C. F. W. Walther (1811-1887):

Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.


Zwölfte Abendvorlesung. (12. December 1884.)

 

Der Hauptfehler in den Predigten unserer Zeit ist, meine Freunde, dieser, daß die Predigten meistens ziellos sind; und zwar leiden an diesem Fehler gerade die Predigten der Gläubigen in unsern Tagen. Während die ungläubigen oder schwarmgeisterischen Prediger ein ganz bestimmtes Ziel – nur nicht das rechte – verfolgen, so meinen hingegen meistentheils gläubige Prediger, sie hätten dann ihr Amt ganz wohl verwaltet, wenn nur das, was sie gepredigt hätten, Gottes Wort gewesen sei. Das ist aber gerade so, als wenn ein angestellter Jäger meint, sein Amt wohl verwaltet zu haben, wenn er hinausgeht mit geladenem Gewehr und schießt in den Wald hinein; oder wenn ein Artillerist meint, seine Pflicht gethan zu haben, wenn er sich mit seinem Geschütz in die Schlachtordnung stellt und dann das Geschütz abfeuert. So schlechte und unnütze Jäger und Soldaten diese sind, eben so schlechte und unnütze Prediger sind diejenigen, welche bei ihren Predigten keinen Plan haben, kein Ziel verfolgen. Mögen sie dann immerhin schöne Gedanken in ihren Predigten haben, so bleiben sie doch ohne Wirkung. Mögen sie immerhin dann und wann gewaltig donnern mit dem Gesetz, so schlägt doch kein Blitz ein. Mögen sie immerhin den ihnen anvertrauten Garten besprengen mit befruchtendem Wasser des Evangeliums, sie begießen nicht sowohl die Pflanzen in den Beeten als den Gartenweg, und so ist alles verloren. So haben weder Christus noch die heiligen Apostel gepredigt. Wenn die gepredigt hatten, dann wußte jeder Zuhörer: „Da warst du gemeint!“ – auch ohne daß sie etwa auf irgend eine Person gedeutet und gestichelt hätten. Als z. B. der HErr Christus einst das gewaltige, schreckliche Gleichniß von den mörderischen Weingärtnern dargelegt hatte, da gestanden die Hohenpriester und Schriftgelehrten selbst: „Wir haben wahrgenommen: Er meint uns.“ Und als der heilige Apostel Paulus einst vor jenem unzüchtigen und ungerechten Laudpfleger Felix gepredigt hatte von der Gerechtigkeit und von der Keuschheit und vom zukünftigen Gericht, da merkte Felix bald: „Du bist gemeint!“ Bald erschrak er, aber weil er sich nicht bekehren wollte, sagte er zu Paulus: „Gehe hin auf diesmal; wenn ich gelegenen Zeit habe, will ich dich lassen herrufen.“ Aber er rief ihn nicht. Er hatte die rechte, wohlgezielte Predigt gehört, und die hatte ihn getroffen. Darum, meine Freunde, die Ursache, warum in unserm deutschen Vaterland fast überall die Ungläubigen die Oberhand bekommen in den lutherischen Gemeinden, ist ohne Zweifel, daß die Predigten der (S. 93) christlichen Prediger ziellos sind. Die Ungläubigen mehren sich in den Gemeinden, während sich zugleich die christlichen Prediger gemehrt haben, denn es sind deren viel mehr als in meiner Jugend. Warum richten sie nichts aus? O, wenn doch diese theuren Männer so viel Demuth hätten, sich zu den Füßen eines Luther zu setzen, seine Postillen zu studiren, dann würden sie lernen, wie sie predigen müßten, um Eindruck zu machen! Denn das Wort Gottes, wenn es recht gepredigt wird, kehrt nie leer zurück. O, möge Gott helfen, daß, wenn Sie einst ins Amt kommen, Sie nicht solch ziellose Schwätzer seien und dann darüber klagen müssen, daß Sie so wenig ausrichten, wenn Sie selbst daran Schuld sind, weil Sie nicht bei der Ausarbeitung Ihrer Predigt ein bestimmtes Ziel haben und dabei denken: Die und die will ich treffen – nicht die und die Person, welche ich nenne, sondern die und die, welche sich in diesem oder jenem Zustande befinden. Aber so wichtig es nun ist, daß die Predigten nicht ziellos sind, so ist es doch eben so wichtig, daß Sie das rechte Ziel haben. Haben Sie das nicht, so nützt alles Predigen doch nichts, mögen Sie nun das Gesetz oder das Evangelium predigen.

 

Thesis VIII.

Gottes Wort wird viertens nicht recht getheilt, wenn man das Gesetz den schon über ihre Sünden Erschrockenen oder das Evangelium den in Sünden Sicheren verkündigt.

