen alle evangelisch und christliche Brüder sein, richten darnach Rotten und alles Unglück an. Den Teufel auf ihren Kopf sind sie.“ – Wenn ich einem andern Vorhalt thue und er wird ärgerlich, so beweist er, daß er kein wahrer Christ ist, denn ein Christ nimmt einen Vorwurf ganz sanftmüthig auf, auch wenn er nicht begründet ist. Es nimmt ihn das gar nicht groß Wunder, daß man ihm so etwas zutraut, denn er weiß, daß man keinem Menschen, so lange er in seinem natürlichen Zustand ist, etwas Gutes zumuthen kann. Ist nun das bei einem Christen nicht der Fall, dessen er beschuldigt wurde, so bekennt er: „Gott Lob! ich bin dessen nicht schuldig.“ – „Ein Christ ist nicht frech, wild und roh, sondern sein Gewissen ist blöde, kleinmüthig und verzagt, die Sünde beißt sie, und fürchten sich vor Gottes Zorn und vor dem Teufel und Tod.“ – Ein wichtiges Wort! Nach Luther sind das gewiß keine Christen, die ihre Sünde nicht beißt, die nicht im Kampf mit ihrer Sünde stehen und wohl gar fragen: „Was thue ich denn Böses?“ Aber du armer Mensch, wenn du so redest, so steht es traurig mit dir. Denn bist du ein wahrer Christ, so denkst du: „Ja freilich, die Sünden gehen über mein Haupt, nicht nur damals, als ich noch nicht bekehrt war, sondern auch jetzt noch. Ich glaube das nicht nur, weil ich es aus der Bibel weiß, sondern weil ich es auch täglich erfahre, was für ein böses Ding mein Herz ist, wie gebrechlich der alte Adam ist.“ – „Einem solchen zerschlagenen und zertriebenen Herzen schmecket der HErr Christus wohl. Item, die Erlösung von der Sünde, Tod, Teufel und Hölle schmecket denen auch wohl, die in dem Tode stecken und fühlen solche Noth und wollten gerne Ruhe haben: die bekommen sie, wenn das Herz den Glauben hat; aber sie fühlen auch darneben, wie gebrechlich der alte Adam sei.“ (S. 113) Ferner schreibt Luther in der Schrift: Von den Conciliis und Kirchen (W. XVI, 2741ff.): „Meine Antinomer predigen sehr fein und (wie ich nicht anders denken kann) mit rechtem Ernst von der Gnade Christi, von Vergebung der Sünden und was mehr vom Artikel der Erlösung zu reden ist.“ – Die Antinomer sind bekanntlich die Schüler des Joh. Agricola von Eisleben, welcher lehrte, man solle nicht in der Kirche das Gesetz predigen, denn das gehöre aufs Rathhaus, an den Galgen etc. – „Aber dies Consequens fliehen sie wie der Teufel, daß sie den Leuten sagen sollten vom dritten Artikel, der Heiligung, das ist, vom neuen Leben in Christo. Denn sie meinen, man solle die Leute nicht erschrecken noch betrüben; sondern immer tröstlich predigen von der Gnade und Vergebung der Sünden in Christo, und beileibe ja meiden diese oder dergleichen Worte: Hörest du es, du willst ein Christ sein, und gleichwohl ein Ehebrecher, Hurenjäger, volle Sau, hoffährtig, geizig, Wucherer, neidisch, rachgierig, boshaftig bleiben etc.; sondern so sagen sie: Hörest du es, bist du ein Ehebrecher, ein Hurer, ein Geizhals, oder sonst ein Sünder – glaubest du nur, so bist du selig, darfst dich vor dem Gesetz nicht fürchten, Christus hat’s alles erfüllt. Lieber, sage mir, heißt das nicht Antecedens concedirt und Consequens negirt? Ja, es heißt, eben in demselben Christum wegnehmen und zu nichts machen, wenn er am höchsten gepredigt wird.“ – So grob wird es nicht leicht jemand von Ihnen machen, aber man kann leicht dahinein gerathen. Wenn man die Leute recht trösten will, die in Angst und Noth sind, die meinen, daß sie zu große Sünder sind, daß sie zu lange gesündigt haben, dann erhebt man sich und preist die Gnade: „Wenn du die Sünde der ganzen Welt gethan hättest, wenn du ein Judas, ein Kain wärest, wenn du JEsum verfolgt hättest, so brauchst du dennoch nicht an Gottes Gnade zu zweifeln.