Gottes Heiligkeit

Gottes Heiligkeit

Wenn jemand behauptet, dass Gott „heilig“ sei, dann sagt er damit wenig Überraschendes und muss auch kaum mit Widerspruch rechnen. Denn selbstverständlich ist Gott „heilig“. Und alles, was sonst noch „heilig“ genannt wird, verdankt dieses Prädikat seiner besonderen Beziehung zu ihm. Denn Gott selbst ist „heilig“ auf ursprüngliche Weise. Und das, was er „geheiligt“ hat, ist „heilig“ auf abgeleitete Weise, weil Gott sich seiner bedient. Wir reden in diesem Sinne z.B. von der „heiligen“ Schrift, vom „heiligen“ Abendmahl und von „heiligen“ Menschen. Doch was besagt der Begriff in seiner Anwendung auf Gott selbst? Was ist der Inhalt des Wortes? Enthält es überhaupt eine Information, die nicht schon im Gottesnamen enthalten ist? Gott „heilig“ zu nennen scheint so überflüssig, als erklärte man Wasser für „nass“, Feuer für „heiß“ und Blei für „schwer“. Denn Heiligkeit macht genau das aus, was wir mit dem Wort „Gott“ verbinden. Das Wort scheint keinen anderen Inhalt zu haben, als dass etwas entweder Gott selbst oder von Gott durchdrungen ist. Aber der Blick in die Bibel zeigt dann doch, dass dies nicht alles ist. Denn die Erfahrung der Heiligkeit Gottes wird dort in eindrücklicher Weise dargestellt. 

Die biblischen Gestalten, die dem Heiligen gegenübertreten, erleben dabei die bestürzende Fremdheit eines kategorisch Überlegenen. Eine Fremdheit nämlich, der der Mensch nur entsprechen kann, indem er sich gänzlich zurücknimmt und in demütiger Beugung das unendliche Gefälle zwischen ihm selbst und seinem heiligen Gegenüber anerkennt. Jakob fürchtet sich als er entdeckt, an welch heiliger Stätte er geschlafen hat (1. Mose 28,16-17). Und Mose muss die Schuhe ausziehen, bevor er beim brennenden Dornbusch den heiligen Boden betreten darf. Erschreckt verhüllt er sein Angesicht, als Gott mit ihm redet (2. Mose 3,3-6). Und auch die Serafim vor Gottes Thron bedecken in Scheu vor dem Heiligen ihre Gesichter und Füße (Jes 6,1-3). Jesaja fürchtet zu vergehen, weil er dem Heiligen mit unreinen Lippen und ungesühnter Schuld gegenübertritt (Jes 6,5-7). Und als der heilige Gott am Berg Horeb im „stillen, sanften Sausen“ erscheint, verhüllt der Prophet Elia sein Antlitz mit dem Mantel (1. Kön 19,13). Als Gott sich am Sinai offenbart, darf das Volk den Berg noch nicht einmal berühren (2. Mose 19,12-13). Und wer sich doch am Heiligen vergreift, überlebt das nicht (2. Sam 6,3-7; Dan 5,1-30). Es fällt aber auf, dass Gottes Heiligkeit sehr gegensätzliche Reaktionen auslöst. Denn wenn Gott sich als heilig erweist, kann das in der Bibel beglückenden Sinn haben und zum Gegenstand jubelnder Lobgesänge werden (Ps 22,4; 99,3-5). Wenn Gott sich als heilig erweist, kann das aber auch einen strengen und bedrohlichen Sinn haben (4. Mose 20,13; Jos 24,19; 1. Sam 6,20; Ps 89,8). Der Hinweis auf Gottes Heiligkeit begründet sowohl Freude wie Furcht. Man kann ihn preisen, weil er heilig ist – und man kann aus demselben Grund vor ihm zittern. Dass aber beides (sogar gleichzeitig!) möglich ist, erklärt sich daraus, dass sich der Mensch teilweise mit dem Heiligen verbunden fühlt, teilweise aber auch mit ihm in Konflikt steht. Und dieser Zwiespalt bekommt dadurch Brisanz, dass dem Menschen in der Begegnung mit dem Heiligen dessen überlegenes Durchsetzungsvermögen bewusst wird. Er erkennt, dass dem Heiligen unfragliches Recht und unbegrenzte Macht innewohnt. Und sofern er den Heiligen auf seiner Seite weiß, ist das beglückend. Befindet er sich aber mit Gott auf Kollisionskurs (weil er doch Sünder ist!), muss es ihn in Panik versetzen. Denn was hätte ein kleiner Mensch der Dynamik des Heiligen entgegenzuhalten? Wer „unbeschnittenen Herzens“ ist, hat da zu „Berührungsängsten“ allen Grund! Denn je näher er dem Heiligen kommt, desto klarer tritt zu Tage, dass ein gewöhnlicher Mensch mit Gott nicht kompatibel ist. Gott wohnt in einem Licht, dem niemand nahen kann (1. Tim 6,16)! Und als Petrus den Herrn erkennt, sagt er erschrocken: „Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch.“ (Lk 5,8) Die Gegenwart des Heiligen ist einfach „zu viel“ für uns. Unverträgliches trifft aufeinander, weil Gottes ungewohnter Glanz unsere trüben Augen blendet. Mit den Worten von Paul Althaus gesagt: „Der Heilige ist der Erhabene, der unergründlich-Gewaltige, die Majestät, Gott in der Unfassbarkeit und Rätselhaftigkeit seines Seins und Waltens, in der übermenschlichen Hoheit seiner Gedanken, als das Geheimnis, als die schlechthinnige Mächtigkeit, aber auch als der schlechterdings und vollkommen Gute…“ 