 

Wir haben schon in der ersten Betrachtung unserer Thesen gesehen, worin Gesetz und Evangelium von einander unterschieden sind. Es sind der Unterschiede sechs. Gesetz und Evangelium sind verschieden 1. in Absicht auf die Art und Weise, wie diese Lehren dem Menschen offenbart worden sind; 2. durch den Inhalt, den beide haben; 3. durch die Verheißungen, welche beide haben; 4. durch die Drohungen; 5. durch das Amt und die Wirkungen, die beide Lehren haben, und 6. in Absicht auf das Object, auf die Personen, denen die eine oder andere Lehre gepredigt werden soll. In der Regel wird dieser Unterschied als der letzte genannt, aber nicht darum, weil er der weniger wichtige wäre, denn dieser Unterschied ist ein vor andern höchst wichtiger Unterschied. Er besteht eben darin, daß das Evangelium nur den zerschlagenen, armen, zerknirschten Sündern, das Gesetz aber den sicheren Sündern gepredigt werden soll. Wer es nun umkehrt, der verwechselt beide, und indem er sie verwechselt, vermischt er sie im höchsten Grad gefährlich. Daß dem so ist, davon haben wir uns schon in den ersten Betrachtungen überzeugt aus der Stelle 1 Tim. 1,8-10.: „Wir wissen (S. 94) aber, daß das Gesetz gut ist, so sein jemand recht braucht, und weiß solches, daß dem Gerechten kein Gesetz gegeben ist, sondern den Ungerechten und Ungehorsamen, den Gottlosen und Sündern, den Unheiligen und Ungeistlichen, den Vatermördern und Muttermördern, den Todtschlägern, den Hurern, den Knabenschändern, den Menschendieben, den Lügnern, den Meineidigen, und so etwas mehr der heilsamen Lehre wider ist.“ Wer nämlich durch Christum gerecht ist, dem ist kein Gesetz gegeben, sondern den Ungerechten und Ungehorsamen etc. Diese sind die Objecte des Gesetzes. Wer nun einen armen, zerschlagenen Sünder zum Object des Gesetzes macht, der begeht damit eine schwere Sünde an diesem armen Menschen, denn ihm sollte er das Evangelium predigen. Jes. 61,1-3.: „Der Geist des HErrn HErrn ist über mir, darum hat mich der HErr gesalbet. Er hat mich gesandt, den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden; zu predigen den Gefangenen eine Erledigung, den Gebundenen eine Oeffnung; zu predigen ein gnädiges Jahr des HErrn, und einen Tag der Rache unsers Gottes; zu trösten alle Traurigen; zu schaffen den Traurigen zu Zion, daß ihnen Schmuck für Asche, und Freudenöl für Traurigkeit, und schöne Kleider für einen betrübten Geist gegeben werden.“ „Tag der Rache“ bezeichnet nicht ein Gericht über die Menschen, denn das wäre kein gnädiges Jahr verkündigt, sondern der Sohn Gottes wollte sich rächen an dem Satan, der das menschliche Geschlecht in das Elend gestürzt hatte. Darum ist das eine erfreuliche, tröstliche Botschaft für uns. Hätte uns Gott nicht an dem Satan gerächt, so wären wir verloren. Hätte uns Christus nicht vom Teufel erlöst, so könnten wir nicht fröhlich sein, sondern müßten traurig bleiben. Dann folgen in diesem Spruch lauter bildliche Redensarten, die alle auf die geistlichen Gnadengüter anzuwenden sind. Wir sehen aus diesen Stellen: Nach Gottes Wort soll denen, welche sicher in ihren Sünden leben, kein Tröpflein des evangelischen Trostes gebracht werden; hingegen denen, welche zerbrochenen Herzens sind, sollen auch nicht mit einem Wörtlein Drohungen und Strafen verkündigt werden, sondern nur Verheißungen, Trost und Gnade, Vergebung und Gerechtigkeit, Leben und Seligkeit. So hat es auch unser HErr Christus gemacht. Als jene große Sünderin zu ihm kam, vor den Augen der selbstgerechten Pharisäer vor Christo niederkniete, mit ihren heißen Thränen seine Füße wusch und mit ihren Haaren, mit denen sie gewiß sehr viel Eitelkeit getrieben hatte, die Füße des HErrn trocknete – sie war zerschlagen, sie hatte keinen Trost, sie wandte sich aber zu JEsu, von dem sie erkannt hatte: Das ist der Gnadenthron – was that da der HErr? Nicht ein Wort sagt er von (S. 95) ihren verborgenen Sünden, – denn sie hatte ohne Zweifel in den greulichsten Sünden, in Hurerei gelebt – kein Wort erwähnt er davon! Er spricht einfach: „Deine Sünden sind dir vergeben“, und gibt ihr noch eine kurze Ermahnung: „Sündige hinfort nicht mehr.