Gottes Güte

Gottes Güte

Vielleicht erscheint es ihnen seltsam, aber ich möchte sie fragen, ob sie den Unterschied kennen zwischen gut und böse. Na klar, werden sie sagen – und werden vielleicht sogar entrüstet sein über diese Frage. Denn wer sollte ihn nicht kennen, den Unterschied zwischen gut und böse! Schließlich ist kaum ein Gegensatz für unser Leben so fundamental wie dieser. Gut und böse unterscheiden zu können, ist eine der Fähigkeiten, die den Menschen über das Tier erheben. Denn ohne diese Unterscheidung gäbe es keine Verantwortung, kein Gewissen und keine Moral. Ja: Wer den Unterschied von gut und böse nicht kennt, ist eine Gefahr für die menschliche Gesellschaft! Und doch scheint mir, dass diesbezüglich gerade in unserer Zeit große Unklarheit herrscht. Denn geschwunden ist nicht nur der gesellschaftliche Konsens darüber, welche konkreten Taten für gut oder böse zu halten sind. Unklar sind nicht nur die Maßstäbe, an denen Gut und Böse zu bemessen sind. Sondern noch viel grundsätzlicher und tiefgreifender ist die Verwirrung, weil man nicht mehr weiß, worin denn diese Unterscheidung überhaupt ihren Ursprung hat. Denn wer bestimmt eigentlich, was gut und böse ist – wer legt das fest?

War der Unterschied schon immer da, wie ein Naturgesetz. Oder hat irgendwann jemand beschlossen, dass er gelten solle? Ist das Gute immer und überall „gut“, und ist das Böse immer und überall „böse“? Kann sich die Grenzen zwischen beidem im Laufe der Jahre verschieben, oder ändern sich bloß unsere Ansichten darüber? Wenn der Unterschied aber nicht variabel sein sollte, wer hat ihn dann festgelegt und in Geltung gesetzt?

Manche sagen, „gut“ sei bloß das, was zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft Sitte sei, und die Unsitte, das „was man nicht tut“, das sei eben „böse“. Sie wollen „gut“ und „böse“ an dem orientieren, was in einer Gesellschaft üblich und mehrheitsfähig ist. Nur muss man dann zugestehen, dass Sklaverei dort, wo sie „üblich“ ist, auch „gut“ ist, wie im alten Rom, dass manchmal die Unterdrückung der Frauen „gut“ ist, wie heute in Afghanistan, und dass manchmal der Kannibalismus „gut“ ist, einfach weil es Gesellschaften gibt, die diese Dinge „gut“ finden und praktizieren.

Andere sagen natürlich: Nein, nein! So geht das nicht. Gut ist in Wahrheit nur, was den Menschen glücklich macht, und böse ist, was den Menschen traurig macht. Wenn es aber Drogen sind, durch die einer glücklich wird, oder wenn es Gewalt ist, die ihm Spaß macht, sind diese Dinge dann „gut“? Und wenn es die ungeschminkte Wahrheit wäre, die einen Menschen traurig macht, weil er mit seinen Illusionen bisher bequemer lebte, wäre die Wahrheit zu sagen, dann „böse“?

Der Philosoph Friedrich Nietzsche ging noch einen ganz anderen Weg. Er meinte, das ganze Moralgerede sei überhaupt eine Erfindung der schwachen und missratenen Menschen, die damit nur die Starken daran hindern wollten, von ihrem natürlichen Vorrecht der Stärke Gebrauch zu machen. „Gut“ ist es nach Nietzsche, wenn der Starke die moralischen Fesseln abwirft, um sich – seiner Natur entsprechend – frei und wild wie ein Raubtier über die Lämmer herzumachen. „Böse“ erscheinen ihm hingegen diese schwachen und dummen Lämmer, die dem Starken seine Stärke vorwerfen und dem Tiger seine Zähne, weil sie damit dem gesunden menschlichen Raubtier ein schlechtes Gewissen einreden.

Manche Philosophen wollen den Unterschied von gut und böse auf ein ewiges Sittengesetz zurückführen – quasi auf eine universale Weltordnung, an die sich selbst die Götter halten müssen. Andere meinen, der Mensch sei „sich selbst Gesetz“ und handle darum soweit „gut“, wie er mit seinem eigenen Wesen übereinstimmt (nämlich mit seiner Vernunft), und handle nur dann „böse“, wenn er gegen das Gebot seiner Vernunft verstößt.

Manche schütteln darüber den Kopf und verlassen sich darauf, dass ihr Gewissen ihnen schon sagen wird, was „gut“ ist und was „böse“. Sie meinen nämlich, sie hätten das „im Gefühl“, und ihr Gefühl könne nicht trügen. Viele aber, die die ganze Verwirrung leid sind, bestreiten, dass es zwischen gut und böse überhaupt einen echten Unterschied gibt. Denn das Ganze, meinen sie, sei Ansichtssache: Den Begriffen „gut“ und „böse“ entspräche gar keine Wirklichkeit, und überhaupt sei in der Moral alles ganz relativ...

Es ist, als wollte man ein Bild aufhängen und fände keinen Nagel in der Wand, der es tragen könnte. Denn unsere Zeit findet keinen festen Punkt mehr, an dem sie den Gegensatz von „gut“ und „böse“ festmachen könnte. Die Menschheit taumelt darum wie ein Stürzender, der zwar noch weiß, dass es irgendwo „oben“ und „unten“ geben muss, der aber selbst herumgewirbelt wird – und darum nicht mehr sagen kann, wo oben und wo unten ist. Wir aber, taumeln wir mit? Haben auch wir die Orientierung verloren? Oder unterstellen wir einfach, „gut“ sei, was wir „gut“ finden, und „böse“ sei, was uns persönlich „böse“ vorkommt? Sollte es so sein, so könnten wir mit unserem Problem jedenfalls zu Jesus gehen. Denn der war überhaupt nicht verwirrt, sondern als sich der reiche Jüngling bei ihm nach dem „Guten“ erkundigte und das offenbar für eine komplizierte Frage hielt, da antwortete ihm Jesus fast barsch mit größter Klarheit und Strenge:

„Was fragst du mich nach dem, was gut ist? Gut ist nur Einer. Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote.“

Jesus braucht nur drei Sätze, um den Nagel in die Wand zu schlagen und das Bild dranzuhängen. Länger braucht er nicht, um Klarheit zu schaffen und jede weitere Diskussion abzuschneiden. Denn „Gut ist nur Einer“ – nämlich Gott. Und wer zum Leben eingehen will, der sollte seine Gebote halten. Gut ist nämlich, was Gott will, und böse ist, was Gott nicht will – das ist schon die ganze Definition!

Sie ist aber nicht so zu verstehen, dass Gott sich mit seinem Willen an einen moralischen Maßstab halten würde, der von ihm unabhängig schon bestünde, sondern so müssen wir es verstehen, dass Gottes Wille selbst der alleinige Maßstab des Moralischen ist. Gut ist nur einer – nämlich Gott selbst. Und darum will er, was er will, nicht weil es „an sich“ schon gut wäre. Sondern, was Gott will, wird dadurch „gut“, dass er es will, und es ist auch allein darum „gut“, weil er es will. Gott hält sich also an keine Norm, Gott ist die Norm. Er folgt keiner Ordnung, sein Wille ist die Ordnung. Gott respektiert nicht einen vorgegebenen Unterschied von „gut“ und „böse“, sondern indem er handelt und gebietet setzt er diesen Unterschied in Kraft. Wollte Gott aber plötzlich das Gegenteil von dem, was er will, so wäre im selben Moment dieses Gegenteil nicht mehr „böse“, sondern „gut“ zu nennen, weil es für „gut“ und „böse“ keinen anderen Maßstab und keine andere Norm gibt, als eben den Willen Gottes.

Es ist wie bei einem runden Tisch, bei dem man sich lange vergeblich fragen kann, wo das Kopfende und wo „oben“ ist. Wenn aber der Chef kommt und setzt sich an den runden Tisch, dann hat sich die Frage geklärt. Denn wo der Chef sitzt, da ist immer oben, und es ist dort aus keinem anderen Grund „oben“, als eben, weil der Chef dort sitzt. Mit anderen Worten: Über „gut“ und „böse“ entscheidet keine Vernunft und keine Pragmatik, keine Konvention und kein Naturgesetz, sondern allein der frei gewählte Standpunkt Gottes. Nichts kann jemals „gut“ sein, was gegen sein Gebot geschieht, und nichts kann „böse“ sein, was seinem Gebot entspricht. Denn Gottes Wille ist der Nagel in der Wand, an dem die ganze Unterscheidung hängt, ja Gottes Wille ist der magnetische Nordpol, an dem sich die ethische Kompassnadel ausrichtet.

Wer das aber verstanden hat, der wird sich über die Verwirrung in den ethischen Diskussionen unserer Zeit nicht mehr wundern. Denn wo man den Willen Gottes nicht als Norm gelten lässt, wird man vergeblich versuchen, die Unterscheidung von „gut“ und „böse“ auf etwas anderes zu gründen. Da reden die Philosophen dann vergeblich von Naturrecht und Vernunft, von Konvention und Gemeinnutz, da konstruiert man vergeblich eine Herrenmoral der Starken oder eine Mitleidsmoral der Schwachen. Denn „gut“ ist nicht die Vernunft „an sich“ oder die Natur „an sich“ – auch nicht das Leben oder die Gesellschaft oder die Stärke „an sich“ sind „gut“, sondern „Gut ist nur Einer“. Und außer ihm ist nur „gut“, was seinem Willen entspricht. Wollen wir also herausfinden, wo am runden Tisch „oben“ ist, müssen wir schauen, wo der Chef sitzt. Wir müssen Gottes Standpunkt als Norm anerkennen, haben dann aber die Chance, der allgemeinen Verwirrung zu entkommen und ein paar wichtige Folgerungen zu ziehen:

 

1. Folgerung

Wenn man irgendwo die Frage aufwirft, ob Gottes Handeln moralischen Maßstäben genügt, ob er die Welt also fair, gerecht und gut regiert oder eher schlecht, dann liegt schon in der Fragestellung ein Missverständnis, weil es keinen außergöttlichen Maßstab des „Guten“ oder „Bösen“ gibt, den man kritisch an Gottes Handeln anlegen könnte:

Gottes Wollen und Regieren ist keiner Kritik unterworfen, weil er als die Norm aller Normen an keiner Norm gemessen werden kann. Wollte er heute noch das Leben auf Erden auslöschen, so wäre das „gut“ und „richtig“, weil er es wollte, und der Fortbestand des Lebens wäre dann aus demselben Grund „schlecht“, denn Gottes Wille unterliegt keinem Gesetz, sondern er ist das Gesetz. Er ist kein Gegenstand von Kritik, sondern ist selbst der Ursprung aller Kritik!

 

2. Folgerung

Wenn der Wille Gottes die Quelle aller ethischen Normen ist, dann kann es für uns keine anderen Autoritäten geben, die im Widerspruch oder in Konkurrenz zum Willen Gottes unseren Gehorsam verlangen dürften. Denn wenn nur einer „gut“ ist, dann steht die Autorität über unser Gewissen auch nur diesem Einem zu. Da mag die Vernunft dann ruhig widersprechen oder die Sitte, die Tradition, das „gesunde Volksempfinden“ oder die politische Führung – es hat sich doch alles zu beugen und ist zweitrangig, weil man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen. Was der Staat im Widerspruch zu Gottes Gebot erlaubt, ist darum noch lange nicht erlaubt, und was er im Widerspruch zu Gottes Gebot verbietet, ist darum noch lange nicht verboten.

 

3. Folgerung

Wenn nur einer „gut“ ist – nämlich Gott – dann sollten wir uns selbst nicht gut nennen lassen, sollten auch kein Lob annehmen und keine Bewunderung dulden. Denn Jesus selbst hat einmal einen Mann, der ihn mit „Guter Meister“ anredete, scharf zurückgewiesen. Er sagte: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.“ Jesus, der hier als Mensch unter Menschen wandelte, wollte offenbar, dass das Prädikat des „guten“ Gott vorbehalten bleibt. Wenn aber schon Jesus – der es wahrlich verdient hätte – sich nicht „gut“ nennen und loben ließ, sollten wir dann nicht um so entschlossener Ehrungen dieser Art zurückweise? Nur einer ist gut – und wir sind’s nicht!

 

4. Folgerung

Wenn nur „gut“ ist, was mit dem Willen Gottes übereinstimmt, dann sollten wir dieses Prädikat nicht nach Gefühl vergeben, sondern nur nach ernsthafter Prüfung, damit wir nicht unsere Maßstäbe mit Gottes Maßstäben verwechseln. Denn was in unseren Augen „gut“ scheint, kann in Gottes Augen sehr leicht „böse“ sein, und umgekehrt. Will Gott z.B., dass ich an etwas leide, so ist es „gut“ für mich, daran zu leiden, und es wäre in Wahrheit „schlecht“ für mich und „böse“ gedacht, wenn ich gegen Gottes Willen das Leiden umgehen wollte.

Was tatsächlich ein Unglück war und was ein Segen, erkennen wir ja oft erst im Nachhinein. Und so dürfen wir auch im Bereich von „gut“ und „böse“ nicht einfach nach Gefühl und Wellenschlag entscheiden, sondern müssen ganz ernsthaft danach forschen, was Gott will. Gottes Gebote helfen uns dabei – gewiss! Aber auch sie wollen nicht als tote Satzungen befolgt werden, sondern wollen von innen heraus verstanden werden, so dass wir den Geist der Gebote von Gottes Zielen her begreifen, und dann nicht etwa widerwillig tun, was er sagt, sondern selbst von Herzen wollen, was er will.

Wir sollten versuchen, den Willen Gottes von seinem Ziel her zu verstehen, das nicht einfach nur in der Fortsetzung des menschlichen Lebens besteht, sondern in der Läuterung dieses Lebens und in der Erziehung des Menschen auf Gott hin. Denn Gott will uns ja tauglich machen für sein Reich. Er will, dass wir den Heimweg finden, und will, dass wir sicher bei ihm ankommen. Was diesen Weg hindert, werden wir deshalb „böse“ nennen, auch wenn’s glänzend und freudig daherkommt. Was diesen Weg aber fördert, das dürfen wir zu Recht „gut“ nennen, selbst wenn’s Mühen und Tränen kostet. Denn „gut“ ist nur der Eine – und das, was uns ihm näher bringt…

 

 

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Compass card

Thomas Spencer Baynes, 1823-1887, and William Robertson Smith,1846–1894,

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