Unsere Zeit und Gottes Ewigkeit

Unsere Zeit und Gottes Ewigkeit

Mit jedem neuen Jahr breitet Gott 365 nagelneue Tage vor uns aus: 52 lange Wochen, 12 ganze Monate. Und doch – kaum dass der Neujahrstag vergangen ist – scheint die Zeit schon wieder an allen Ecken und Enden zu fehlen. Bald beginnt wieder das Rennen und Hasten der Menschen, die immer sagen, sie hätten keine Zeit – gerade so als wäre Zeit ein Rohstoff, der nur noch heute zur Verfügung steht und morgen schon aufgebraucht sein kann. Bedauerlich ist das. Und doch auch irgendwie verständlich. Denn in der Tat weiß ja keiner von uns, wann seine Zeit aufgebraucht ist. Denken wir zurück an die Jahrhunderte, die seit Christi Geburt vergangen sind, so erscheint uns dieser Zeitraum wie eine Ewigkeit. Und mit Erschrecken wird uns bewusst, dass unser eigenes Dasein geschichtlich betrachtet dem Leben einer Eintagsfliegen gleich. Mag es auch 80 oder 90 Jahre wären, so ist es doch nicht mehr als eine Momentaufnahme, ein kurzer Augenblick, ein kleines Gastspiel, das wir auf Erden geben.

Haben wir es wohl deswegen immer so eilig? Ja, hinter unserem Bemühen, den gegenwärtigen Tag voll auszuschöpfen, steht die Erfahrung, dass das, was wir unsere Gegenwart nennen, nur ein schmaler Grat ist im Fluss der Zeit. Dass sie jetzt dies lesen, war gestern noch nicht wahr und nicht sicher. Es war verborgenen im dunklen Raum des noch Zukünftigen, so dass gestern keiner mit Bestimmtheit hätte sagen können, dass es heute geschehen würde. Jetzt im Moment ist es Wirklichkeit. Aber – ach je: In einer Stunde ist es schon wieder Vergangenheit und ist hineingestürzt in den Abgrund des Nicht-mehr-Wirklichen, das mühsam erinnert werden muss, wenn es präsent sein soll.

Zwischen dem „noch-nicht“ der Zukunft und dem „nicht-mehr“ der Vergangenheit dehnt sich eben nur der schmaler Spalt des jetzt gegenwärtigen Augenblickes. Jetzt währt er noch – doch in der nächsten Sekunde hat ihn schon der reißende Fluss der Zeit hinweggespült. Gewiss: wir sind daran gewöhnt. Wir haben es nie anders gekannt. Und doch: Welche Elend liegt in dieser Flucht unserer Zeit! Welche Not bereitet uns nicht diese unaufhaltsame Bewegung! Mal haben wir zu wenig Zeit, dann wieder zu viel. Mal verfliegt unsere Zeit, mal dehnt sie sich quälend. Wir versuchen sie zu sparen, aber oft wird sie uns gestohlen. Wir wünschen bestimmte Zeiten herbei und fürchten zugleich, sie zu verpassen. Wir sind Gefangene des Zeitenlaufes. Und diese Gefangenschaft ist oft schmerzlich. Denn woran unsere Seele hängt, das liegt nicht allemal in der Gegenwart.

Für viele von uns liegt das, wonach sie sich sehnen, in ungewisser Zukunft. Und für viele andere liegt es schon fern in einer Vergangenheit, die sie nicht wiederholen können. Wir reisten gerne vor oder reisten gern zurück in der Zeit, oder wir hielten wenigstens gerne die Gegenwart fest. Wie auf einem Videorecorder würden wir gerne den Film unseres Lebens vorspulen und zurückspulen und würden gerne auch einmal auf die Tasten „Standbild“, „Zeitlupe“ oder „Schneller Vorlauf“ drücken. Aber wenn sich unser Leben einem Videofilm vergleichen lässt, dann hat man uns jedenfalls die Fernbedienung für den Recorder weggenommen. Wir haben keinen Einfluss auf den Ablauf unserer Lebenszeit, nicht auf den Anfang und nicht auf ihr Ende.

Da kann man schon ein wenig neidisch werden, wenn man liest, was der 102. Palm über Gottes Ewigkeit sagt: „Mein Gott, ... Deine Jahre währen für und für. Du hast vorzeiten die Erde gegründet, und die Himmel sind deiner Hände Werk. Sie werden vergehen, du aber bleibst; sie werden alle veralten wie ein Gewand; wie ein Kleid wirst du sie wechseln, und sie werden verwandelt werden. Du aber bleibst, wie du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende.“

Ja, Gott ist der „Ewige“. Das sagt die Bibel viele hundert Mal. Aber verstehen wir auch, was das heißt? Ewigkeit ist für uns ein schwerer Gedanke. Denn so sehr sind wir gefangen im Zeitenlauf, so selbstverständlich ist er uns, dass wir uns „Ewigkeit“ nicht wirklich vorstellen können. Ich spüren das regelmäßig, wenn mir Kinder in der Grundschule Fragen stellen. „Wie alt ist Gott?“ wollen sie wissen. „Wer hat Gott gemacht?“. „Langweilt sich Gott manchmal?“ „Wird er müde?“ „Stirbt Gott, wenn er mal ganz alt ist?“ All das sind Fragen, bei denen die Kinder ganz selbstverständlich Gott in der Zeit denken. Sie setze voraus, dass er – wie sie – eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft hat, das natürlich etwas vor ihm gewesen und etwas nach ihn kommen müsste. Sie schließen von sich selbst auf Gott und folgern, auch er müsse einen Anfang und ein Ende in der Zeit haben. Ich sage dann: Ihr irrt euch! Gott unterliegt nicht dem Werden und Vergehen wie wir. Er wurde nicht, sondern er war schon immer. Er verschwindet auch nicht, sondern wird immer sein. Er wird nicht älter und nicht müde. Alle Zeit vergeht. Gott aber bleibt immer der, der er ist. Doch noch während ich das sage, machen mir die ungläubigen Gesichter der Kinder deutlich, dass solchen Erklärungsversuchen enge Grenzen gesetzt sind. Denn „Ewigkeit“ – wer kann sich das wirklich vorstellen?

Was wir uns denken können, ist höchstens eine unbegrenzte Verlängerung der Zeit in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein – ein Leben ohne Anfang und Ende. Ewigkeit aber ist noch sehr viel mehr: Denn Ewigkeit ist nicht nur verlängerte Zeit, sondern Ewigkeit ist der Gegensatz der Zeit. Ewigkeit ist keine besonders große Wegstrecke innerhalb der Zeit, sondern Ewigkeit ist ein Standpunkt jenseits aller Zeit. Ewigkeit ist keine Steigerung der Zeiten, sondern eine völlig andere Qualität. Gott existiert also nicht in der Zeit – wie wir – nur viel länger. Sondern Gott steht jenseits der Zeit als Grund und Ursache aller Zeit. Ihm ist darum Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges gleich nah und gleich präsent. Für uns gibt es das alles nur in geordnetem Nacheinander. Für Gott aber ist es alles jetzt. Denn seine Ewigkeit ist nicht bloß ewig verlängerte Zeitlichkeit, sondern seine Ewigkeit ist aller Zeitlichkeit enthobene Freiheit gegenüber der Zeit.

Wenn sie sich das nun aber nicht vorstellen können, so ist das ganz normal. Denn für Gott sind tausend Jahre wie ein Tag. Wir fühlen uns demgegenüber wie Eintagsfliegen. Wir spüren die Fremdheit und Distanz, die uns von Gottes ewiger Majestät trennt. Aber das ist ganz in Ordnung so. Denn erst, wenn wir jene Distanz ermessen haben, werden wir begreifen können, was da Aufregendes geschah, als der ewige Sohn Gottes auf Erden inmitten der Zeit erschien. Da verbanden sich nämlich Dinge, die sich nach menschlichem Ermessen gar nicht verbinden können. Und es geschah dabei nicht nur etwas mit dem ewigen Gott, sondern es geschah auch etwas mit der Zeit, in die er einging. Denn als Christus den Frieden der himmlischen Welt hinter sich ließ, konnte das ja nicht ohne Folgen bleiben:

Der Ungewordene und Unvergängliche setzte sich dem Werden und Vergehen aus. Der, der ohne Anfang und ohne Ende ist, nahm einen Anfang in Bethlehem und nahm ein Ende auf Golgatha. Der, der die Zeit geschaffen hat, wurde ein Teil dessen, was er geschaffen hat – und stieg aus sicherer Höhe hinab in den reißenden Fluss – Erstaunlich genug! Warum aber das? Warum erschien der Ewige inmitten der Zeit? Doch nur darum, damit wir, die es wohl verdient hätten, mit der Zeit zu vergehen, den Rockzipfel der Ewigkeit ergreifen und gerettet werden könnten. Denn woran sonst hätten wir Gefangenen der Zeit uns festhalten sollen? Es steht ja nichts still und nichts bleibt fest in der Zeit – alles fließt. Christus aber kam und blieb. Und mit ihm bleiben nun die Seinen. Alles fällt, er aber steht, und mit ihm stehen wir. In dieser Welt rollen die Tage dahin wie die Wellen auf dem Meer. Die einen gehen, die anderen kommen, keine kann verweilen. Wir aber dürfen bekennen, dass inmitten der Zeit etwas von ewiger Bedeutung geschah. Denn in Christus berührte der Himmel die Erde, in ihm durchdrang die Ewigkeit das Jetzt. Und seither ist „Ewigkeit“ für uns nichts Kaltes und Unvorstellbares mehr. Christus hat die Tür zwischen Zeit und Ewigkeit aufgestoßen. Und er lehrt uns, Gottes Ewigkeit nicht als etwas Fremdartiges zu betrachten, das Gott sich vorbehalten hat, sondern als etwas, das er mit uns teilen will. Nicht bestaunen sollen wir Gottes Ewigkeit, sondern freuen sollen wir uns daran. Denn sie ist Gewähr dafür, dass Gott sich nicht morgen alles anders überlegt, sondern dass er mit der unveränderlichen Treue und Verlässlichkeit des Ewigen an dem festhält, was er uns in Christus zugesagt hat. Was Menschen beteuern, ist oft nur Gerede. Denn ein Mensch, der mir heute etwas verspricht, kann morgen schon wieder ganz anders denken. Heute schwört er Treue, und morgen hat er’s vergessen. Menschen machen Pläne und Versprechungen auf Jahre hinaus – und wissen doch nicht einmal, ob sie den nächsten Tag erleben.

Doch Gott ist sich treu. Er wankt und wackelt nicht. Er hat keine Launen. Er ist nicht vergesslich. Er stielt sich nicht davon. Und er hängt sein Fähnchen auch nicht nach dem Wind. Gott folgt keiner Mode. Er hält sich keine Hintertür offen. Er sagt, was er denkt. Und er tut, was er sagt. Berge können im Meer versinken und Sterne vom Himmel fallen, doch Gottes Wort steht fest. Und das ist ein Segen. Das ist unser großes Glück. Denn Gott steht unverrückt – und mit ihm stehen wir. Ich meine dies ist es, woran wir uns fröhlich erinnern sollten, wenn uns die Zeit mal wieder durch die Finger rinnt und die Tage zu verfliegen scheinen. Mag auch Geliebtes in der Vergangenheit verschwinden, mag Gefürchtetes aus der Zukunft auf uns zukommen, so geht doch das, was geht, nur in Gottes Ewigkeit ein, und kommt das, was kommt, nur aus Gottes Ewigkeit heraus. Wandern wir also durch die fliehende Zeit, wie Christen gebührt: Ganz gelassen, ganz vertrauensvoll und ganz dankbar dafür, dass unser Gott der bleibt, der er ist – heute, morgen und auf ewig…

 

 

 

 

 

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