“ So macht es der HErr mit Zachäus, diesem schändlichen Zöllner, der Land und Leute betrogen hatte, der aber wohl vom HErrn selbst unmittelbar manches gehört hatte oder doch von andern über ihn vieles vernommen hatte. Er hat eingesehen: „So kann es nicht fortgehen, es muß besser werden!“ Als nun der HErr vorbeikommt, da steigt er auf einen Maulbeerbaum, denn er will diesen heiligen Mann sehen. Er denkt aber nicht, daß der HErr ihn sehen wollte. Aber was thut der HErr? Er erblickt ihn auf dem Maulbeerbaume und ruft ihm zu: „Zachäe, steig eilend hernieder, denn ich muß heute in deinem Hause einkehren!“ und geht mit Freuden in sein Haus. Zachäus aber hat gewiß gedacht: „Da wird er mich aber in die Beichte nehmen; da wird er mir zeigen, was ich Böses gethan habe.“ Aber kein Wort von alledem. JEsus sagt vielmehr: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, sintemal er auch Abrahams Sohn ist.“ Und nur Zachäus selbst sagt: „Siehe, HErr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und so ich jemand betrogen habe, das gebe ich vierfältig wieder.“ Der Heiland fordert es nicht von ihm, aber sein Gewissen fordert es von ihm, das erst aufgewacht und das jetzt gestillt war. Aber vor Freude sagt er: „Siehe, HErr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen“ etc. Er hat es ohne Zweifel auch gehalten. Dasselbe sehen wir auch aus dem Gleichniß vom verlornen Sohn. Als er zurückkam, hatte er alles verpraßt und mit Huren seine Güter verschwendet. Als er aber mit zerknirschtem Herzen zu seinem Vater zurückkehrt, was thut da sein Vater? Nicht ein Wort des Tadels geht aus seinem Munde. Er fällt seinem Sohn sogar um den Hals und küßt ihn und ruft: „Laßt uns fröhlich sein, denn dieser mein Sohn war todt und ist wieder lebendig worden; er war verloren und ist gefunden.“ Und nun wird ein Freudenfest veranstaltet, aber kein Wort des Tadels wird dabei gehört. Und was thut der HErr noch am Kreuz? Neben ihm hängt ein Mensch, der bis dahin ein verruchtes Leben geführt hat, der aber durch Christi geduldiges Leiden zur Erkenntniß kommt und sagt: „Wir sind billig in solcher Verdammniß, denn wir empfangen, was unsere Thaten werth sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt.“ Und er wendet sich endlich an den HErrn mit den Worten: „HErr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ Er erkennt: „Das ist der Messias!“ (S. 96) Und was thut der HErr? Er sagt nicht: „An dich soll ich denken? So und so hast du es gemacht“, er hält ihm seine Sünden nicht vor, nein, er sagt nur: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein!“ So zeigt uns der HErr, was wir thun sollen mit einem armen Sünder, der vielleicht noch heute schändlich gelebt hat, aber zerschlagen und zerknirscht ist, voll Schrecken über seine Sünden. Da sollen wir kein Wort des Tadels und der Strafe verlieren, sondern sollen ihn absolviren von seinen Sünden und ihn trösten. Wer das thut, der scheidet zunächst Evangelium vom Gesetz. So haben es aber auch die heiligen Apostel gemacht. Ich erinnere nur an den Kerkermeister zu Philippi. Derselbe stand eben noch im Begriff, Selbstmord zu begehen, eine schreckliche Todsünde zu thun, und da sagt ihm Paulus nur: „Thue dir nichts Uebels, denn wir sind alle hier.“ Er hatte schon Paulus und Silas die ganze Nacht Gott loben und preisen hören und hatte da ohne Zweifel schon eine gute Erkenntniß bekommen. Und nun fordert er ein Licht, fällt Paulus und Silas zitternd zu den Füßen und ruft: „Liebe Herren, was soll ich thun, daß ich selig werde?