C. F. W. Walther (1811-1887):

Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.


Dreiundzwanzigste Abendvorlesung. (20. März 1885.)

 

Unter den mancherlei Funktionen oder Amtsverrichtungen eines Kirchendieners, meine Freunde, ist die allerwichtigste das Predigtamt. Richtet ein Kirchendiener durch sein Predigen nichts oder wenig aus, so kann nichts anderes das Predigen ersetzen, so wird er auch sonst wenig oder nichts ausrichten durch alles, was er thut. Hierin stimmen freilich die Papisten nicht mit uns überein. Sie erklären ihre Kirchendiener für Priester. Daher behaupten sie denn, die allerwichtigste Function eines Priesters sei taufen, Beichte hören und absolviren, communiciren und vor allem das Meßopfer Gott darbringen. Sehen wir nun ganz ab vom Meßopfer, welches ja der allergrößte Greuel ist, der je in der Christenheit getrieben worden ist, so müssen wir doch sagen: Alles Taufen, alles Absolviren, alles Communiciren hilft nichts, wenn nicht vorher darüber gepredigt worden ist, denn das alles ist ja nicht Menschenwerk, sondern es sind Werke Gottes selbst, mit denen aber Gott eine durch (S. 237) den Glauben zu ergreifende Verheißung verbunden hat, daher das alles ohne den Glauben gar nichts hilft, sondern vielmehr schadet. Und darum ist schlechterdings nothwendig, wenn diese Werke Gottes etwas helfen sollen, daß darüber erst gründlich aus Gottes Wort gepredigt worden ist. Als daher Christus zurückgehen wollte zu der Herrlichkeit, die er bei dem Vater hatte ehe der Welt Grund gelegt ward, da gab er den Jüngern seine Iustruction und rief ihnen zu: „Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Creatur“, und wie Matthäus sagt: „Gehet hin und lehret alle Völker.“ Und nun erst setzt er hinzu: „Und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Und auch damit hat der HErr nicht genug gesagt, er schließt seine Instruction mit den Worten: „Und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.“ Siehe da, das Erste und das Letzte, das A und das O des apostolischen oder Kirchenamtes ist Predigen und Lehren. Aber so wichtig diese Function ist, so ist sie doch auch zugleich die allerschwierigste, welche einem Kirchendiener gegeben ist. Diejenigen Prediger, welche denken: „Ach, das Predigen wird mir leicht, und je länger ich im Predigtamt bin, desto leichter ist es mir auch geworden. Denn“, meinen sie, „wenn ich nur nichts predige, als das reine Wort Gottes, wenn ich nur keine Ketzerei beimische, so muß das doch genügen“, – diese Prediger sind in einem großen, schrecklichen, höchst gefährlichen und verderblichen Irrthum. Ein bloßes frommes Gerede ohne Ziel und Ordnung, das ist keine rechte Predigt. Eine rechte Predigt gibt nur der Heilige Geist ein durch sein Wort. Eine rechte Predigt entsteht daher nur nach der äußersten Anstrengung aller geistlichen und geistigen Kräfte, nach brünstigem Gebet, nachdem man auch von sich gescheucht hat alle irdischen Sorgen, nachdem man sich losgemacht hat von allen eitlen Begierden – von Seiten eines wahrhaft gläubigen Predigers. Und das ist schwer! Recht taufen ist leicht, das kann jeder. Recht absolviren ist ebensowohl sehr leicht, das kann auch jeder, auch ein Knabe. Recht das heilige Abendmahl austheilen, das ist auch sehr leicht, das kann jeder verständige Christ. Aber recht predigen, das ist schwer. Darum sollte auch ein theologischer Student nichts mehr zu seinem Ziel machen, als recht predigen. Denn kann er das nicht, so gehört er eben nicht in das Predigtamt. Denn in unserer rechtgläubigen Kirche ist eben ein Diener Gottes ein Diener JEsu Christi, dessen Werth eben nicht darin besteht, daß ein gewisses „Etwas“ bei der Ordination oder Weihe über ihn gekommen wäre, das andere Leute nicht hätten, darum er auch eine so hochheilige, theure Person