Das Heilige ist der Inbegriff dessen, was wir nicht sind und nicht verstehen! Was also geschieht, wenn wir uns unverhofft mit dem Heiligen konfrontiert sehen? Zunächst wird es nur als „ganz anders“ wahrgenommen. Beim näheren Hinsehen aber als „ganz und gar überlegen“. Das Heilige ist uns überlegen hinsichtlich seiner Machtentfaltung und Seinsfülle, hinsichtlich seiner Gerechtigkeit und Reinheit – und auch, was seine Weisheit und Autorität angeht. Und weil der Mensch dem Vergleich nicht standhält, ist das Heilige eine Erfahrung erschütternder Differenz, die ihn zurückprallen lässt. Der Menschen kommt sich plötzlich klein und schäbig vor. Ihm wird das unendliche Gefälle bewusst, das zwischen ihm und dem Heiligen besteht. Ist dieses Gefälle aber zu Tage getreten, kann er ihm nicht anders entsprechen, als indem er sich dem ganz und gar „Anderen“ und „Überlegenen“ beugt. Der unbedingten Autorität des Heiligen kann man nur entsprechen, indem man ihm den eigenen Willen unterwirft. Und der unbedingten Reinheit des Heiligen kann man nur entsprechen, indem man sich in Scham davor verhüllt und bedeckt. Der Anrede durch das Heilige kann man nur entsprechen, indem man selbst verstummt, um lauschend „ganz Ohr“ zu sein. Und dem Anspruch des Heiligen kann man nur entsprechen, indem man sich selbst völlig zurücknimmt und ihm das Feld überlässt. Dem Geheimnis des Heiligen kann man nur entsprechen, indem man es ehrfürchtig stehen lässt und sich alle Neugier verbietet. Denn plumpe Vertraulichkeit ist hier ausgeschlossen. Niemand kommt Gott nahe, der nicht begreift und akzeptiert, wie fern er ihm ist! Erkennt man das Heilige aber als Heiliges, ist durch seine schiere Gegenwart geboten, dass man sich ihm hingibt, sich ihm überlässt und zur Verfügung stellt. Nur darin liegt die Anerkennung des bestehenden Gefälles. Und nur diese Anerkennung bringt mich mit dem Heiligen in Übereinstimmung. Nur dadurch, dass ich mich kategorisch von ihm unterschieden weiß, kann ich mit dem Heiligen „einig“ sein. So aber bin ich dann im Konsens mit ihm, bin in seine Sphäre inbegriffen und gewinne am Heiligen Anteil. 