“ Sie sagen ihm nun nicht: „Du mußt erst das und das thun, du mußt erst Reue empfinden“, nein, sie sagen ihm nur: „Glaube an den HErrn JEsum Christum, so wirst du und dein Haus selig“, laden ihn bloß ein zur Annahme der Gnade; denn der Glaube ist eben weiter nichts als die Annahme der Gnade. Hören Sie nun etwas aus Luther, nicht sowohl Stellen, wo er darauf dringt, daß man armen Sündern das Evangelium rein und lauter verkündigen soll, sondern hören Sie einmal, wie Luther einen Mann getröstet hat, der in eine große, schwere Sünde gefallen war. Es war dies Spalatin, geboren 1482, ein herrlicher Mann, der viel mit geholfen hat an dem Werk der Reformation. Er wurde Kirchenrath des sächsischen Kurfürsten, wohnte zu Altenburg und war ein inniger Freund Luthers. Spalatin nun rieth mit dazu, daß ein Pastor seines verstorbenen Weibes Stiefmutter heirathete, was durchaus gegen Gottes Wort ist, und was um so schrecklicher war, als der Apostel Paulus 1 Cor. 5 einen ähnlichen Fall darstellt und zugleich sagt, es sei das eine solche Hurerei, da auch die Heiden nicht von zu sagen wüßten. Als nun der gute Spalatin Licht darüber bekam, wollte er sich nicht trösten lassen. Luther erfuhr es, daß er ganz tiefsinnig sei. Kein Trost wollte bei ihm haften. Er meinte, nachdem er Gottes Wort so erkannt und Gottes Trost schon so reichlich erfahren habe, so könnte ihm als einem solchen nun kein Trost mehr gelten. Wie tröstete nun Luther diesen Mann? Sie finden den Brief W. X, 2022–2029. Luther schreibt: (S. 97) „Dem ehrwürdigen Herrn in Christo, Herrn Georg Spalatin, Superintendent der Meißenschen Kirchen, dem treuesten Hirten zu Altenburg, seinem im Herrn Geliebten, Gottes Gnade und Friede in Christo und Tröstung des Heiligen Geistes, Amen. Mein allerliebster Spalatin, ich habe ein herzlich Mitleiden mit Euch und bitte unsern HErrn Christum mit Ernst, daß er Euch wolle stärken und einen fröhlichen Muth geben. Ich möchte gerne wissen, frage auch fleißig darnach, was Euer Anliegen sei, oder wie es eine Gelegenheit habe um Eure Schwachheit: so werde ich von etlichen berichtet, es sei nichts anderes, denn Traurigkeit und Schwermuth des Geistes über einen Ehefall, da ein Pfarrherr seines verstorbenen Weibes Stiefmutter gefreit und ihm hat vertrauen lassen. Ist dem also, so bitte ich Euch mit höchstem Fleiß um unsers HErrn Christi willen, Ihr wollet ja auf Euch selbst und Eures Herzens Gedanken und Fühlen nicht stehen; sondern mich, Euren Bruder, der in Christi Namen mit Euch redet, hören, wo nicht, so wird die Traurigkeit überhand nehmen und Euch tödten, nach dem Wort St. Pauli, 2 Cor. 7,10.: „Die Traurigkeit der Welt wirket den Tod“, wie ich an mir selbst oft, und Anno 1540 auch an Magister Philipp zu Weimar erfahren habe, welchen in des Landgrafen Sache die Schwermuth und Traurigkeit schon hingerichtet hatte; aber Christus weckte ihn wieder auf durch meinen Mund. Nun, gesetzt auch, daß Ihr hierin gesündigt habt, und sei die Schuld zum Theil Euer, weil Ihr vielleicht solche Ehe gebilligt.“ Luther sagt also: Ich will zugeben, Ihr habt hierin eine schwere Sünde begangen. Er hatte ja die Ehe gebilligt, hatte dazu gerathen, daß die Ehe geschlossen würde. – „Ja, ich will weiter sagen, ob Ihr gleich mehr und größere Sünden in diesem und andern Fallen begangen hättet, denn Manasse, der König Juda’s, dessen Aergernisse und Frevel nicht geheilt werden konnten die ganze Zeit seiner Nachkommenschaft hindurch bis zur Zerstörung Jerusalems, während doch Euer Aergerniß ganz leicht ist, zudem auch zeitlich und derhalben ihm wohl zu rathen: es sei aber gleich, sage ich, daß Ihr Schuld daran hättet, wolltet Ihr Euch darum zu Tode bekümmern und durch diesen Mord Euch an Gott noch greulicher versündigen?“ – Er will sagen: Diese Ehe kann wieder getrennt werden, denn sie ist gar keine rechte Ehe. Die Sünde wäre größer wenn er jetzt an Gottes Gnade verzweifelte, als die war, daß er die Ehe hatte zu schließen gerathen; denn die schrecklichste Sünde ist immer, an Gottes Gnade zu verzweifeln, denn das heißt immer: Gott zum Lügner machen. – „Es ist übrig genug, daß Ihr Euch hierin vergriffen habt; so lasset doch die Sünde nicht an Euch bleibend, sondern vorübergehend (S. 98) sein und lasset ab von der Traurigkeit, die eine noch viel größere Sünde ist.