Gottes Offenbarung
Votivtafel zum Dank für geheilte Augen

Gottes Offenbarung

(eng angelehnt an einen Text vom Blaise Pascal)

 

Ich habe kürzlich einen Radiobeitrag gehört, in dem ein Religionskritiker bestritt, dass Gott „offenbar“ sei. Er meinte, die Anhänger der Religion behaupteten das zu Unrecht. Denn wenn Gott sich wirklich offenbart hätte, dürfte es nicht so viele verschiedene Religionen geben. Wäre Gott so gut zu erkennen wie andere Dinge, müsste man nicht über ihn streiten. Und dem Umstand, dass so Widersprüchliches über Gott gesagt werde, könne man entnehmen, dass er eben nicht so „offenbar“ sei und nicht so klar erkennbar wie andere Dinge. Was für jeden Menschen augenfällig sei, darüber könne man sich schnell einigen, meinte der Mann. Und wenn das bei Gott nicht gelänge, müsse es eben daran liegen, dass er keineswegs so „offenbar“ sei, wie die Religionen das behaupten. Jener Kritiker hielt das für ein schlagendes Argument. Mich aber verblüffte seine Unkenntnis. Denn er verwechselte ja in grober Weise „offenbar“ mit „offensichtlich“ – was in den Religionen niemand tut. Gläubige Menschen behaupten keineswegs, Gott sei in der Welt „offensichtlich“. Denn „offensichtlich“ nennen wir das, was auch der größte Trottel nicht übersehen kann. Über das „Offensichtliche“ muss jeder stolpern, der seine fünf Sinne beieinander hat. Doch Gottes Offenbarung ist da völlig anders, weil sie dem, der sie leugnen will, sehr wohl erlaubt, sie zu leugnen. Wer die Offenbarung übersehen will, kann das tun. Und wenn einer Gotteserkenntnis gar nicht sucht, zwingt sie sich ihm auch nicht auf. Natur und Geschichte weisen zwar deutlich auf Gott hin (Röm 1,18-20). Aber der Mensch kann sich weigern, diesen Hinweisen zu folgen. Die Heilige Schrift zeugt ausführlich von Gott. Aber wer will, kann unterstellen, das seien bloß Gedanken und Worte antiker Autoren. Der Heilige Geist erweist sich in den Gläubigen als überaus lebendig. Aber wer möchte, kann deren religiöses Erleben profan und psychologisch deuten. Gottes Offenbarung erschließt sich überhaupt nur dem, den Gott selbst zur Wahrnehmung seiner Offenbarung befähigt. Denn Gottes Wort schafft selbst die Ohren, die es hören können. Gottes Licht öffnet selbst die Augen, die es dann erleuchtet. Und bei Menschen, die nicht nach ihm fragen, tut Gott das eher selten. Denn während er sich offenbart ist seine Absicht gerade nicht, „offensichtlich“ und für jeden „unübersehbar“ zu werden. Sondern er begegnet uns auf eine solche Weise, dass die Begegnung immer bestritten werden kann – und zugleich so, dass die Begegnung entweder Gemeinschaft begründet oder das Gegenüber von dieser Gemeinschaft ausschließt. Gott manifestiert sich nicht einfach. Er „entblößt“ sich nicht, um anschließend begafft und beurteilt zu werden. Sondern er gibt sich so zu erkennen, dass er damit den Menschen in die Entscheidung zwingt. Denn das Ziel seiner Offenbarung ist nicht allein, den Empfänger über etwas zu „informieren“, sondern diesen Empfänger zu sich neu in Beziehung zu setzten. So hinterlässt Gott zwar reichlich Spuren in unserem Leben. Aber er zwingt uns nicht, diese Spuren zu lesen. Er legt uns seine Offenbarung schriftlich vor – in dem jedermann zugänglichen Dokument des Neuen Testaments. Aber nicht jeder, der hineinschaut, wird automatisch klüger. Und so ist Gott in dieser Welt weder „erkennbar“ für alle noch „unerkennbar“ für alle. Er ist aber immer erkennbar genug, dass ihn jene, die ihn beharrlich suchen, auch finden können. Und diese Eigenart der Offenbarung, dass sie deutlich ist und doch bestreitbar bleibt, ist nicht etwa als Mangel anzusehen, wie Religionskritiker gern unterstellen. Es liegt nicht daran, dass Gott seine Offenbarung nicht deutlicher hinbekommen hätte. Sondern es entspricht einfach seiner Absicht, sich manchen Menschen zu verbergen und sich anderen zu offenbaren (Mt 13,10-15; Joh 12,37-40; Mk 4,10-12; Apg 28,26-27). Blaise Pascal hat das wunderbar erklärt. Er sagt, Gott wollte die Menschen erlösen und wollte denen das Heil eröffnen, die es suchen würden. Aber die Menschen machten sich dessen so unwürdig, dass es nur gerecht ist, wenn er einigen wegen ihrer Verstocktheit versagt, was er anderen schenkt. Hätte Gott die Hartnäckigkeit auch der Verstocktesten überwinden wollen, so hätte er das natürlich gekonnt. Er hätte sich nur so drastisch und direkt offenbaren müssen, wie er es einst am Jüngsten Tag tun wird, wenn er sichtbar in himmlischem Glanz mit all seinen Engeln erscheint. Doch weil sich so viele Menschen der Gnade unwürdig machen, beschloss Gott, sie das Gut entbehren zu lassen, nach dem sie nicht streben. Und dieser Absicht hätte es nicht entsprochen, wenn Gott in einer Weise „offensichtlich“ würde, die zwangsläufig auch den verbohrtesten Heiden überzeugt. Es wäre aber ebensowenig angemessen, wenn Gott derart verborgen bliebe, dass auch die aufrichtig Suchenden ihn nicht finden könnten. Gottes Absicht war ja, sich denen zu entziehen, die ihn ablehnen, und sich denen zu zeigen, die ihn suchen. Und seine Offenbarung – wie wir sie heute kennen – ist dafür perfekt geeignet. Denn sie ist hell und deutlich genug für alle, die Gott kennen möchten. Und sie ist dennoch dunkel genug für alle, die Gott leugnen und sich gegen ihn verschließen möchten. Pascal sagt:

„Für diejenigen, welche nichts begehren als zu sehen, ist genug Licht da, und genug Finsternis für diejenigen, die eine entgegengesetzte Neigung haben. Es ist genug Klarheit da, um die Erwählten zu erleuchten, und genug Dunkelheit, um sie zu demütigen; genug Dunkelheit, um die Verworfenen blind zu machen, und genug Klarheit, um sie zu verdammen und ihnen alle Entschuldigung zu benehmen. Wäre die Welt nur dazu da, um den Menschen von dem Dasein Gottes zu belehren, so würde seine Gottheit darin von allen Seiten auf eine unbestrittene Weise hervorleuchten. Aber da sie nur da ist durch Christum und für Christum und um die Menschen zu belehren über ihr Verderben wie über die Erlösung, so glänzt alles darin von Beweisen für diese beiden Wahrheiten. Was darin zur Erscheinung kommt, zeigt weder ein gänzliches Ausgeschlossen-Sein noch ein offenbares Gegenwärtig-Sein der Gottheit, sondern das Gegenwärtig-Sein eines Gottes, der sich verbirgt.“

Hielte Gott es für richtig, alle Sünder zu verwerfen – wie sie’s von Rechts wegen verdienen –, hätte er sich einfach gar nicht geoffenbart (außer zum Vollzug des Gerichts). Hielte Gott es für richtig, unterschiedslos alle Sündern durch seine Barmherzigkeit zu retten, hätte er sich noch viel deutlicher offenbart (und hätte damit jedem seine Gnade aufgedrängt). Doch so wie es nun wirklich ist, dass Gottes Offenbarung jedem zugänglich wird, ohne deswegen zwingend zu sein, so ist es genau passend eingerichtet, um Gottes Absicht zu verwirklichen – dass nämlich jeder Mensch Farbe bekennen muss, indem er entweder Gottes Hinweisen nachgeht oder sie ignoriert, entweder Gottes Gemeinschaft sucht oder sie bewusst meidet. Wäre Gott in der Welt zu offensichtlich, könnte ihn keiner meiden. Und wäre Gott ganz und gar verborgen, könnte ihn keiner suchen. Stünde er unübersehbar vor aller Augen, müssten das auch die zugeben, die ihn hassen. Und gäbe es keine Indizien für sein Dasein, würden auch die Gläubigen nicht wagen, auf Gott zu bauen. So aber, wie es nun ist, bleibt es gleichermaßen ein Wagnis mit Gott zu rechnen wie nicht mit ihm zu rechnen. Gott gibt sich in der Weise zu erkennen, dass er uns die Möglichkeit lässt, ihn zu bestreiten. Und dadurch ist nun jeder Mensch gezwungen, sich auf eine Seite zu schlagen. Was unser moralisches Handeln betrifft, verhält es sich übrigens ähnlich. Würden in dieser Welt die guten Taten sofort belohnt und die bösen Taten immer gleich bestraft, täten bald alle Menschen nur noch das Gute – und hätten praktisch keine Wahl. Doch niemand wüsste dann, ob sie aus guter Neigung das Gute tun – oder bloß aus Berechnung. So aber, wie es sich in der Welt tatsächlich verhält, dass böse Taten oft ungestraft bleiben und