Ahnt man aber, welch große Chance darin liegt? Ein kleiner Mensch kann das Heilige zwar nicht durchdringen, er kann aber davon durchdrungen werden. Er kann das Heilige nicht ergreifen, kann aber davon ergriffen werden. Er hat dann nicht das Heilige, aber das Heilige hat ihn. Und wer die Faszination des Heiligen kennt, wird sich nichts mehr wünschen, als ganz und gar von dem erfasst zu werden, was er nicht fassen kann. Dieser Wunsch, mit dem sich der Mensch sehnend Gott entgegenstreckt, entspricht der erbarmenden Liebe, mit der Gott sich dem Menschen zuwendet. Und er mündet ein in das frohe Miteinander des Kindes mit dem himmlischen Vater. Ganz anders verläuft die Begegnung aber, wenn der Mensch mit dem Heiligen „auf Augenhöhe“ umgehen will. Denn das bedeutet, dem Heiligen nicht zu entsprechen, sondern ihm gleichen zu wollen. Und wer das versucht, tritt zum Heiligen in Konkurrenz. Er verursacht einen Konflikt, in dem er notwendig untergeht, weil das Gefälle, das er überspielen will, natürlich trotzdem besteht – und sein Gegenüber, dessen Heiligkeit er ignoriert, sich an ihm als heilig erweist. So wird nichts den Heiligen hindern, sich Geltung zu verschaffen! Aber je nachdem, wie der Mensch sich verhält, kann es auf zweierlei Weise geschehen. Nämlich entweder, indem der Heilige den Menschen einbindet, heiligt und erhebt. Oder, indem er ihn vernichtet. In der Dynamik des Heiligen liegt immer das Potential zu beidem! Es ist gleichermaßen mächtig, dem Menschen das Heil zu schenken oder ihm den Untergang zu bereiten. Ein Drittes gibt es aber nicht. Und weil der Mensch das spürt, zeigt er dies seltsam ambivalente Verhalten, dass er das Heilige zugleich sucht und meidet. Das Heilige zieht ihn an, weil ihm die Macht innewohnt, die dem schwachen Menschen so sehr fehlt. Und es schreckt ihn zugleich ab, weil er sich dieser Macht gegenüber nicht zu behaupten vermag. Wen kann es also wundern dass die Begegnung mit dem Heiligen einer schweren Krise gleicht? Der Mensch, der hindurchgeht, ist hinterher nicht mehr derselbe. Er kann nicht weitermachen wie zuvor. Und entsprechend groß ist die Neigung, das Heilige aus dem eigenen Leben herauszuhalten. Denn wenn es drin ist, wird es auf jeden Fall dominant sein. Doch wahrlich, wenn es draußen bleibt, ist das für den Menschen viel schlimmer… 

Was sagen wir also, wenn wir Gott „heilig“ nennen? Kann man das zusammenfassen? Es bedeutet, dass er zugleich imponierend und erschreckend ist, faszinierend und gefährlich, distanzierend anders und doch bedrängend nah. Sein Licht droht uns zu blenden und fesselt doch unsere Aufmerksamkeit. Es duldet keine Vertraulichkeit und zieht uns doch an. Das Heilige weist unsere Neugier ab und ergreift doch unser Herz. Es ist unnahbar und lässt uns doch nicht los. Es ist respekteinflößend und weckt doch unsere Sehnsucht. Es ist völlig inkompatibel und lässt uns doch nach Anschluss fragen. Es zwingt uns auf die Knie und macht uns dabei doch nicht etwa kleiner, sondern in Wahrheit größer. Das Unvertraute am Heiligen kann uns ebenso mit Grauen erfüllen, wie mit Staunen und Scheu, Scham und Anbetung. Es ist ungewohnt mächtig und mächtig ungewohnt. Aber wie verschieden es die Einzelnen auch wahrnehmen, ist doch eines immer gleich: das Heilige fordert auf unbedingte Weise ein seiner Gegenwart entsprechendes Verhalten. Es begegnet uns nicht, ohne zu verpflichten. Es ist nicht bloß da, es will auch etwas. Es verlangt vom Menschen, sich als Mensch im Gegenüber zum Heiligen zu begreifen und sich entsprechend zu verhalten. Denn die Erkenntnis des Heiligen drängt zur Anerkenntnis mit Herz und Hand. Doch ist das nicht etwa „viel verlangt“, sondern versteht sich im Grund von selbst. Denn es heißt ja nur, der erkannten Wahrheit die Ehre zu geben und ihr nicht zu widerstreben. Der heilige Gott ist ja wirklich der, dessen Wollen jederzeit gut und dessen Handeln gerecht ist, dessen Wort niemals trügt und dessen Beschluss nicht gehindert werden kann. Gott steht wirklich in maximalem Kontrast zu uns durch seine Treue Reinheit und Vollkommenheit. Er allein sagt, was er denkt, tut, was er sagt, und kann, was er will. Wie sollten wir also den Abstand nicht fühlen? Und wenn wir ihn fühlen, wie sollte uns das nicht die Augen öffnen für Gott und für uns selbst? Die rechte Gotteserkenntnis führt notwendig zur Selbsterkenntnis des Menschen. Und die ist, so wie Johannes Calvin sie beschreibt, überaus heilsam und jedem zu wünschen. Er sagt: 

 

„Lenken wir den Blick nicht über die Erde hinaus, so sind wir mit der eigenen Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend reichlich zufrieden und schmeicheln uns mächtig – es fehlte, dass wir uns für Halbgötter hielten! Aber wenn wir einmal anfangen, unsere Gedanken auf Gott emporzurichten, wenn wir bedenken, was er für ein Gott sei, wenn wir die strenge Vollkommenheit seiner Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend erwägen, der wir doch gleichförmig sein sollten – so wird uns das, was uns zuvor unter dem trügerischen Gewand der Gerechtigkeit anglänzte, zur fürchterlichsten Ungerechtigkeit; was uns als Weisheit wundersam Eindruck machte, wird grausig als schlimmste Narrheit offenbar, was die Maske der Tugend an sich trug, wird als jämmerlichste Untüchtigkeit erfunden! So wenig kann vor Gottes Reinheit bestehen, was unter uns noch das Vollkommenste zu sein schien. Daher kommt es, dass nach vielfach wiederholten Berichten der Schrift die Heiligen von Furcht und Entsetzen durchrüttelt und zu Boden geworfen wurden, sooft ihnen Gottes Gegenwart widerfuhr. Menschen, die zuvor, ohne seine Gegenwart, sicher und stark dastanden – jetzt, da er seine Majestät offenbart, sehen wir sie derart in Schrecken und Entsetzen gejagt, dass sie geradezu in Todesangst niederfallen, ja vor Schrecken vergehen und fast zunichte werden! Daran merken wir, dass den Menschen erst dann die Erkenntnis seiner Niedrigkeit recht ergreift, wenn er sich an Gottes Majestät gemessen hat. Beispiele solcher Erschütterung haben wir im Richterbuche wie auch bei den Propheten. Es ging soweit, dass im Volke Gottes die Redewendung in Gebrauch kam: „Wir müssen sterben; denn wir haben den Herrn gesehen“ (Ri. 13,22; Jes. 6,5; Ez. 1,28; u.a.). Und wenn das Buch Hiob (z. B. Kap. 38ff.) den Menschen durch das Bewusstsein seiner Torheit, Ohnmacht und Beflecktheit zu Boden werfen will, so dienen ihm stets die Beschreibungen von Gottes Weisheit, Kraft und Reinheit zum Beweise. Das ist berechtigt: wir sehen, wie auch Abraham, nachdem er einmal von nahem des Herrn Herrlichkeit erschaut hat, um so besser erkennt, dass er „Erde und Asche“ ist (Gen. 18,27). Elia vermag sein Nahen nicht mit unverdecktem Antlitz zu ertragen (1. Kön. 19,13). Solcher Schrecken liegt in seinem Anblick! Was soll auch der Mensch tun, der doch Staub ist und ein Wurm, wenn selbst die Cherubim in heiliger Scheu ihr Angesicht verhüllen müssen! (Jes. 6,2). Eben dies spricht Jesaja aus: „Der Mond wird sich schämen und die Sonne mit Schanden bestehen, wenn der Herr der Heerscharen König sein wird“ (Jes. 24,23). Das heißt: wenn er seine Herrlichkeit in voller Nähe offenbaren wird, dann versinkt auch das sonst Leuchtendste in Finsternis.“ (Institutio I,1,2-3) 

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: HYMN (I)

Mikalojus Konstantinas Čiurlionis, Public domain, via Wikimedia Commons