Atheismus und Existenz Gottes

Atheismus und Existenz Gottes

Gibt es Gott überhaupt? 

Was meinen sie – ob es Gott wohl gibt? Zugegeben: Das ist eine ziemlich seltsame Frage für einen Pfarrer. Schließlich machte es keinen Sinn, dieses Amt auszuüben, wenn es Gott nicht gäbe. Und doch kommen wir um diese Frage nicht herum. Denn selbst wenn sie uns nicht beschäftigen sollte, so ist sie doch die Frage vieler Zeitgenossen. Wir müssen uns mit ihr schon deshalb auseinander setzen, weil es heute Mode geworden ist, eher nicht an Gott zu glauben – und das heißt in der einfachsten Form: Einfach seine Existenz zu bestreiten.

Das Problem ist nur, dass, wenn wir als Christen unseren Glauben dagegenhalten, wir sehr schnell in eine fruchtlose Debatte hineingeraten. Da behauptet einer, es gäbe Gott gar nicht. Und wir antworten: Na klar gibt es Gott. Und wenn man dann beginnt, Argumente auszutauschen, entsteht eine weitschweifige Diskussion. Mich erinnert das immer an Gespräche über das Ungeheuer von Loch Ness. Die verlaufen oft ähnlich. Gibt es nun im schottischen Loch Ness ein Ungeheuer oder nicht? Einer bestreitet es – einer behauptet es. Es gibt viele Zeugen, die es gesehen haben wollen – aber nicht alle sind vertrauenswürdig. Es gibt Fotos von jenem Ungeheuer – aber sie sind alle ziemlich unscharf. Es wäre biologisch durchaus möglich, dass in den besonderen Bedingungen des Loch Ness urzeitliche Plesiosaurier überlebt haben könnten – aber hätte man sie mit Echolot und U-Booten nicht längst finden müssen?

O ja, das Ungeheuer von Loch Ness gibt immer Stoff für ein interessantes Gespräch her. Und das Thema ist gerade deshalb unerschöpflich, weil niemals ein Gespräch darüber zu einem gesicherten Resultat führt. Es ist unmöglich, die Existenz jenes geheimnisvollen Wesens zu beweisen, solange man es nicht fängt. Und es ist erst recht unmöglich, zu beweisen, dass es nicht existiert. Der Streit über diese Frage geht also immer unentschieden aus.

Und ist das nicht im Streit um Gott auch so? Ja, tatsächlich verlaufen Diskussionen über Gott meist genauso: Für den einen gibt es klare Indizien für die Existenz Gottes, und der andere lässt diese Indizien nicht gelten. Gemeinsam durchsucht man das Universum nach Spuren Gottes, wie man einen unaufgeräumten Keller durchsucht nach einem vermissten Gegenstand. Aber man findet ihn nicht. Und dann sagt der eine: Wir haben ihn nicht gefunden, weil es ihn nicht gibt. Und der andere sagt: Wir haben ihn nicht gefunden, weil wir nicht gründlich genug gesucht haben. Der Erste verlangt Beweise, dass es Gott gibt – da muss der Zweite passen. Der Zweite verlangt den Gegenbeweis, dass es Gott nicht gibt – und da muss dann der Erste mit den Schultern zucken. Am Ende der Diskussion wird man die Frage nach der Existenz Gottes offen lassen, so wie man die Frage nach der Existenz des Ungeheuers von Loch Ness offen lassen muss. Keiner wurde von seiner Meinung abgebracht, alle kehren zum Alltag zurück, keiner muss irgendwelche Konsequenzen ziehen – aber interessant war’s doch. Nur eben fruchtlos. Denn wer ganz entschieden an Gottes Existenz glaubt oder wer daran ganz entschieden nicht glaubt, scheint in jedem Falle mehr zu behaupten, als er wissen kann. Das Vernünftigste scheint darum zu sein, dass man sich in dieser Sache nicht festlegt – und so machen es ja auch die meisten unserer Zeitgenossen. Ich für meinen Teil aber finde diese Art von Gespräch unsachgemäß. Und ich halte auch die Schlussfolgerung für schlecht begründet. Denn wer ein wenig nachdenkt, müsste darauf kommen, dass es einen Unterschied macht, ob der Diskussionsgegenstand „Gott“ heißt oder „das Ungeheuer von Loch Ness“.

Wären Gläubige und Ungläubige an dieser Stelle etwas kritischer gegenüber ihrer eigenen Fragestellung, so müssten sie eigentlich merken, dass Debatten, die nach dem beschriebenen Schema verlaufen, von drei falschen Voraussetzungen ausgehen:

 

1. Man redet von Gott wie von einem Ding unter anderen Dingen, d.h. man unterstellt, er „sei“ in derselben Weise wie wir „sind“, und man durchstöbert infolgedessen das Universum nach Gott, als wäre er ein Bestandteil des Universums.

 

2. Man ordnet die Gottesfrage jenen schwer entscheidbaren Fragen zu, die interessant sein mögen, die man aber getrost offen lassen kann, und bei denen der am wenigsten riskiert, der sich nicht festlegt.