“ – Daß er nämlich nicht ablassen will von dieser Traurigkeit. – „Höret den seligen Trost, den der HErr Euch vorhält durch den Propheten, da er spricht Ezech. 33,11.: „So wahr ich lebe, ich habe keinen Gefallen an des Sünders Tode, sondern daß er sich bekehre und lebe.“ Meinet Ihr denn, des HErrn Hand sei allein bei Euch zu kurz geworden? Jes. 59,1. Oder hat er allein an Euch aufgehört, gnädig und barmherzig zu sein? Ps. 77,10. Oder seid Ihr der erste, der es durch seine Sünde so übel ausgerichtet hat, daß wir nunmehr keinen Hohenpriester haben, der da könnte Mitleiden haben mit unserer Schwachheit? Oder dünkt es Euch wunderbar neu, daß ein Mensch, so im Fleische lebt und mit so vieler Teufel unzähligen Pfeilen umgeben ist, zuweilen verwundet oder zu Boden gefällt wird?“ – Luther will sagen: Was wunderst du dich denn, daß du einen so tiefen Fall gethan hast? Das kommt vor. Schrecklich ist nur, daß wir nicht wieder aufstehen wollen, daß wir nicht als verlorne, verdammte Sünder zum Gnadenstuhl kriechen wollen. „Ihr scheint mir, mein lieber Spalatin, im Streit wider Sünde, bös Gewissen, Gesetz und Schrecken des Todes noch wenig erfahren zu sein; oder der Satan hat Euch aus den Augen und Gedächtniß gerückt allen Trost, so Ihr je in der Schrift gelesen habt, dadurch Ihr außerhalb der Anfechtung, gerüstet aufs allerbeste, Euch habt zu erinnern gewußt, was Christi Amt und Wohlthaten seien; ja, er hat Euch alle Eure schönen christlichen Predigten von Gottes Gnade und Barmherzigkeit, in Christo uns erzeigt, damit Ihr andere gelehrt, ermahnt und getröstet habt mit fröhlichem Geiste und großem, freudigem Muthe, aus dem Herzen gerissen. Oder Ihr seid sicherlich bisher nur ein schwacher Sünder gewesen, der sich nur ganz geringer und kleiner Fehler und Schwachheiten bewußt war.“ – Luther kann es sich nur auf zweierlei Weise erklären bei Spalatin, daß er jetzt so untröstlich ist. Entweder hat er früher nicht genug seinen Sündenjammer und seine Noth erkannt, nicht gesehen, was er für ein großer Sünder von Natur sei, und nun hätte erst müssen so ein grober Fall kommen, daß er sähe, was er für ein großer Sünder sei; oder der Satan müßte ihm allen Trost verdecken, daß er ihn nicht sahe. Wenn du hättest recht verstanden, wie schrecklich das Verderben deines Herzens Gott gegenüber ist, so würdest du nicht so untröstlich sein, denn du würdest denken: Ja, die Quelle ist so bös, darum haben solche Wasser daraus fließen müssen. – „Derhalben ist meine treue Bitte und Vermahnung, Ihr wollet Euch gesellen und halten zu uns, die wir rechte, große und hartgesottene Sünder sind.“ – Spalatin sollte in die Gesellschaft kommen, wo rechte, große und verdammte Sünder sind, und es erschien (S. 99) ihm, als gehörte er selbst dahin. – „Damit Ihr uns Christum ja nicht klein und gering machet, als der allein von erdichteten, schlechten, kindischen Sünden könnte helfen.“ – Wenn wir unsere Sünde gering machen, so machen wir Christum gering. Das heißt dann so viel als: Er kann wohl kleine Sünden vergeben, aber große nicht. – „Nein, nein, das wäre nicht gut für uns, sondern er ist der Heiland und Erlöser von rechten, großen, schweren, verdammten Uebertretungen und Missethaten, ja, von den allergrößten und ärgsten, und in Summa, von allen Sünden mit einander.“ Wer eine solche Sünde begangen hat und achtet sie nicht, dem kann Christus nicht helfen, wer sie aber achtet, dem ist schon geholfen. – „Auf diese Weise tröstete mich einst D. Staupitz, da ich auch einmal eben in diesem Spital und gleicher Anfechtung krank lag, wie Ihr jetzt.“ –Luther ging selbst zu Staupitz und klagte ihm seine Noth. Er ist nie in grobe, offenbare Sünden gefallen, er hatte es vor allem mit Herzenssünden zu thun. Gott hatte ihm da ein übergroßes Maß der Erkenntniß des menschlichen Verderbens gegeben. – „Ei, Ihr wollt, sagt er, ein gemalter Sünder sein und derhalben Christum nur für einen gemalten Heiland haben.“ – Einen gemalten Heiland will ich nicht haben; darum darf ich mich nicht wundern, wenn ich ein echter und rechter und wirklicher Sünder bin. – „Ihr müßt Euch recht gewöhnen, zu glauben, daß Christus ein wahrer Heiland sei, und Ihr dagegen ein wahrer Sünder seid. Denn Gott scherzet nicht, geht auch nicht mit erdichteten Dingen um; sondern es ist ihm ein rechter, großer Ernst gewesen, da er seinen einigen Sohn in die Welt gesandt hat und für uns alle dahingegeben etc., Röm. 8,32. Joh. 3,16. Diese und dergleichen Gedanken (aus den Trostsprüchen der Schrift geschöpft) hat Euch der leidige Satan aus dem Gedächtniß entzogen, daß Ihr Euch derselben jetzt in Eurer großen Angst und Schwermuth nicht erinnern könnt. Darum reichet doch um Gottes willen Eure Ohren her und höret, Bruder, doch, wie ich, Euer Bruder, fröhlich singe, der ich außerhalb Eurer Traurigkeit und Schwermuth stehe, und stark bin, und zwar darum stark, auf daß Ihr, der Ihr schwach seid und vom Teufel gejagt und erschreckt, Euch auf mich stützen und aufrichten möget, bis daß auch Ihr, wieder aufgerichtet, dem Teufel könnet Trotz bieten und getrost singen: „Man stößet mich, daß ich fallen soll, aber der Herr hilft mir“, Ps. 118,13. Gedenkt doch jetzt, ich sei Petrus, der Euch die Hand reiche und zu Euch spräche: „Im Namen JEsu, stehe auf und wandle“, Apost. 3,6. Ach, mein lieber Spalatin, höret doch und glaubt den Worten, die Christus durch mich zu Euch redet.“ – Christus redet durch mich, weil ich Euch sein Wort vorhalte. – „Denn ich irre ja nicht, das weiß ich“ – Luther (S. 100) bezieht das nicht auf seine Person, sondern weil er ihm Gottes Wort vorhält; darum steht Christus in ihm vor Spalatin und redet zu ihm – „viel weniger rede ich etwas teuflisch, sondern Christus redet durch mich (weil ich Euch sein Wort vorhalte), und gebietet Euch, daß Ihr Eurem Bruder in gemeinsamem Glauben gehorchen und glauben sollt. Er selbst absolvirt Euch von dieser und allen Sünden, so werden wir denn theilhaftig Eurer Sünden und helfen sie Euch tragen.“ – Wenn ein Prediger gebeichtete Sünden absolvirt, so nimmt er diese Sünden mit auf sein Gewissen. Er kann es aber getrost thun; denn der zu ihm kam, hat ihm vielleicht die greulichsten Sünden gebeichtet mit zerschlagenem Herzen, da kann er ihn getrost absolviren und kann sagen: Das will ich verantworten vor Gott an jenem großen Tage, und Er wird sagen: „Recht so, denn er kam zu dir mit gebrochenem Gewissen, und da gehörte ihm nichts, als das Evangelium.“ – „Darum sehet zu, daß Ihr auch mit uns theilnehmt an unserm Troste, der wahrhaftig, gewiß und beständig ist; vom HErrn selbst uns geboten, daß wir ihn Euch mittheilen sollen, und auch Euch geboten, daß Ihr ihn von uns sollt annehmen. Denn gleichwie es uns zu Herzen gehet, daß Ihr so jämmerlich mit schwerer Traurigkeit gepeinigt werdet: also hat er noch ein viel größeres Mißfallen daran (denn er ist gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Güte, und reuet ihn bald der Strafe, Joel 2,15.).“ – Du sollst theilhaftig werden unserer Sünden, aber sollst auch theilhaftig werden unseres Trostes. Gott hat keinen Gefallen daran, wenn man zerknirscht ist und man sich mit Fleiß abmüht, in dieser Zerknirschung und Reue zu bleiben. Nein, hat uns der Hammer des Gesetzes zerschlagen, dann sollen wir auch von Mose fliehen und zu Christo gehen; das ist der rechte Weg. – „Darum weiset doch nicht den zurück, der Euch tröstet und den Willen Gottes verkündet, und Eure Traurigkeit und Schwermuth, als des Satans Plagen, haßt und verdammt. Gestattet dem Teufel ja nicht, daß er Euch Christum anders male und vorbilde, denn er in Wahrheit ist; sondern glaubt der Schrift, die von ihm zeugt, er sei dazu erschienen, daß er die Werke des Teufels zerstöre“, 1 Joh. 3,8. Eure Schwermuth ist ein Werk des Teufels, das Christus zerstören will, so Ihr’s anders nur zuließet. Ihr habt Angst genug gehabt, Ihr seid traurig genug gewesen, Ihr habt genug, ja mehr denn genug gebüßt (darum schlagt den Trost nicht aus, laßt Euch helfen etc.).“ – Eine wunderschöne Exegese! Unter den Werken des Teufels versteht man gewöhnlich die schrecklichen, groben Sünden, aber Luther versteht darunter auch den Zweifel und die Schwermuth als die größte Sünde. Christus ist nicht gekommen, um uns mit Traurigkeit zu erfüllen, sondern mit Friede und Freude in dem Heiligen Geist. – „Sehet (S. 101) doch, mein lieber Spalatin, wie aus treuem Herzen ich mit Euch handle und rede. Ich will’s für die höchste Gunst annehmen, die mir von Euch widerfahren kann, so Ihr diesem meinem Trost, das ist, des HErrn Christi selbst Absolution, Vergebung, Auferweckung, bei Euch Statt gebet“, – das ist der Dank, den er begehrt für diese Mühe, daß er sich hingesetzt hat und gewiß unter herzlichem Flehen zu Gott diesen Brief zusammengesetzt hat, und noch dazu unterwegs (er ist datirt von Zeitz) – „welches, so Ihr’s thut, werdet Ihr, wenn sich’s mit Euch bessert, selbst sagen und bekennen müssen, daß Ihr dem HErrn mit solchem Gehorsam das liebste, angenehmste Opfer geleistet habt; wie geschrieben steht Ps. 147,11.: „Der HErr hat Gefallen an denen, die ihn fürchten, die auf seine Güte hoffen.“ (Item, Ps. 34,19.: „Der HErr ist nahe bei denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die zerschlagenes Gemüth haben“; und Ps. 51,19.: „Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist; ein geängstet und zerschlagen Herz wirst du, Gott, nicht verachten.“) Darum fahre immerhin und trolle sich der leidige Teufel mit seiner Traurigkeit, welcher uns Eurethalben hart betrübet hat, wollte auch gern unsre Freude, so wir im HErrn haben, zerstören; ja, so er könnte, uns alle auf einmal verschlingen; aber Christus, unser HErr, strafe ihn und wird ihn strafen, welcher Euch durch seinen Geist stärke, tröste und erhalte. Amen. Tröstet auch Ihr Euer Weib mit diesen und besseren Worten; einen zweiten Brief zu schreiben, fehlt mir leider die Zeit. Zeitz, den 21. August, Anno 1544. Euer Martin Luther.“ Ich wollte Ihnen den Brief in extenso mittheilen. Ich hoffe, daß er Ihnen so gut gefallen hat, daß Sie ihn oft wieder lesen. Und besonders denken Sie daran, wenn einmal während Ihrer Amtswirksamkeit ein so betrübter, trostloser Sünder zu Ihnen kommt. Dann lesen Sie diesen Brief und bereiten Sie sich recht vor, einen solchen Sünder recht evangelisch zu behandeln. Luther gibt zu, daß Spalatin gesündigt habe, aber er wußte: Jetzt gilt es um Gottes willen, nichts zu sagen, was wie ein Pfeil in das Herz des armen Spalatin fahren möchte. Nun hören Sie einen Brief, den Luther schon im Jahre 1516 geschrieben hat an einen Augustinermönch Spenlein, der wegen seines Gnadenstandes nicht zur Ruhe kommen konnte. Er war auch früher im Augustinerkloster zu Wittenberg gewesen. Nach der Ansicht aller, die Luthers Werke kennen, ist das ein ganz herrlicher Brief. Man wundert sich, daß er damals schon so schreiben konnte. Es ist lauter Gold und Honig! – Luther schreibt also an Georg Spenlein (W. XXI, 529 ff.): „Ich möchte gerne wissen, wie es um Eure Seele stehet, ob sie einmal ihrer eigenen Gerechtigkeit satt habe und begehre in Christi Gerechtigkeit (S. 102) fröhlich und getrost zu sein. Denn heutiges Tages gehet die Versuchung der Vermessenheit in vielen stark um und sonderlich in denen, die aus aller Macht gerecht und fromm sein wollen, und die Gerechtigkeit Gottes nicht wissen, die uns in Christo auf das allerreichlichste und umsonst geschenket ist, folglich in sich selbst so lange Gutes zu thun suchen, bis sie Zuversicht gewinnen, vor Gott zu bestehen als Leute, die nun mit Tugenden und Verdiensten recht geschmückt wären, welches doch unmöglich geschehen kann. Ihr seid bei uns in dieser Meinung, ja Irrthum, gewesen, ich auch. Ich streite aber auch noch wider diesen Irrthum, und bin ihn noch nicht ganz los geworden. – Darum, mein lieber Bruder, lernet Christum, und zwar den gekreuzigten: lernet ihm lobsingen, und an Euch ganz verzweifeln.