“ Das ist ja ganz richtig, aber es muß so vorgetragen werden, daß der ruchlose Sünder merken muß: „Das handelt nur von solchen Leuten, gehört nur für solche, die erschrocken und betrübt sind, aber nicht für solche, die so sind, wie du, die denken: Nun, es wird schon drüberhin gehen.“ Darum nehmen Sie sich in Acht, um Gotteswillen! Wenn Sie daran gehen, das Evangelium zu predigen, so sprechen Sie so, daß Sie nicht die Sünder sicher machen und so Prediger der Sünde und Erhalter der Sünde werden. – „Und ist alles Ja und Nein in einerlei Sachen. Denn solcher Christus ist nichts und nirgend, der für solche Sünder gestorben sei, die nicht nach Vergebung der Sünden von den Sünden lassen und ein neues Leben führen.“ – Das ist nicht falsch zu verstehen, als ob Christus nicht für alle Sünder gestorben sei. Er ist nicht gestorben zu dem Zweck, um die Sünder sicher zu machen. – „Also predigen sie fein auf (S. 114) nestorianische und eutychische Dialectica Christum also, daß Christus sei, und sei es doch nicht, und sind wohl feine Osterprediger, aber schändliche Pfingstprediger.“ – Merken Sie sich das! Es ist gut, wenn Sie feine Osterprediger sind, die alles recht herauszustreichen wissen: den Sieg Christi über Sünde, Tod, Teufel und Hölle; aber Sie sollen auch gute Pfingstprediger sein, die den Leuten sagen: „Du mußt Buße thun und dann kommt der Heilige Geist mit seiner Gnade und tröstet, erleuchtet und heiligt dich.“ Zur vollkommenen Heiligung bringen wir es hier nicht, aber angefangen muß werden und auch zugenommen muß werden; denn wer nicht zunimmt, der nimmt ab, und wer abnimmt, der hört ganz auf zu gebrauchen, was Gott ihm geschenkt hat, der stirbt schließlich ganz ab. – “Denn sie predigen nichts de sanctificatione et vivificatione Spiritus Sancti, von der Heiligung des Heiligen Geistes, sondern allein von der Erlösung Christi, so doch Christus (den sie hoch predigen, wie billig) darum Christus ist oder Erlösung von Sünden und Tod erworben hat, daß uns der Heilige Geist soll zu neuen Menschen machen aus dem alten Adam, daß wir der Sünden todt und der Gerechtigkeit leben, wie St. Paulus lehret Röm. 6,2.ff., hie auf Erden anfahen und zunehmen und dort vollbringen. Denn Christus hat uns nicht allein Gratiam, die Gnade, sondern auch Donum, die Gabe des Heiligen Geistes, verdienet, daß wir nicht allein Vergebung der Sünden, sondern auch Aufhören von den Sünden hätten, Joh. 1,16.17. Wer nun nicht aufhöret von Sünden, sondern bleibt im vorigen bösen Wesen, der muß einen andern Christum von den Antinomern haben. Der rechte Christus ist nicht da, und wenn alle Engel schreien eitel Christus! Christus! – und muß mit seinem neuen Christo verdammt werden.“ – So schreibt ein Luther, der in der ganzen Christenheit bekannt ist als der größte Zeuge für die Größe und den Reichthum der Gnade Gottes in Christo, ein Mann, der die Gabe hatte, zu trösten wie wenige in der Christenheit. Aber er war kein einseitiger Mann. Daneben ist er scharf und gewaltig, wenn es gilt, das Gesetz zu predigen. Da schont er keinen Menschen. Alle Sicheren schlägt er mit dem Stab „Wehe“. In seinem „Unterricht der Visitatoren“ vom Jahre 1528 (W. X, 1913f.) schreibt Luther: „Nun befinden wir an der Lehre unter andern vornehmlich diesen Fehl, daß, wiewohl etliche vom Glauben, dadurch wir gerecht werden sollen, predigen, doch nicht genugsam angezeigt wird, wie man zu dem Glauben kommen soll, und fast alle ein Stück christlicher Lehre unterlassen, ohne welches auch niemand verstehen mag, was Glaube ist oder heißt.