 

3. Man unterstellt, christlicher Glaube sei nur möglich, wenn man die Zweifel an Gottes Existenz unterdrückt und sich wider besseres Wissen als sicher einredet, was nicht sicher ist. Alle drei Voraussetzungen sind grundfalsch und müssen korrigiert werden:

 

1. Wenn man über die Existenz Gottes in derselben Weise diskutiert, wie über die Existenz jenes ominösen Ungeheuers von Loch Ness, übersieht man, dass zwischen beiden ein gravierender Unterschied besteht: Das Ungeheuer von Loch Ness ist (wenn es denn existiert) jedenfalls ein Teil der kreatürlichen Wirklichkeit. Es ist ein Teil dieser Welt, den man irgendwo in dieser Welt zu suchen hat. Das ist so selbstverständlich, wie man einen Schuh im Schuhregal und einen Schraubenzieher im Werkzeugkasten sucht. Wer aber das Universum durchstöbert, um darin Gott zu finden, der hat noch gar nicht begriffen, was und wen er da eigentlich sucht. Denn Gott ist kein Bestandteil dieses Universums, er ist der Schöpfer des Universums. Gott ist kein gasförmiges Wirbeltier, das den Himmel besiedelt, wie wir die Erde besiedeln. Gott ist kein Geschöpf – was also macht es für einen Sinn, ihn in dieser geschöpflichen Welt zu suchen?

Man kann Gott nicht in der Welt finden, denn Gott ist nicht in der Welt, sondern die Welt ist in Gott. Wer also Gott sucht, wie man ein Ding unter anderen Dingen sucht, ist von vornherein auf dem Holzweg. Er mag das Unterste zuoberst kehren, es wird vergeblich sein, solange ihm die Differenz nicht bewusst wird: Gott ist nicht „Etwas“, was es neben allem, was es so gibt, auch noch gibt. Gott ist kein Lebewesen, das wir in den Katalog sonstiger Lebewesen aufnehmen könnten. Er gehört nicht in die Reihe der in dieser Welt vorfindlichen Phänomene, weil für uns nur vorfindlich sein kann, was von unserer Art, was nämlich geschöpflich ist. Von allem Geschöpflichem aber ist der Schöpfer strikt unterschieden. Oder sucht man den Maler in den Bildern, sucht man den Töpfer unter den Töpfen und den Komponisten zwischen den Noten? Nein. Der Meister ist nicht das Werk, er steht dem Werk gegenüber. Warum also erwartet man, Gott als Bestandteil dieser Welt zu finden?

 

2. Die Gottesfrage ist eine Frage, die nicht mittels vernünftiger Beweise oder experimenteller Nachweise entschieden werden kann. Trotzdem aber kann niemand diese Frage auf sich beruhen lassen, um gewissermaßen neutral zu bleiben. Auch hier liegt ein gravierender Unterschied zum Ungeheuer von Loch Ness. Denn wenn die Frage nach dem Ungeheuer derzeit unentscheidbar ist, dann mag das vielleicht unsere Neugier kränken. Ein echtes Problem ist es aber nicht. Denn im Grunde kann uns ja egal sein, was da in Schottlands Seen herumschwimmt oder nicht. Mag es da etwas geben oder nicht: Auf mein Leben hat das keinerlei Auswirkungen, es kann mir von Herzen gleichgültig sein. Ich muss mich in diesem Streit nicht entscheiden.

Was aber Gott betrifft, verhält es sich anders. Da muss ich entscheiden. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig. Denn auch wenn ich die Frage nach Gott aus meinen Gedanken verdränge: Ich werde durch die Art, wie ich lebe, faktisch die Entscheidung treffen, ob ich mit Gott rechne oder nicht. Ich behandle meine Kinder wie ein Geschenk Gottes oder ich behandle sie wie mein eigenes Produkt. Ich unterlasse das Böse auch im Verborgenen, weil ich damit rechne, dass Gott mich sieht, oder ich unterlasse das Böse nur, wenn ich dabei von Menschen erwischt werden könnte. Ich benehme mich in der Natur wie ein Gast in Gottes Garten oder ich führe mich in der Natur als Eigentümer und Hausherr auf. Ich finde am Sonntag den Weg in die Kirche, oder ich finde ihn nicht. Ich übe mich in Nächstenliebe oder übe mich nicht. Ich vergebe meinen Schuldigern oder vergebe ihnen nicht.

In alledem entscheide ich faktisch über mein Verhältnis zu Gott, denn die Frage nach meinem Gottesverhältnis ist in jenen anderen Fragen immer mit enthalten. Und dabei ist es völlig gleich, ob ich viele Worte darum mache, dass ich doch nicht wüsste, ob es Gott gibt und unentschieden wäre. Nein, die Ausrede gilt nicht. Denn das Tun meiner Hände und der Weg meiner Füße spricht eine viel klarere Sprache als der Mund. Mögen meine Gedanken auch der Entscheidung ausweichen, so verrät doch mein Tun, dass ich so oder so entschieden habe. Atheist oder Christ zu sein, ist nämlich gar keine theoretische, sondern eine höchst praktische Frage. Ich gehe keinen meiner alltäglichen Schritte in Neutralität: Ich gehe ihn entweder mit oder ohne Gott. Wer sich also vornehm zurückhalten will mit der Begründung, es sei doch ein Wagnis, sich in einer unsicheren Frage auf diese oder jene Seite zu stellen, der macht sich etwas vor.

Denn es ist zwar ein Risiko, an Gott zu glauben – es könnte durchaus sein, dass es ihn nicht gibt. Es ist aber kein geringeres Risiko, nicht an Gott zu glauben – denn es könnte durchaus sein, dass es ihn doch gibt. Es ist also keineswegs so wie Gottesleugner es gern darstellen: Dass der Atheist sich nüchtern auf den Boden der gesicherten Erkenntnisse stellt, während der Christ sich auf den schwankenden Boden bloßer Vermutungen begibt. Nein. Vielmehr sind hier alle in einem Boot: Alle wagen etwas, alle können mit ihrer Entscheidung falsch liegen – und doch kommt keiner um diese Entscheidung herum.

 

3. An dieser Stelle freilich liegt noch einmal ein großer Stolperstein. Denn so fragen uns die vielen Zweifler: Wie kannst du glauben, wenn du doch nicht genau weißt, ob es Gott gibt? Wie kann dein Glaube Gewissheit haben, wenn doch Gottes Dasein nicht gewiss ist? Musst du da nicht deinem Verstand Gewalt antun, musst du nicht ständig Zweifel unterdrücken und wider besseres Wissen so tun als sei sicher, was doch nicht sicher ist? Ist das nicht unwahrhaftig? So fragen uns die, die den Glauben von außen kennen. Wer selbst glaubt, wird sich aber darin missverstanden fühlen. Denn unwahrhaftig wäre unser Bekenntnis ja nur, wenn wir behaupteten zu wissen, was wir nicht wissen.

Als Christen behaupten wir aber gar nicht, von Gott sicheres Wissen zu haben, sondern wir sagen, dass wir an ihn glauben. Und das ist ein Unterschied. Denn im strengen Sinne weiß man nur, was man beweisen kann. Zu beweisen wäre Gottes Dasein aber nur, wenn wir ihn wie einen Tanzbären dem staunenden Publikum zur Begutachtung vorführen könnten. Das lässt Gott natürlich nicht mit sich machen. Er nennt vielmehr die selig, die nicht sehen und doch glauben. Und das ist keineswegs eine Zumutung. Denn der Glaube richtet sich zwar auf Gott. Er hängt aber nicht ab von Beweisen der Existenz Gottes. Ja es mag sogar Tage geben, wo man es nicht mal wahrscheinlich findet, dass Gott existiert. Es gibt Tage, an denen der Himmel leer und die Welt von Gott verlassen scheint. Doch daran zerbricht der Glaube nicht. Sondern es kann durchaus sein, dass er gerade an solchen Tagen an Kraft und Entschlossenheit gewinnt und sagt: „Gott, manchmal spüre ich dich nicht. Aber auch wenn es dich nicht gäbe, würde ich immer noch an dich glauben. Ich würde ein Glaubender bleiben, auch wenn du nicht da wärst. Denn vieles in dieser Welt ist zweifelhaft und ungewiss, Gott. Eins aber ist gewiss: Wenn es dich nicht gäbe, würde ich lieber dein Nicht–Sein mit dir teilen, als in einer Welt zu leben, die ohne Sinn und Hoffnung ist, weil du ihr fehlst.“

Mag sein, dass solches Festhalten an einem Gott, dessen Existenz unsicher ist, zunächst widersinnig und paradox erscheint. Und doch ist viel Erkenntnis, viel Mut und viel Freiheit in diesem Standpunkt. Es steckt die Erkenntnis darin, dass es immer noch besser wäre, im Zeichen des Glaubens zu irren, als im Zeichen des Unglaubens Recht zu haben. Es steckt der Mut darin, das eigene Schicksal bedingungslos mit Gottes Schicksal zu verknüpfen. Und es steckt darin Freiheit gegenüber den Spitzfindigkeiten unserer Vernunft, die das Dasein Gottes mal wahrscheinlich und dann wieder unwahrscheinlich finden mag. Dieser Glaube bliebe nämlich, was er ist, selbst wenn die Atheisten Recht hätten:

Oder würde ein Fisch, wenn man ihm bewiese, dass es kein Wasser gibt, deswegen ein Vogel werden? Nein. Er würde sterben – aber er bliebe ein Fisch. Oder würde ein Vogel, wenn man ihm bewiese, dass es keine Luft gibt, deswegen zum Fisch werden? Nein. Er würde zugrunde gehen – aber er bliebe ein Vogel. Darum gilt dasselbe auch von Christen: Wenn man einem Gläubigen bewiese, dass es Gott nicht gibt, so würde er deswegen kein Heide. Er wäre gescheitert, ja – aber er bliebe ein Glaubender. Und er könnte dann immer noch sagen: Es ist besser, so groß gehofft zu haben und widerlegt zu werden, als diese große Hoffnung nie gekannt zu haben.

 

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang aus: "L'atmosphère Météorologie populaire" Paris.1888.

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