gute Taten oft nicht belohnt werden, so verrät unser Verhalten viel eher, wohin unser Herz sich neigt. Und eine ganz ähnliche Situation schafft Gott durch seine gebrochene Erkennbarkeit in dieser Welt. Er offenbart sich nicht dauernd in allem und jedem. Er offenbart sich aber manchmal in manchem. Er nimmt uns damit weder die Möglichkeit, seine Autorität zu bestreiten, noch die Möglichkeit, sie anzuerkennen. Und so erlaubt er denen, die ihn meiden, dass sie ohne ihn leben. Und er erlaubt denen, die nach ihm verlangen, mit ihm in Gemeinschaft zu treten. Wer nicht glauben will, sieht in Christus nur einen Menschen. Doch vom Heiligen Geist erleuchtet sehen Christen in ihm den Sohn Gottes. Wer nicht glauben will, sieht im Neuen Testament nur antike Schriftstellerei. Doch wer sich dem Heiligen Geist öffnet, liest und hört darin Gottes Wort. Wer skeptisch sein will, findet im Abendmahl nur gewöhnliches Brot und Wein. Doch wer glaubt, empfängt dankbar Christi Leib und Blut. Möchte einer das ganze Christentum auf profane Weise erklären, bleibt ihm das unbenommen. Doch auch das Gegenteil bleibt jederzeit möglich – mit guten Argumenten. Und in jedem Fall besagt die Stellungnahme des Menschen zum Christentum mehr über ihn als über das Christentum. Denn eben dazu hat Gott es vermieden „offensichtlich“ zu sein, dass das Wesen jedes Menschen zu Tage trete. Und er hat es bewusst so eingerichtet, dass der Mensch in der Begegnung mit der Offenbarung verrät, wohin es ihn innerlich zieht. Weder die Vernunft noch die Offenbarung zwingen ihn. Sie nehmen ihm die Entscheidung nicht ab, denn die Optionen „pro“ und „contra“ bleiben begründbar und bestreitbar. Glauben wie Unglauben muss der Mensch „wagen“. Und mag er diesen ungesicherten Zustand auch ärgerlich finden, ist es doch von Gott bewusst so eingerichtet – und dürfte gar nicht anders sein. Denn Vernunft und Offenbarung sollen dem Einzelnen die Entscheidung nicht abnehmen, sondern ihn in die Entscheidung zwingen. Wollte Gott es anders, fiele es ihm leicht, die Welt mit Beweisen seines Dasein zu überfluten, damit alle zu überzeugen und jeden Zweifel verstummen zu lassen. Doch das will er offensichtlich nicht. Sondern er will einen Teil der Verstockten ihrer Verstockung preisgeben, auf dass sie ihren unglückseligen Weg ungestört zu Ende gehen. Pascal sagt:

„Jesus Christus ist gekommen, damit die, welche nicht sahen, sehen sollten, und die da sahen, blind würden, er ist gekommen zu heilen die Kranken und sterben zu lassen die Gesunden, die Sünder zur Buße zu rufen und sie zu rechtfertigen, die aber, welche sich für gerecht hielten, in ihren Sünden zu lassen, die Hungrigen mit Gütern zu füllen und leer zu lassen die Reichen.“

