C. F. W. Walther (1811-1887):

Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.


Dritte Abendvorlesung. (26. September 1884.)

 

So schmal, meine Freunde, nach Christi eigenem Wort der Weg zum Himmel ist, so schmal ist auch der Weg der reinen Lehre; denn die reine Lehre ist eben nichts anderes, als die Lehre vom Weg zum Himmel. So leicht es nun aber ist, daß ein Mensch von einem schmalen, wenig betretenen Weg durch einen dichten Wald hindurch abkommen kann, sei es rechts oder links, ohne daß er es will und ohne daß er es meint, so leicht kann man auch von dem schmalen Weg der reinen Lehre, der auch von wenigen betreten wird, und der auch durch einen dichten Wald von Irrlehren hindurchführt, abirren, und entweder in den Sumpf der Schwärmerei oder in den Abgrund der Vernunftweisheit stürzen. Es ist eben damit nicht zu scherzen. Die falsche Lehre ist ein gefährliches Seelengift. Wie nun eine ganze große Tischgesellschaft, wenn in die Becher Arsenik gemischt ist, sich den leiblichen und zeitlichen Tod trinken kann, so kann auch eine große Zuhörerschaft, wenn der Predigt das Gift der falschen Lehre beigemischt ist, sich den geistlichen und ewigen Tod holen. Auch nur ein einziger falscher Trost, auch nur eine einzige falsche Strafe kann einen Menschen um seiner Seelen Seligkeit bringen, und das ist um so leichter möglich, weil wir alle von Natur viel zugänglicher sind für das blinkende und blendende Licht der Vernunft, als für die Wahrheit „Denn der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes; es ist ihm eine Thorheit und kann es nicht erkennen.“ 1 Cor. 2,14. Hieraus können Sie denn ersehen, wie thöricht es ist, ja, welch eine furchtbare Verblendung sich darin offenbart, wenn man jetzt so vielfach über die reine Lehre spöttelt und wenn man uns zuruft: „Seid doch endlich einmal still mit dem Geschrei: Reine Lehre! Reine Lehre! Das führt nur zu todtem Orthodoxismus. Sorgt doch vielmehr für reines Leben, dadurch werdet ihr ein rechtschaffenes Christenthum pflanzen.“ Das ist gerade, wie wenn ich zu einem Farmer sagen wollte: „Sorge doch nicht immer für guten Samen; sorge lieber für gute Früchte.“ Gerade die Sorge um den guten Samen ist ja die rechte Sorge für gute Früchte. So ist auch die Sorge für die reine Lehre die rechte Sorge für rechtschaffenes Christenthum und für ein rechtschaffenes, christliches Leben. Falsche Lehre ist der Unkrautssame, den der Feind säet, aus dem die Kinder der Bosheit hervorgehen. Der Weizensame ist die reine Lehre; das ist der Same der Kinder des Reichs, welche in das Reich JEsu Christi gehören schon in diesem Leben und einst aufgenommen werden in das (S. 20) Reich der Herrlichkeit. O möchte Gott schon jetzt in Ihre Herzen geben eine ernste Furcht, ja, einen rechten Abscheu vor falscher Lehre, und aus Gnaden verleihen ein heiliges Verlangen nach reiner, von Gott selbst geoffenbarter, seligmachender Wahrheit. Dazu sollen ja auch hauptsächlich diese Abendstunden dienen. Fahren wir nun fort in unsern Betrachtungen! Wir können selbst heute nicht ohne Weiteres von unserer These Abschied nehmen. Wir haben zwar schon gesehen, wie Gesetz und Evangelium verschieden sind von einander. Wir sind auch in dieser Erkenntniß durch zwei Zeugnisse Luthers befestigt worden. Nun ist es aber nöthig, daß Sie auch ein Beispiel zu hören bekommen, wie man diese beiden Lehren müsse vortragen, ohne sie in einander zu mischen. Hören Sie zu dem Zweck eine Stelle aus der Auslegung Luthers über das 6., 7. und 8. Capitel des Evangeliums Johannis vom Jahre 1530 bis 1532. – Junge Leute fragen gewöhnlich immer mehr nach der schönen Sprache und Ausdrucksweise, als nach dem Inhalt. Aber das ist sehr gefährlich. Sie müssen immer mehr fragen nach dem Quid? als nach dem Quomodo? – Das Gesetz muß gepredigt werden in seiner ganzen Schärfe, aber der Zuhörer muß merken: „Das dient dem, der noch sicher in seinen Sünden ist, zum Heil.“ Und das Evangelium muß man so predigen, daß man merkt: „Das gilt nur denjenigen, die vom Gesetz ergriffen sind und des Trostes bedürfen.“ Darauf kommt es vor allen Dingen bei einer Predigt an. Luther sagt nun über die Worte Christi Joh. 7,37.: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke“ Folgendes (W. VII, 2319-23): „Von den zwei Stücken predigt man. Das Gesetz macht einen Durst und führt zur Hölle und tödtet; das Evangelium aber tränket wieder und führet gen Himmel“ – Luther redet nicht nur von diesem Unterschied, wo das Wort Gesetz und das Wort Evangelium steht, sondern wo irgend eine Gelegenheit gegeben ist, diese „zwei Stücke“ zu predigen. „Das Gesetz sagt, was wir thun sollen, und daß man’s nicht gethan habe, wie heilig man auch immer sei; so macht’s mich ungewiß, jagt mich in Durst.“ – Wenn Christus solche einladet, „die da dürsten“, so versteht er darunter die, die durch den Hammer des Gesetzes zerschlagen sind. Christus ladet direct nur diese ein, zu ihm zu kommen, indirect freilich alle Menschen. Ein solcher Durstiger soll weiter nichts thun, als trinken, den Trost des Evangeliums empfangen. Wer recht durstig ist und er kriegt nur ein kleines Glas Wasser, o, wie erquickt das ihn! Wenn einer aber nicht durstig ist, so kann man ein Glas Wasser nach dem andern in ihn hineinfüllen, und es hilft ihm doch nichts; es erquickt ihn nicht. – „Es spricht: „Du sollst nicht tödten“, treibt mich alles in meine Werke; sagt: (S. 21) „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und den Nächsten als dich selber, nicht ehebrechen, nicht schwören oder stehlen“, und spricht: Siehe zu, daß du also gelebet hast oder noch also lebest. Wenn du dann dahin kommst, so wirst du finden, daß ich Gott nicht liebe von ganzem Herzen, wie ich wohl sollte, und mußt bekennen und sagen: O, lieber Gott, ich habe das nicht gethan, ich habe das Gesetz nicht gehalten, denn ich weder heute noch morgen Gott von Herzen liebe, und beichte ein Jahr wie das andere, nämlich, daß ich dies und jenes gethan habe. Diese Beichte will nicht aufhören. Wenn will’s ein Ende haben und dein Herz ruhen und sicher sein der göttlichen Gnaden? Du bleibst immer im Zweifel, morgen beichtest du gleich wie heute; die gemeine Beichte bleibt immer. Wo willst du nun ruhen und fußen mit deinem Gewissen, daß du wissest, wie du mit Gott daran wärest? Dein Herz kann dir’s nicht sagen, thue, als viel du kannst. Denn das Gesetz bleibet, welches da sagt: „Du sollst Gott und den Menschen lieben von ganzem Herzen. Aber du sagst: Ich thue es nicht, so spricht das Gesetz: Du sollst es thun; und bringt mich dann das Gesetz in die Angst, daß ich muß durstig werden, erschrecken, zittern und sagen: Wie will ich thun, daß mich Gott mit Gnaden ansehe? Ich soll Gottes Gnade erlangen; ja wenn ich die zehn Gebote halte, wenn ich gute Werke und viel Verdienste habe! Aber das geschieht nimmer, ich halte die zehn Gebote nicht, darum so widerfährt mir keine Gnade. So findet sich’s, daß der Mensch keine Ruhe haben kann in seinen guten Werken, und wollte gern ein gut Gewissen haben; er gewinnt ein Verlangen, daß er ein gut, fröhlich, friedsam, tröstlich Gewissen bekommen möchte, es dürstet ihn, er wollte gerne zufrieden sein. Das heißt der Durst, der währet also lange, bis daß Christus kommt und spricht: Willst du gerne zufrieden sein, Ruhe und ein gut Gewissen haben, so rathe ich dir, komm her zu mir, und laß Mosen und deine Werke fahren, mache einen Unterschied zwischen mir und Mose. Von Mose hast du Durst, der hat das Seine gethan und sein Amt ausgericht, dich geängstigt und durstig gemacht; komme nun auch einmal zu mir, glaube an mich, höre meine Lehre; ich bin ein anderer Prediger, ich will dich tränken und erquicken.“ – Wer das alles nicht erfahren hat, der ist – sine mente sonans, der ist wie eine klingende Schelle und wie ein tönend Erz. Wenn aber ein Prediger das selbst erfahren hat und es geht nun recht von Herzen, so geht es auch wieder zu Herzen. Wenn durch einen unbekehrten Prediger jemand erweckt und bekehrt wird, so geschieht das bloß per accidens. Und wenn man dann predigen will, so muß man sich einen Schlachtplan machen, um seine Zuhörerschaft zu gewinnen für das Reich Gottes. Die Zuhörer können wohl sonst auch sagen: „Das war aber schön“, aber das (S. 22) ist auch alles. Leer gehen sie wieder zur Kirche hinaus. – „Wer nun diese Kunst oder den Unterschied wohl könnte, der möchte wohl ein Doctor heißen. Denn man muß das Gesetz und Evangelium von einander scheiden. Das Gesetz soll schrecken und blöde und verzweifeln machen, sonderlich die groben, rohen Leute, bis daß sie erkennen, daß sie nicht thun können, was das Gesetz haben will, noch die Gnade erlangen, auf daß sie verzweifeln; denn es wird nichts draus, daß sie Gnade erlangen könnten. Wie denn Dr. Staupitz einmal zu mir sagte: „Ich habe Gott mehr denn tausendmal gelogen, daß ich wollte fromm werden, und hab’s nie gethan; darum will ich mir’s nicht fürsetzen, daß ich fromm will sein; denn ich sehe wohl, ich kann’s nicht halten, ich will nimmer lügen.“ Also ging mir’s auch: im Pabstthum war mir’s ein großer Ernst, daß ich wollte fromm sein; aber wie lange währte es? Nur bis ich hatte Messe gehalten. Ueber eine Stunde war ich böser denn vorhin. Das währet so lange, bis daß einer gar müde wird, und muß sagen: Ich will das Frommsein, den Mosen, das Gesetz an einen andern Ort setzen und mich halten zu einem andern Prediger, der da spricht: „Komm zu mir, so du mühselig bist, ich will dich erquicken“, und laß dir das Wort „komm zu mir“ lieb sein. Dieser Prediger lehret nicht, daß du kannst Gott lieben, oder wie du thun und leben sollst; sondern saget, wenn du es nicht thun kannst, wie du dennoch müssest fromm und selig werden. Das ist eine andere Predigt, denn des Gesetzes Mosis Lehre, die nur mit Werken umgeht. Das Gesetz sagt: du sollst nicht sündigen, fahre hin und sei fromm, thue dies und jenes; aber Christus spricht: Nimm hin, du bist nicht fromm, ich habe es aber für dich gethan, remissa sunt tibi peccata. Diese zwo Predigten muß man lehren und zugleich mit einander treiben. Denn wenn man bei einerlei Lehre bleibt, so ist’s nicht recht. Denn das Gesetz macht allein durstig und dienet nirgends zu, denn daß es die Herzen erschrecke; das Evangelium aber machet allein voll, fröhlich und lebendig und tröstet die Gewissen. Daß nun die Lehre des Evangeliums nicht alleine faule, frostige Christen mache, die da meinen, sie dürfen nichts Gutes thun, so saget das Gesetz zu dem alten Adam: Sündige nicht, sei fromm, laß ab, thue das! etc. Aber wenn dann das Gewissen solches fühlet und weiß, daß das Gesetz nicht eine Ziffer sei, so erschrickt der Mensch; dann so höre die Lehre des Evangeliums, wenn du gesündiget hast; höre den Lehrer Christum, der da saget: Komm zu mir, ich will dich nicht lassen Durst sterben, sondern dich tränken . . . Hätte man solches in meiner Jugend mir, Dr. Luther, auch geprediget, so hätte ich meines Leibes viel gespart, und wäre kein Mönch worden. Nun man es aber jetzt hat, so verachtet (S. 23) es die gottlose Welt; denn sie haben das Bad und den Schweiß nicht ausgestanden, darinnen ich und andere im Pabstthum gesteckt sind. Darum weil sie die Noth der Gewissen nicht gefühlet haben, so verachten sie es, denn sie haben keinen Durst; darum richten sie jetzt Rotten und Schwärmerei an. Es ist wahr: Dulcia non meminit, qui non gustavit amara; die nicht im Durst gewesen sind, die schmecken nichts. Durst ist ein guter Kellner, und Hunger ist ein guter Koch; aber wenn kein Durst da ist, so schmecket nichts wohl, es sei so gut, als es immer wolle. So ist nun die Lehre des Gesetzes dazu gegeben, daß man darin gebadet werde und im Gesetze als auf einer Schweißbank schwitze, Angst und Noth leide; sonst schmecket es den Ueberdrüssigen und Sattsamen nicht wohl. Aber die lasse man fahren, es wird ihnen auch nicht gepredigt; denn es ist eine Predigt für die Durstigen; denen wird gesagt: Lasset sie zu mir kommen, die will ich laben und tränken.“ So müssen also Gesetz und Evangelium vorgetragen werden, ohne beide mit einander zu vermengen. – Wer nicht einfältig predigt, der predigt sich selbst, und wer sich selbst predigt, der predigt die Leute in die Hölle, wenn die Leute auch sagen: „Das war aber schön! Der hat eine Rednergabe!“ Auch selbst einem wahren, rechtschaffenen Prediger kommen ja aus dem sündlichen Fleisch solche Hochmuthsgedanken; aber sobald er es merkt, speit er aus vor solchen Gedanken und fleht zu Gott, er möge doch solche verfluchte Hochmuths-gedanken von ihm nehmen. Demüthig geht er dann auf die Kanzel. Man kann es einem auch anmerken, ob es von Herzen kommt oder nicht. Sie können ja freilich nicht reden wie ein Luther, aber Sie müssen doch bedenken: „Wie kann ich das Gesetz den sicheren und das Evangelium den armen Sündern predigen?“ In jeder Predigt müssen beide Lehren vorkommen. Wenn eine von beiden fehlt, so ist die andre falsch. Denn das ist eine falsche Predigt, die nicht alles gibt, was zur Seligkeit gehört. Man darf nicht denken, daß das nun recht ist, wenn man in einem Theil Gesetz und im andern Theil Evangelium predigt. Nein, diese topographische Scheidung ist nichts. In einem Satz kann beides enthalten sein, aber jeder in der Zuhörerschaft muß merken: „Das ist für dich!“ In jeder noch so tröstlichen, freundlichen Predigt muß auch Gesetz enthalten sein. Hören wir eine Stelle aus Luthers Auslegung des 23. Psalms zu den Worten V.3.: „Er erquicket meine Seele“ (W. V, 400ff.): „Weil unser HErr Gott zweierlei Wort hat, Gesetz und Evangelium, gibt der Prophet genugsam zu verstehen, da er spricht: „Er erquicket meine Seele“, daß er hier nicht vom Gesetz, sondern vom Evangelium redet.“ – Kommt man auf Worte, die Drohungen und Strafen enthalten, so gehören sie zum Gesetz. (S. 24) Sind es Worte, die trösten, geben, schenken, anbieten, so gehören sie zum Evangelium. Sie werden kein Sonntagsevangelium finden, auf Grund dessen Sie nicht zugleich Gesetz und Evangelium predigen könnten. – „Das Gesetz kann die Seelen nicht erquicken, denn es ist ein Wort, das von uns fordert und gebeut, daß wir Gott sollen lieben von ganzem Herzen etc., unsern Nächsten als uns selber. Wer solches nicht thut, den verdammt’s und spricht ein solch Urtheil über ihn: Verflucht sei jedermann, der nicht alles thut, was im Buch des Gesetzes geschrieben steht. Nun aber ist es gewiß, daß niemand auf Erden solches thut; darum kommt das Gesetz mit seinem Urtheil zu seiner Zeit, betrübet und erschrecket die Seelen, und wo nicht Rath geschaffet wird, dringt’s fort, daß sie verzweifeln und ewig verdammt sein müssen. Daher spricht St. Paulus: Durch das Gesetz kommt nur Erkenntniß der Sünde. Item: Das Gesetz richtet nur Zorn an. Das Evangelium aber ist ein selig Wort, fordert nichts von uns, sondern verkündigt alles Gutes, nämlich, daß Gott seinen einigen Sohn uns armen Sündern geschenkt habe, daß Er soll unser Hirte sein, der uns verschmachtete und zerstreute Schafe wiedersuchte, sein Leben für uns ließe, auf daß er uns also von Sünden, vom ewigen Tod und des Teufels Gewalt erlösete.“ – Man könnte fragen, wie es nur komme, daß das Gesetz die schreckliche Sünde der Verzweiflung bewirkt. Das geschieht aber eben nur per accidens. An und für sich ist das Gesetz auch gut. Nun folge noch eine Stelle aus Luthers Commentar zum Brief an die Galater zu Gal. 2,13.14. (W. VIII, 1785ff.): „Darum, wenn dein Gewissen durch das Gesetz erschreckt wird und mit dem Gerichte Gottes ringt, so ziehe weder die Vernunft noch das Gesetz zu Rathe, sondern gründe dich allein auf die Gnade und das Wort des Trostes. Da halte dich ganz und gar nicht anders, als ob du vom Gesetze Gottes niemals irgend etwas gehört hättest, sondern mache dich hinzu ins Dunkel (2 Mos. 20,21.), wo weder das Gesetz, noch die Vernunft leuchtet, sondern allein das dunkle Wort des Glaubens, welcher (Glaube) sich gewißlich darauf verläßt, daß er selig werde außer und über das Gesetz, in Christo. So führt uns das Evangelium außer und über das Licht des Gesetzes und der Vernunft in das Dunkel des Glaubens, wo Gesetz und Vernunft nichts zu schaffen haben. Es muß auch das Gesetz gehört werden, aber an seinem Orte und zu seiner Zeit. Da Moses auf dem Berge ist, wo er von Angesicht zu Angesicht mit Gott redet, hat er das Gesetz nicht, gibt und verwaltet es nicht; nachdem er aber vom Berge herniedergestiegen war, ist er ein Gesetzgeber und regiert das Volk mit dem Gesetze. So soll das Gewissen frei sein vom Gesetze, der Leib aber soll dem Gesetz gehorchen. . . . Wer daher das Evangelium vom Gesetze wohl zu unterscheiden ver- (S. 25) steht, der danke Gott und wisse, daß er ein Theologe sei. Ich verstehe dies freilich noch nicht in der Anfechtung, wie ich sollte. Beides ist aber so zu unterscheiden, daß du das Evangelium in den Himmel setzest, das Gesetz auf die Erde, daß du die Gerechtigkeit des Evangelii eine himmlische und göttliche nennest, die Gerechtigkeit des Gesetzes eine irdische und menschliche, und daß du die Gerechtigkeit des Evangelii von der Gerechtigkeit des Gesetzes so sorgfältig unterscheidest, als Gott den Himmel von der Erde, das Licht von der Finsterniß, den Tag von der Nacht mit aller Sorgfalt unterschieden hat. Die eine soll Licht und Tag sein, die andere Finsterniß und Nacht, und wollte Gott, wir könnten sie noch weiter von einander scheiden. Deshalb wenn man vom Glauben oder vom Gewissen handelt, so soll das Gesetz gänzlich ausgeschlossen werden und auf der Erde bleiben; handelt man aber von Werken, so zünde man die Leuchte der Werke oder der Gerechtigkeit des Gesetzes bei Nacht an. So soll die Sonne und das unermeßliche Licht des Evangelii und der Gnade bei Tage leuchten; die Lampe des Gesetzes aber bei Nacht. Darum soll ein Gewissen, welches erschreckt ist durch das Fühlen seiner Sünde, so denken: Nun hast du auf der Erde zu schaffen, da soll der Esel arbeiten, dienen und die Last tragen, die ihm aufgelegt ist, das heißt, der Leib mit seinen Gliedern soll dem Gesetze unterworfen sein. Wenn du aber zum Himmel aufsteigst, dann lasse den Esel mit seiner Bürde auf der Erde. Denn das Gewissen hat nichts zu schaffen mit dem Gesetze, mit Werken, und mit irdischer Gerechtigkeit. So bleibt der Esel im Thal, das Gewissen aber steigt mit Isaak auf den Berg und weiß durchaus nichts von dem Gesetz und von Werken, sondern hat nur die Vergebung der Sünden im Auge, und nichts als die Gerechtigkeit, die uns in Christo vorgehalten und geschenkt worden ist. . . . Dieses Lehrstück vom Unterschied des Gesetzes und des Evangelii muß man nothwendiger Weise wissen, weil es die Summa der ganzen christlichen Lehre enthält. Deshalb bestrebe sich ein jeglicher, der sich der Gottseligkeit befleißigt, mit der größten Sorgfalt, daß er dies unterscheiden lerne, nicht allein mit Worten, sondern auch in Wahrheit und in der Erfahrung, das heißt, im Herzen und Gewissen. Sonst was die Worte anbetrifft, so ist diese Unterscheidung leicht. Aber in der Anfechtung wirst du inne werden, daß das Evangelium ein seltener Gast im Gewissen ist, dagegen das Gesetz ein täglicher Hausgenosse. Denn die Vernunft hat von Natur die Erkenntniß des Gesetzes. Darum, wenn das Gewissen erschrickt vor der Sünde, die durch das Gesetz angezeigt und groß gemacht wird, so sollst du sprechen: Sterben hat seine Zeit, leben hat seine Zeit, das Gesetz hören hat seine Zeit, sich um das Gesetz nicht bekümmern hat seine Zeit, das Evangelium hören hat seine Zeit, das Evangelium nicht (S. 26) wissen hat seine Zeit. Jetzt trolle sich das Gesetz und das Evangelium komme her, denn nun ist nicht die Zeit, das Gesetz zu hören, sondern das Evangelium. Aber du hast nichts Gutes gethan, vielmehr schwer gesündigt. Das gebe ich zu, aber ich habe Vergebung der Sünden durch Christum, um dessentwillen mir alle meine Sünden erlassen sind. Wenn aber das Gewissen nicht im Kampfe steht, und äußerliche Amtswerke ausgerichtet werden müssen, da, wo du ein Diener des Worts, eine obrigkeitliche Person, ein Ehemann, ein Lehrer, ein Schüler etc. bist, dann ist es nicht Zeit, das Evangelium zu hören, sondern das Gesetz, da sollst du deinen Beruf ausrichten“ etc. – Unsere eigene Gerechtigkeit ist für dieses Leben, aber die Gerechtigkeit, die das Evangelium bringt, ist eine himmlische Gerechtigkeit. – Wie wir später hören werden, muß man Gesetz und Evangelium nicht nur in der Predigt, sondern vor allen Dingen auch in seinem eigenen Herzen recht scheiden.

 

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