sei. Nein, nein, der Werth eines rechten Kirchendieners besteht lediglich darin, daß er recht predigen kann. Kann er das nicht, so gehört (S. 238) er nicht auf die Kanzel; die ist da zum Predigen. Die Predigt ist der Mittelpunkt eines jeden Gottesdienstes. Und was soll er denn durch die Predigt wirken? Bedenken Sie das: Er soll die sicheren Seelen aufschrecken aus ihrem Sündenschlaf; dann soll er die Aufgeschreckten zum Glauben bringen; dann soll er die Gläubigen zur Gewißheit ihres Gnadenstandes und ihrer Seligkeit bringen; die Gewißgewordenen soll er dann auch zur Heiligung bringen, und die Geheiligten soll er dann in ihrem heiligen, seligen Zustande stärken und bis an das Ende darin erhalten. O welch eine Aufgabe! Aber vor allen Dingen dürfen wir nicht vergessen: Zur Lösung dieser Aufgabe gehört sonderlich das rechte Theilen des Wortes der Wahrheit, wie der Apostel redet, das heißt, das rechte Scheiden des Evangeliums vom Gesetz und des Gesetzes vom Evangelium. Wer das nicht versteht, sondern beides mit einander vermengt und vermischt, dessen Predigten sind ganz verloren und vergeblich. Ja, noch mehr, solche Predigten wirken schädlich und verführen die Seelen, bringen sie zu falschem Glauben, zu falscher Hoffnung, zu falscher Reue, machen nur Heuchler und stürzen sehr oft auch in die Verzweiflung. Aber Gesetz und Evangelium recht zu scheiden ist gar ein schweres, schweres Amt. Darin müssen alle, wie auch Luther sagt, Schüler bleiben bis an ihren Tod. Aber doch, das erste wichtige Pensum muß auch ein junger Theolog aufsagen können. Er muß das Ziel kennen und angefangen haben, dem Ziel entgegenzugehen. Wie schwer das ist, Gesetz und Evangelium zu scheiden, haben wir bereits in den letzten Abendstunden gesehen. Ueberzeugen wir uns nun ferner hiervon, indem wir einen neuen Fall besehen und betrachten, in welchem Gesetz und Evangelium mit einander vermischt werden.

 

Thesis XII.

Das Wort Gottes wird achtens nicht recht getheilt, wenn man also lehrt, als ob die Reue neben dem Glauben eine Ursache der Sündenvergebung sei.

 

Daß die Reue über die Sünde nöthig ist, wenn man Vergebung derselben erlangen will, daran ist ja kein Zweifel. Als der HErr JEsus das erste Mal öffentlich sein Predigtamt verwaltete, da rief er: „Thut Buße und glaubet an das Evangelium.“ Das erste, was er nennt, ist Buße, und das ist, dem Glauben gegenübergestellt, nichts anderes als Reue. Und als Christus das letzte Mal die heiligen Apostel um sich versammelte, da er eben im Begriff war, gen Himmel zu fahren und der Kirche seine sichtbare Gegenwart zu entziehen, da rief er ihnen zu: „Also ist’s ge- (S. 239) schrieben und also mußte Christus leiden, und auferstehen von den Todten am dritten Tage, und predigen lassen in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden.“ Buße muß ebensowohl da sein, wie der Glaube. Warum wohl? Das sagt uns auch der HErr in den Worten: „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Ich bin gekommen in die Welt, die Sünder zu suchen und selig zu machen, und nicht die Gerechten.“ Damit bezeugt uns der Herr: Deswegen ist die Reue so schlechterdings nöthig, weil ohne dieselbe niemand fähig ist, zum Glauben gebracht zu werden. Er ist eben satt und darum kommt er nicht zu der himmlischen Hochzeit. Schon Salomo sagt in seinen Sprüchen, Sprüchw. 27,7.: „Eine volle Seele zertritt wohl Honigseim.“ Wo kein Hunger und kein Durst ist, da findet auch der HErr JEsus keine Aufnahme. Wo der Mensch nicht ein armer, verlorner, verdammter Sünder geworden ist, da will er auch nicht ernstlich etwas von dem Sünderheiland wissen. Aber dabei dürfen Sie nicht vergessen, daß die Reue keine Ursache der Vergebung der Sünden ist. Die Reue ist nicht um der Vergebung der Sünden willen so nöthig, ja, sie ist gar nicht um derselben willen nöthig, sondern um des Glaubens willen, der die Vergebung der Sünden ergreift. Warum sagen wir nun, daß, wenn ich so lehrte, als ob die Reue eine Ursache der Vergebung der Sünden sei, das eine Vermischung des Gesetzes und des Evangeliums sei? 1. Weil die Reue eine Wirkung des Gesetzes allein ist. Wer nun die Reue zu einer Ursache der Vergebung der Sünden macht, der macht aus dem Gesetz eine Gnadenbotschaft und aus dem Evangelium ein Gesetz. Und das ist eine greuliche Vermischung des Gesetzes und des Evangeliums, die das ganze Christenthum umstößt. 2. Die Reue ist nicht einmal ein gutes Werk. Denn die Reue, die dem Glauben vorhergeht, ist nur ein Leiden von Seiten des Menschen. Es ist eine Angst, ein Schmerz, eine Pein, eine Zerknirschung, die Gott gewirkt hat durch den Hammer seines Gesetzes. Es ist eine Angst, die der Mensch nicht etwa sich selbst gemacht hat, sondern er möchte sie so gerne wieder los werden, aber er kann sie nicht los werden, denn Gott ist mit seinem heiligen Gesetz über ihn gekommen, und dem kann er sich nicht entziehen. Und wer sich hinsetzt und meditirt und will sich Reue erzeugen, der wird auf diesem Weg die wahre Reue nie bekommen. Die kann er nicht selbst machen. Und die sie sich selbst geben wollen, werden elende Heuchler. Sie suchen sich endlich zu überzeugen: sie haben Reue, aber es ist nicht wahr; sie haben keine Reue. Die wahre Reue gibt nur Gott, wenn sein Gesetz in seiner Schärfe gepredigt wird, wenn der Mensch nicht muthwillig widerstrebt. (S. 240) Nun wird ja freilich nicht leicht ein sogenannt lutherischer Prediger jemals sagen: „Die Reue ist eine Ursache der Vergebung der Sünden. Das sagen nur die Papisten, aber kein protestantischer Prediger, der nur einigermaßen die reine Lehre hat. Und dennoch geschieht es nur leider allzu oft, daß Prediger, welche echt lutherisch sein wollen, in dieser Weise Gesetz und Evangelium vermischen, daß sie die Reue so hinstellen, als sei dieselbe eine Ursache der Vergebung der Sünden. Das thun sie auf zweierlei Weise: entweder, daß sie von der Reue zu wenig, oder daß sie davon zu viel verlangen. Viele Prediger wollen nämlich oft in ihrer Unerfahrenheit die Leute nicht zur Verzweiflung bringen. Sie predigen ihnen zwar: „Reue muß dem Glauben vorausgehen“, aber sie haben Angst, wenn sie nicht etwas hinzusetzen, es möchte vielleicht der und jener in der Gemeinde sein, der in Verzweiflung kommen könnte. Da setzen sie also hinzu: „Wenn du auch nicht einen so großen Schmerz fühlst! Wenn du nur wünschest, du möchtest Reue haben, das nimmt Gott doch an.“ Damit wird die Reue doch eigentlich als eine Ursache der Vergebung dargestellt, wenn dieser Trost gegeben wird. Nein, das ist ein falscher Trost. Nicht deswegen, weil ich wünsche, Reue zu haben, ist Gott zufrieden, sondern weil ich durch meine Reue zubereitet bin, wenn das Evangelium mir gepredigt wird, daran zu glauben als ein armer, verlorner Sünder. Man müßte vielmehr sagen: „Siehe, wenn du nun so weit gekommen bist, daß du hungerst und dürstest nach Gottes Gnade, das ist es, was nöthig ist. Aber Gott verlangt nicht deswegen Reue, daß du deine Sünden abbüßest, ja, er verlangt gar keine Reue dazu, sondern nur deswegen, daß du sichrer Sünder aufwachest und fragest: Was soll ich thun, daß ich selig werde?“ Darum sagt auch Luther, daß das erste Mal, als ihm der rechte Begriff von poenitentia aufgegangen sei, da sei ihm kein Wort so süß gewesen; da wußte er, er sollte nichts abbüßen, er sollte nur über seine Sünden erschrecken, daß er Gottes Gnade begehrte. So stand Luther. Das war ihm nichts Schreckliches, sondern ein wahres Evangelium. Denn nun sahe er: „Du bist von dem lieben Gott so weit gebracht, daß du dich für einen armen, verlornen Sünder ansiehst. Jetzt bist du der rechte Mann für JEsum. Jetzt gehe hin zu ihm! Er nimmt dich an mit all deinen Sünden, mit all deinem Kummer, mit all deinem Jammer; er nimmt dich an, wie du bist.“ Und nun frage dich nicht: „Habe ich auch genug Reue? Darf ich auch zu JEsu kommen?“ Damit, daß du so fragst, zeigst du eben, daß du zu ihm kommen willst; dann hast du Verlangen nach JEsu. Hat einer aber Verlangen, zu JEsu zu kommen, dann hat er auch die rechte Reue, wenn man sie auch nicht fühlt. Das (S. 241) geht einem gerade, wie mit dem Glauben. Man kann die Reue haben und fühlt sie doch nicht. Ich habe das erfahren. Jahre lang habe ich in der rechten Reue gesteckt und am Rand der Verzweiflung gestanden, weil ich nicht das süße Gefühl in mir empfand eines zerschmolzenen Herzens darüber, daß ich den lieben Gott so schwer beleidigt hatte. Das hatte ich nicht, aber das lebendige Gefühl eines verlornen Sünders. Da wendete ich mich an einen, der mehr erfahren hatte, der schloß es mir in wenigen Augenblicken auf. Also, wenn man sagt: „Wenn du nur wünschest, Reue zu haben, so ist Gott damit zufrieden“, da zeigt man, daß man Gesetz und Evangelium mit einander vermischt, indem man die Reue ansieht für ein Verdienen, um dessentwillen Gott uns gnädig sei und uns die Sünden vergebe. Das zeigt sich auch darin, wenn man damit zufrieden ist, wenn einer nur ein wenig Reue hat. Es gibt ja ruchlose Menschen, die schon lange Zeit dahinleben in Sünde und Schande. Da auf einmal wacht ihr Gewissen auf und sagt ihnen: „Du hast einen Meineid begangen! Wehe dir!“ Zagen und Zittern kommt über ihn. Oder ihr Gewissen ruft ihnen zu: „Du hast deine Hände mit Blut befleckt! Du bist ein Mörder!“ Aber er erschrickt nicht, weil er denkt: „Du bist ein armer Sünder“, sondern nur diese eine That schreckt ihn. Aber sonst denkt er, er habe ein gutes Herz. Nur diese eine Sünde schreckt ihn. Ich habe selbst einen solchen Fall in Deutschland erlebt, daß einer einen Meineid geschworen hatte, ein gottloser Mensch. Er hat es nicht gestanden, aber wenn man mit ihm redete, da fing er an zu zittern. Als ich einmal zu ihm kam, mußte er sich am Tisch anhalten, um nicht zu sehr zu zittern. Trotzdem war er nicht dazu zu bringen, seine Sünde zu bekennen. Man konnte ihm daher das Evangelium nicht predigen. Solche ruchlosen Buben gibt es viele, die schon ihr Todesurtheil gehört haben; die sprechen dann wohl zum Prediger: „Das gestehe ich ein: das und das habe ich gethan. Das war nicht recht. Aber sonst können Sie mir glauben, Herr Pastor, ich habe ein gutes Herz. Aber das da habe ich nun einmal gethan. Das ist mir so passirt, das kann ich nicht helfen.“ Wer nun mit einer solchen partiellen Reue sich zufrieden gibt, der stellt die Reue so dar, als ob sie etwas verdiente, während es weiter nichts ist, als der Ausbruch eines Geschwürs. So kann ich einem nicht das Evangelium predigen, wenn ich sehe: Der Eiter steckt noch drin. Und wenn ich eine heilende Salbe auf eine solche Wunde lege, so frißt der Eiter nur noch weiter hinein und die Wunde kann nicht heilen. Andere wiederum fordern zu viel, indem sie zu ihren armen Zuhörern sagen: „Reue ist nöthig, das sagt die Schrift auf allen Blättern. Das sagt euch schon eure Vernunft, daß Gott euch nichts vergeben kann, (S. 242) wenn ihr aus eurer Sünde euch nichts macht. Ihr müßt Reue haben. Nun will ich euch sagen, wie diese Reue beschaffen sein muß.“ Dann liest er ihnen vor Ps. 38,7-9.: „Ich gehe krumm und sehr gebückt, den ganzen Tag gehe ich traurig. Denn meine Lenden verdorren ganz, und ist nichts Gesundes an meinem Leibe. Es ist mit mir gar anders, und bin sehr zerstoßen. Ich heule vor Unruhe meines Herzens.“ Oder Ps. 6,7.8.: „Ich bin so müde von Seufzen, ich schwemme mein Bette die ganze Nacht, und netze mit meinen Thränen mein Lager. Meine Gestalt ist verfallen vor Trauern, und ist alt geworden; denn ich allenthalben geängstet werde.“ Gesetzliche Prediger fragen nun: „Kannst du das auch sagen? Bist du einmal den ganzen Tag krumm und sehr gebückt und traurig einhergegangen? Sind dir in dieser Zeit auch deine Lenden verdorrt? Kannst du auch sagen: In dieser Zeit war nichts Gesundes an meinem Leibe? Heultest du auch vor Unruhe deines Herzens? Schwemmtest du dein Bett die ganze Nacht? Netztest du mit deinen Thränen dein Lager? Sah es dir jeder an, als hättest du in vierzehn Tagen ebenso viele Jahre zurückgelegt? Siehe, hast du das nicht erfahren, so sage nur nicht, daß du Buße gethan hast! Denn das nur ist die rechte Buße.“ Aber das ist ganz verkehrt. Wohl war das Davids Buße, aber wo steht denn geschrieben, daß jeder diesen Grad der Buße erfahren müsse? Nirgends! Gerade das Gegentheil finden wir. Kaum war das Herz der ersten Pfingstzuhörerschaft durchstochen, so daß sie bewogen wurden, auszurufen: „Was sollen wir thun?“ – alsbald wird ihnen die Gnade gepredigt. Und an David selbst sehen wir das. Er war ein ganzes Jahr in Unbußfertigkeit dahingegangen. Nun hält ihm Nathan seine schrecklichen Sünden vor. Da ruft er mit zerknirschtem Herzen aus: „Ich habe gesündigt wider den HErrn“, und nichts weiter. Aber der Prophet Nathan sieht sogleich: „Er ist vernichtet, er ist jetzt wie zerschlagen.“ Da spricht er zu ihm: „So hat auch der HErr deine Missethat weggenommen.“ Dasselbe sehen wir auch am Kerkermeister zu Philippi. Der hatte nur ein paar Minuten lang gebebt und gezittert; er wollte sich ermorden; nun wirft er sich nieder und spricht: „Liebe Herren, was soll ich thun, daß ich selig werde?“ Da sprachen die Apostel nicht: „Ja, du mußt Reue in dir erzeugen, und zwar eine tiefe, ernste Reue“; sie haben ihn nicht erinnert an David, was der für eine Buße gethan hat, sondern alsbald sprechen sie: „Glaube an den HErrn JEsum Christum, so wirst du und dein Haus selig.“ Die Apostel sahen es vor Augen: „Der Mann ist schon niedergeschmettert, so daß er Gnade begehrt, und das ist genug.“ Denn dann hat die Reue ihr Amt verrichtet, wenn sie mich hungrig und durstig gemacht hat nach Gnade. (S. 243) Die Pietisten sagen, es müsse eine lange Zeit der Buße sein, ehe man glauben dürfe. Ja, sie haben gewarnt, man solle ja nicht zu früh glauben; man solle sich erst vom Heiligen Geist durcharbeiten lassen; man könne nicht binnen vierzehn Tagen bekehrt werden, sondern da müßten zuweilen so viele Monate und Jahre vergehen, da Gott einen vorbereite. Das ist aber eine schreckliche, furchtbare Lehre! Diese Prediger haben nicht bedacht, was für eine furchtbare Verantwortung sie auf sich geladen haben. Wenn sie einen so warnen, was soll denn da werden, wenn er stirbt, wenn sie ihm sagen: „Es ist noch nicht Zeit“? Ich habe selbst erfahren, wie schrecklich diese Lehre ist. Ein pietistischer Candidat hatte mich so angewiesen. Ich habe alles gethan, um so recht zur Buße zu kommen, und dann fiel ich in Verzweiflung. Ich ging zu ihm und da sagte er: „Ja, jetzt mußt du glauben.“ Ich glaubte ihm aber nicht, dachte: „der will dich täuschen“, denn es stimmte nicht mit den Kennzeichen der Buße, die er mir vorher gegeben hatte. Ich sagte daher zu ihm: „Wenn du wüßtest, wie es mit mir steht, du würdest mich nicht trösten. Ich will Regeln haben, wie ich mich weiter verhalten soll.“ Die gab er mir auch, aber das war alles verloren. Nein, man soll um Gottes willen jedem, von dem man menschlicherweise annehmen kann: er ist jetzt von seiner Selbstgerechtigkeit los und will nur aus Gnaden selig werden, getrost das volle Evangelium predigen. Das ist nicht zu frühe. Man kann gar nicht zu frühe zu JEsu kommen; das ist unmöglich. Woran es fehlt, ist dieses, daß die Leute oft nicht wirklich zu JEsu gehen; sie nennen sich arme Sünder und sind es doch nicht, wollen doch etwas vor den lieben Gott bringen. Und darum, wenn sie auch heuchlerisch sagen: „Ich gehe zu JEsu!“ kommen sie nicht wirklich als bettelarme Sünder. Wem aber Gott die Gnade gegeben hat, daß er ihn zerschlagen und zerschmettert hat, daß er keinen Trost mehr in sich findet und ganz trostlos geworden ist, der sieht sich um und fragt: „Wo finde ich Trost?“ Der steht in der rechten Reue, dem soll man das Evangelium predigen, und ihn nicht warnen, er solle nicht zu früh zu JEsu kommen. Das ist eine schreckliche Lehre. Ich kann ihm vielmehr sagen: „Du darfst nicht nur, du sollst zu JEsu gehen! Gehe nur hin zu ihm! Denke nicht: Es ist zu frühe! Geh nur hin, denn diese Nacht kann Gott deine Seele von dir fordern!“ Wäre es nicht schrecklich, wenn ich ihm den Trost entzogen hätte, und er würde diese Nacht sterben? Dann würde Gott die Seele dieses Sünders von mir fordern. Eine Grundursache, warum so viele hier Gesetz und Evangelium vermischen, ist die, daß sie die tägliche Buße mit der Buße vor dem Glauben verwechseln. Die tägliche Buße wird beschrieben Ps. 51. Da nennt sie David ein Opfer, welches er Gott darbringt, und von welchem er auch (S. 244) sagt, es gefalle Gott. Da ist also nicht von der Buße vor dem Glauben, sondern von der Buße nach dem Glauben die Rede. Die allermeisten rechtschaffenen Christen, die die reine Lehre haben, erfahren die Reue nach dem Glauben viel mehr als die Reue vor dem Glauben. Denn wenn sie rechtschaffene Prediger haben, so haben sie diese ohne Umwege zu Christo gewiesen, und bei dem sind sie nun. Und nachher, wenn sie auch oft zerschmettert sind, immer kommt die alte Selbstgerechtigkeit wieder auf; und da muß Gott immer wieder aufs neue den armen Christen schlagen mit dem Gesetz, da müssen wir wieder gedemüthigt werden. Das sehen wir auch bei David. In einem Augenblick war er zum Glauben gekommen, aber wie viel Noth hatte er noch nachher! Ein Prophet war es, der ihm das Wort des HErrn gesagt hatte, aber bis an seinen Tod hat er viel Angst und Noth und Jammer in seinem Herzen getragen. Gott hat es ihm auch nicht mehr gelingen lassen, ein Unglück auf das andere traf ihn bis ihn endlich Gott durch den Tod erlöste. Aber er hatte dann Reue mit Glauben. Die ist freilich ein Gott angenehmes Opfer. Diese Reue ist nicht ein bloßes Gesetzeswerk, bei dem nur das Gesetz thätig ist, sondern die ist auch zugleich ein Werk des Evangeliums. Das Evangelium bringt die Liebe zu Gott ins Herz. Diese aus Liebe zu Gott hervorgehende Reue ist allerdings ein wahrhaft süßer Schmerz und Gott angenehm. Das gefällt Gott wohl; denn wir können Gott keine größere Ehre geben, als wenn wir uns vor ihm in den Staub werfen und bekennen: „Du, HErr, bist gerecht, ich bin ein armer Sünder! Erbarme dich mein um JEsu Christi willen!“ Hören wir nun ein Zeugniß aus den Schmalkaldischen Artikeln (P. III, Art. III, Müller, S. 312-314). Es ist dies eine kostbare Stelle! Eine wahre Perle in unsern Bekenntnissen! Denn die rechte Lehre von der Reue hat keine Secte, nur unsere lutherische Kirche hat sie. Und hier ist diese Lehre niedergelegt. Wir wissen, Luther selbst hat diese Artikel geschrieben, und er sei dafür im Grabe gesegnet, daß er uns dieses Erbe hinterlassen hat! „Solch Amt behält das neue Testament und treibet’s auch, wie S. Paulus Röm. 1 thut und spricht: Gottes Zorn wird vom Himmel offenbart über alle Menschen. Item, 3: Alle Welt ist für Gott schuldig. Und: kein Mensch ist für ihm gerecht. Und Christus Joh. 16: Der Heilige Geist wird die Welt strafen um die Sünde. Das ist nun die Donneraxt Gottes, damit er beide die offenbarliche Sünder und falsche Heiligen alle in einen Haufen schlägt und läßt keinen Recht haben, treibet sie allesammt in das Schrecken und Verzagen. Das ist der Hammer (wie Hieremias spricht): Mein Wort ist ein Hammer, der die Felsen zerschmettert. Das ist nicht activa contritio, eine gemachte Reue, sondern passiva contritio, (S. 245) das wahre Herzeleid, Leiden und Fühlen des Todes.“ – Gemachte Reue ist nichts als ein bloßes Sichverstellen. – „Und das heißt denn die rechte Buße anfahen; und muß der Mensch hie hören solch Urtheil: Es ist nichts mit euch allen, ihr seid öffentliche Sünder oder Heiligen, ihr müßt alle anders werden und anders thun, weder ihr jetzt seid und thut, ihr seid, wer und wie groß, weise, mächtig und heilig, als ihr wollt, hie ist niemand fromm. – Aber zu solchem Amt thut das neue Testament flugs die tröstliche Verheißung der Gnaden durchs Evangelium, der man gläuben solle, wie Christus spricht Marci 1: Thut Buße und gläubet dem Evangelio, das ist, werdet und macht’s anders und gläubet meiner Verheißung. Und für ihm her Johannes wird genannt ein Prediger der Buße, doch zur Vergebung der Sünden, das ist, er sollt sie alle strafen und zu Sündern machen, auf daß sie wüßten, was sie für Gott wären, und sich erkenneten als verlorne Menschen, und also dem HErrn bereit würden, die Gnade zu empfahen und der Sünden Vergebung von ihm gewarten und annehmen. Also sagt auch Christus Luc. am 24. selbst: Man muß in meinem Namen in alle Welt predigen Buß und Vergebung der Sünden. – Wo aber das Gesetz solch sein Amt allein treibet ohne Zuthun des Evangelii, da ist der Tod und die Hölle und muß der Mensch verzweifeln, wie Saul und Judas, wie S. Paulus sagt: Das Gesetz tödtet durch die Sünde. Wiederum gibt das Evangelium nicht einerlei Weise Trost und Vergebung, sondern durchs Wort, Sacrament und dergleichen, wie wir hören werden, auf daß die Erlösung ja reichlich sei bei Gott, wie der 130. Psalm sagt, wider die große Gefängniß der Sünden. Aber jetzt müssen wir die falsche Buße der Sophisten gegen die rechte Buße halten, damit sie beide desto baß verstanden werden. Unmöglich ist’s gewest, daß sie (die Papisten) sollten recht von der Buße lehren, weil sie die rechten Sünden nicht erkenneten. Denn (wie droben gesagt) sie halten von der Erbsünde nicht recht, sondern sagen, die natürlichen Kräfte des Menschen seien ganz und unverderbt blieben, die Vernunft könne recht lehren und der Wille könne recht darnach thun, daß Gott gewißlich seine Gnade gibt, wenn ein Mensch thut, so viel an ihm ist, nach seinem freien Willen. Hieraus mußte nun folgen, daß sie allein die wirklichen Sünden büßeten, als böse bewilligte Gedanken (denn böse Bewegung, Lust, Reizung war nicht Sünde), böse Wort, böse Werke, die der freie Wille wohl hätte kunnt lassen. – Und solcher Buße setzen sie drei Theil, Reu, Beicht, Genugthun, mit solcher Vertröstung und Zusage, wo der Mensch recht reuet, beichtet, gnug thät, so hätte er damit Vergebung verdienet und die Sünde für Gott bezahlet. Weiseten also die Leute in der Buße auf Zuversicht eigener Werk. Daher kam das Wort (S. 246) auf der Kanzel, wenn man die gemeine Beichte dem Volke fürsprach: Friste mir, HErr Gott, mein Leben, bis ich meine Sünde büße und mein Leben bessere. – Hie war kein Christus und nichts vom Glauben gedacht, sondern man hoffete mit eigen Werken die Sünde für Gott zu überwinden, und zu tilgen; der Meinung wurden wir auch Pfaffen und Mönche, daß wir uns selbs wider die Sünde legen wollten. – Mit der Reue war es also gethan: Weil niemand alle seine Sünde kunnte bedenken (sonderlich das ganze Jahr begangen), flicketen sie den Pelz also, wenn die verborgene Sünde hernach ins Gedächtniß kämen, müßte man sie auch bereuen und beichten“ etc. – Manche gingen nur einmal im Jahr zum Abendmahl. Da sahen sie ein, sie konnten nicht sagen: „Ich weiß jede Sünde noch, die ich an jedem Tag gethan habe.“ Sie wußten, sie konnten das nicht. Da sagte der Priester: „Nun gut, wenn dir dann die übrigen Sünden ins Gedächtniß kommen, dann mußt du sie auch bekennen, dann hilft dir auch die Absolution.“ – „Indeß waren sie Gottes Gnaden befohlen.“ – Also eigentlich hatte die Absolution jetzt noch keine Kraft; das muß erst nachgetragen werden. „Gottes Gnade befohlen“, das heißt: „Wenn er morgen stirbt, dann kann ich nicht sagen, ob er zur Hölle fährt oder in das Fegfeuer.“ Das war aber nach ihrer Ansicht nicht wahrscheinlich, daß er in die Hölle fuhr. – „Zu dem, weil auch niemand wußte, wie groß die Reu sein sollt, damit sie ja gnugsam wäre für Gott, gaben sie solchen Trost, wer nicht könnte contritionem, das ist, Reue haben, der sollte attritionem haben, welches ich mag eine halbe oder Anfang der Reu nennen; denn sie haben selbs alles beides nicht verstanden, wissen auch noch nicht, was es gesagt sei, so wenig als ich. Solche attritio ward denn contritio gerechnet, wenn man zur Beicht ging.“ – „Attritio“, nur ein Anflug von Reue. Luther will hier sagen: „Ich weiß nicht, was sie mit dieser attritio eigentlich meinen, aber sie sollte doch bei den Papisten genug sein.“ – „Und wenn sich’s begab, daß etwa einer sprach, er könnte nicht reuen noch Leide haben für seine Sünde, als möcht geschehen sein in der Hurenliebe oder Rachgier etc., fragten, ob er denn nicht wünschte oder gern wollte, daß er Reue möchte haben?“ – Man frage nur einen römisch-katholischen Priester! Wenn er ehrlich ist, wird er sagen: So ist es noch jetzt! Wir absolviren auch, wenn nur eine attritio da ist. Die echten Katholiken sagen dann, wie es steht. Da sagt einer: „Ich wollte wohl Reue haben, aber ich kann nicht; denn wenn ich an meine Hurerei denke, so möchte ich die gerne noch länger betreiben; und wenn ich an meinen Feind denke, so möchte ich ihm noch schaden.“ – „Sprach er dann, ja (denn wer wollt hie nein sagen, ohn der Teufel selbst?), so nahmen sie es für die Reue an und vergaben ihm seine Sünde auf solch (S. 247) sein gut Werk. Hie zogen sie S. Bernhard zum Exempel an“ etc. – Es ist doch eine schauerliche Religion unter dem Pabstthum! – „Hie siehet man, wie die blinde Vernunft tappet in Gottes Sachen und Trost suchet in eigen Werken nach ihrem Dünkel, und an Christum oder den Glauben nicht denken kann.“ – Sie reden eben von diesen köstlichen Sachen wie der Blinde von der Farbe. Man lese nur ihr Bekenntniß im Tridentinum! Sie reden so von allen Sachen, die ganz offenbar sind aus der Bibel, daß man sieht: sie wissen gar nicht, wovon sie reden. – „Wenn man’s nu beim Licht besiehet, ist solche Reue ein gemachter und gedichter Gedanke aus eigen Kräften, ohne Glauben, ohne Erkenntniß Christi, darin zuweilen der arme Sünder, wenn er an die Lust oder Rache gedacht, lieber gelachet denn geweinet hätte, ausgenommen, die entweder mit dem Gesetze recht troffen oder von dem Teufel vergeblich sind mit traurigem Geist geplagt gewest; sonst ist gewiß solche Reu lauter Heuchelei gewest und hat der Sünden Lust nicht getödtet. Denn sie mußten reuen, hätten lieber mehr gesündiget, wenn es frei gewest wäre.“ – Luther hat, als er dies schrieb, ohne Zweifel an sich gedacht. Als er sich in der Buße übte, hat er gewiß nicht dazu gelacht, sondern es war ihm ein großer, schrecklicher Ernst, so daß er oft das Bewußtsein verlor vor großer Angst. Sie wissen ja, daß er sich eingeschlossen hat mehrere Tage lang, um Bußübungen zu machen. Da sprengten sie die Thür auf und da lag er bewußtlos. Dahin war es gekommen in seiner schrecklichen Seelenangst. Des Teufels Trauergeist war über ihn gekommen, daß kein Trost haften wollte. Da haben sie Musik gemacht, und das half. Darum hat Luther so viel auf Musik gehalten. Und die Musik hat auch eine außerordentliche Gewalt auf das Gemüth des Menschen.

 

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