“ – Er will sagen: „Wundert Euch nicht, daß Ihr nichts Würdiges an Euch findet, sondern lauter Sünde. Lernt doch Christo lobsingen und an Euch ganz verzweifeln, als an einem Menschen, an dem nichts Gutes zu finden ist, außer wenn Gott einmal etwas Gutes durch ihn gethan hat.“ Er soll nicht darnach trachten, daß er eine solche eigene Gerechtigkeit suche zu bekommen, daß er nicht mehr scheine ein Sünder zu sein. Das wäre eine Frechheit, wenn er Gottes Wort kannte; es wäre eine Verleugnung des Erlösers. – „Zu ihm aber saget: Du, mein HErr JEsu, bist meine Gerechtigkeit, ich aber deine Sünde. Du hast die meinige angenommen und mir die deinige gegeben: Du hast angenommen, was du nicht warest, und mir gegeben, was ich nicht war. Hüte dich, daß du nicht immer nach einer so großen Gerechtigkeit trachtest, darinnen du dir nicht mehr ein Sünder scheinen, ja sein wolltest. Denn Christus wohnet nur in Sündern.“ – Walch macht eine Anmerkung dazu, aber das versteht sich von selbst, was damit gemeint ist. Die, welche freche Sünder find, wollen eben keine Sünder sein. Die denken: „Das ist menschliche Schwachheit! Der Mensch ist einmal so geboren.“ Und wenn sie manchmal fromm thun, so ist das lauter Heuchelei. „Wir sind solche arme Sünder“, sagen sie; da meinen sie nicht die Sünden, von denen die heilige Schrift redet. Sie sagen wohl: „Wir sind einmal auch solche schwache Menschen“, und der eine säuft, der andere hurt, der andere stiehlt! Das soll alles nur eine Schwachheit sein! Aber Christus wohnt wahrlich nur in Sündern, die nämlich in ihren Augen Sünder sind. Erst hat Christus unter den Engeln gewohnt, nun wollte er auch einmal in den Sündern wohnen. Dazu kam er auf diese Erde. – „Denn darum ist er vom Himmel herabgekommen, wo er in den Gerechten wohnte, daß er auch in den Sündern wohnte. Solcher seiner Liebe denket nach, so werdet ihr seinen allersüßesten Trost sehen. Denn wo wir durch eigene Mühe und Plage zur Ruhe des Gewissens kommen (S. 103) müssen, wozu ist er denn gestorben?“ – Ein herrliches Wort! Wer Unruhe hat wegen seiner Sünden, der ist ein Narr, wenn er nicht eiligst zu Christo flieht und wenn er denkt: „Mein böses Gewissen zeigt ja an, daß ich nicht zu Gott kommen soll.“ Nein, das zeigt es an: Du sollst zu JEsu kommen, und dann wirst du ein fröhliches Gewissen bekommen, daß du bei Tag und auch bei Nacht, wenn du aufstehst und wenn du dich niederlegst, kannst Gott preisen mit fröhlichem Herzen. Denn wozu ist Christus für dich gestorben? Also, wenn du siehst, daß du noch die und die Sünde begangen hast, und du weißt keinen Rath – und du sollst auch keinen wissen aus dir selbst, aber es ist einer, der weiß Rath – dann gehe nur zu JEsu! – „Darum sollet Ihr nur in ihm durch getroste Verzweiflung an Euch selbst und Euren Werken Frieden finden.“ – Ein merkwürdiges Wort: „Durch getroste Verzweiflung an Euch selbst!“ Und doch ist es wahr! Wenn ein armer Sünder sich ansieht, so ist er verzweifelt; wenn er JEsum ansieht, so ist er getrost. – „Lernet auch von ihm, daß, wie er selbst Euch angenommen und Eure Sünden die seinen gemacht, und seine Gerechtigkeit zu der Eurigen; also auch Ihr ihm das fest glaubet, wie sich’s gebühret; denn verflucht ist, wer das nicht glaubet!“ Das ist das allerschönste Evangelium, welches ich predigen kann. Denn damit ist gesagt: Christus ist für jeden gekommen, jedes Menschen Sünde hat er getragen, jeden ruft er zu sich, jeder soll an ihn glauben, jeder soll sich seiner freuen und gewiß sein, daß ihm alle Sünden vergeben sind, soll gewiß sein, wenn er stirbt, daß er selig sterben werde.


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