“ – Wenn ich immer in die Leute hineinschreie: „Glaubet, (S. 115) glaubet nur an Christum, so werdet ihr selig!“ so wissen sie gar nicht, was ich will. Ich muß erst mit der Axt und mit dem Donner des Gesetzes kommen, und wenn sie mich dann anschauen und denken: „Ja, wenn das so ist, wie steht es dann mit uns? Wehe über uns!“ dann kommt der Trost des Evangeliums – „Denn Christus spricht Lucä am 3. Cap., V. 8. (Luc. 24,47.), „daß man predigen soll in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden“. Aber viele sagen jetzund allein von Vergebung der Sünde, und sagen nichts oder wenig von Buße, so doch ohne Buße keine Vergebung der Sünden ist; es kann auch Vergebung der Sünde nicht verstanden werden ohne Buße. Und so man die Vergebung der Sünden predigt ohne Buße, folgt, daß die Leute wähnen, sie haben schon Vergebung der Sünden erlangt und werden dadurch sicher und furchtlos. Welches denn größerer Irrthum und Sünde ist, denn alle Irrthümer vor dieser Zeit gewesen sind; und fürwahr zu besorgen ist, wie Christus spricht, Matth. 12. Cap., V. 45. (Luc. 11,26.), „daß das Letzte ärger werde, denn das Erste“.“ – Ein merkwürdiger Ausspruch! Vorher, ehe Luther auftrat, herrschte nur das Gesetz. Die armen Leute waren in Angst und Schrecken. Als nun Luther zur Erkenntniß des Evangeliums gekommen war, predigte er diesen armen, zerschlagenen Sündern dieses süße Evangelium. Das mißverstanden aber viele und dachten: „Wenn wir wollen wie Luther predigen, dann müssen wir alle Sonntage vom Glauben predigen und von der Rechtfertigung und der Gerechtigkeit ohne Werke.“ Da sagte Luther nun, daß das ein größerer Irrthum wäre, als der vorige. Wenn ein Prediger nur vom Glauben predigt und das Gesetz verschweigt, so bringt er seine Zuhörer in einen solchen schrecklichen Zustand hinein, daß sie meinen, sie haben gar keine Buße nöthig, so daß ihnen schließlich gar nicht mehr zu helfen ist. – „Darum haben wir die Pfarrherren unterrichtet und vermahnt, daß sie, wie sie schuldig sind, das Evangelium ganz predigen und nicht ein Stück ohne das andere. Denn Gott spricht 5 Mos 4,2., man soll nichts zu seinem Wort oder davon thun. Und die jetzigen Prediger schelten den Pabst, er habe viele Zusätze zu der Schrift gethan, als denn, leider, allzu wahr ist! Diese aber, so die Buße nicht predigen, reißen ein groß Stück von der Schrift und sagen dieweil vom Fleischessen und dergleichen geringen Stücken; wiewohl sie auch nicht zu verschweigen sind zu rechter Zeit um der Tyrannei willen, zu vertheidigen die christliche Freiheit. Was ist aber dies anders, denn, wie Christus spricht, Matth. 23,24., „Mücken seihen und Kameele verschlucken“? Also haben wir sie vermahnt, daß sie fleißig und oft die Leute zur Buße vermahnen, Reu und Leid über ihre Sünde zu haben, und zu erschrecken vor (S. 116) Gottes Gericht. Und daß sie auch nicht das große und nöthige Stück der Buße nachlassen; denn beide, Johannes und Christus, die Pharisäer um ihre heilige Heuchelei härter strafen, denn gemeine Sünder. Also sollen die Prediger an dem gemeinen Mann die groben Sünden strafen; aber wo falsche Heiligkeit ist, viel härter zur Buße vermahnen.“ – Das heißt nicht, das Gesetz tüchtig predigen, wenn man nur gegen die groben Laster predigt; da macht man nur Pharisäer. Freilich muß das auch geschehen.

 

- FORTSETZUNG -