Wollte Gott alle Menschen blind machen, so gäbe es keine Offenbarung. Wollte er alle sehend machen, so gäbe es eine unwidersprechliche Offenbarung. Da er aber die einen blind und die anderen sehend machen will, gibt es eine Offenbarung, die vor den Ungläubigen das meiste verborgen hält – und doch den Gläubigen mehr als genug verrät. Wünschte Gott das anders, so wäre es anders. Wollte er, so könnten wir unseren Glauben den Anhängern der Vernunft mit Vernunftmitteln beweisen – und sie damit „zu ihrem Glück zwingen“. Wir können es aber nicht, weil wir es nicht können sollen. Gott hat andere Pläne. Und darum hat er sich offenbart, ohne dabei „offensichtlich“ zu werden. Was meinen wir also, wenn wir von Gottes Offenbarung reden? Folgt man einfach dem Wortsinn, so wird ein Sachverhalt, der vorher verdeckt und verhüllt war, durch die „Offenbarung“ aufgedeckt und enthüllt. Offenbarung entfernt das, was bisher die Sicht behinderte, und lässt dadurch Verborgenes sehen. Sie nimmt sozusagen die Decke weg, unter der etwas zum Vorschein kommt. Im biblischen Zusammenhang muss man aber gleich ergänzen, dass es sich in doppeltem Sinne um eine „Selbstoffenbarung“ handelt, weil Gott sowohl das Subjekt als auch das Objekt der Enthüllung ist. Er selbst ist der, der offenbart – die Initiative liegt ganz bei ihm. Und er ist zugleich das, was offenbar wird. Gott kontrolliert den Prozess, in dem er sowohl der Enthüllende wie auch der Enthüllte ist. Er zeigt dabei aber nichts anderes als sich selbst in seiner Beziehung zu uns. Und er tut das nicht bloß, damit wir es wie eine neutrale Information zur Kenntnis nehmen. Sondern er teilt sich uns mit, um unsere bis dahin unbewusste und ungesunde Gottesbeziehung durch eine ganz andere und viel bessere zu ersetzen. Offenbarung deckt also eigentlich keinen „Sachverhalt“ auf, sondern stellt mir eine Person gegenüber. Und indem der Mensch die anschaut, entdeckt er, dass er da selbst von einem lebendigen Gegenüber angeschaut wird. Er kann Gott nicht betrachten, ohne zugleich von Gott betrachtet zu werden. Und in dieser überraschenden Situation erfährt er nicht nur neu, wer Gott ist, sondern auch, wer er selbst ist. Denn angesichts der Strenge Gottes wird dem Menschen plötzlich seine Sünde bewusst. Und angesichts der Güte Gottes entdeckt er bei sich selbst die Möglichkeit des Glaubens. Gotteserkenntnis führt ihn unverhofft zu der Selbsterkenntnis, dass er dies lebendige Gegenüber bisher weder in seinem Denken noch in seinem Handeln angemessen berücksichtigt hat. Und damit bringt ihn Gottes Offenbarung in Zugzwang, sich diesem Gott nun entschieden zuzuwenden – oder sich mit aller Konsequenz von ihm abzuwenden. Indem Gott sich „sehen“ lässt, verschafft er sich Geltung. Er fördert aber zugleich zu Tage, was im Menschen steckt. Er öffnet uns die Augen. Doch zu dem, was wir da sehen, müssen wir uns dann auch verhalten. Und so führt Gottes Offenbarung immer auch zu einer Offenbarung des Menschen, der so oder so Farbe bekennt – sich im Glauben öffnet oder im Unglauben verhärtet. Es ist dieselbe Sonnenglut, die das Wachs weich macht und den Ton hart. Und so zeigt Gottes Offenbarung bei jedem Menschen, aus welchem Stoff er gemacht ist. Sie bringt nicht nur ans Licht, wer Gott ist, sondern immer auch, wer wir sind. Denn eben darauf hat es Gott abgesehen, die Beziehung zwischen ihm und uns zu klären. Und – an diesem Ziel gemessen – dürfte die Offenbarung gar nicht anders sein, als sie es ist. Nämlich deutlich genug für alle, die Gott suchen. Und dunkel genug für alle, die sich lieber gegen ihn verschließen. 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Portuguese ex-voto, dated 1798, reading:

"Miracle performed by Saint Lucy unto a devotee whose eyes were ailing,

bringing him back to health in the year 1798."

Autor unbekannt, Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons