Über "moderne" Theologie
Esau verkauft sein Erstgeburtsrecht

Über "moderne" Theologie

Ich werde manchmal gefragt, warum ich keine „moderne“ Theologie vertrete. Denn viele Kollegen geben sich ja „liberal“, „undogmatisch“ und „bibelkritisch“. Sie berufen sich auf „neuere Entwicklungen“ in der Theologie und sagen, man müsse „mit der Zeit gehen“. Weil die Zeit aber den Wandel verlangt, finden sie im Glaubensbekenntnis kein einziges Wort, das sie nicht anzweifeln, uminterpretieren oder neu auslegen müssten… 

Und warum folge ich diesem Trend nicht? Bin ich ein Ignorant, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat, und darum den Fortschritt verpasst? So einfach ist es wohl nicht. Denn die geistesgeschichtlichen Entwicklungen, die zur derzeit herrschenden Theologie geführt haben, sind mir durchaus geläufig und ich kenne ihre Propheten. Nur kann ich ihre Voraussetzungen nicht teilen – und will das gern erklären, wenn man mir erlaubt, ein wenig auszuholen. Das Projekt der herrschenden „liberalen Theologie“ besteht nämlich darin, den christlichen Glauben mit dem neuzeitlichen Denken zu verheiraten. Und ich behaupte, dass diese Ehe nicht funktionieren kann, wenn nicht entweder die Braut oder der Bräutigam eine grundlegende Veränderung durchmachen… 

Doch beginnen wir mit den Denkvoraussetzungen der Neuzeit, die der Philosoph Rene Descartes als erster klar formuliert hat. Descartes meinte, dass man Irrtümer am ehesten vermeidet, wenn man zunächst alles radikal bezweifelt und dann den Ausgangspunkt des Erkennens nur bei dem nimmt, was ganz gewiss ist. Was aber ist so gewiss und evident, dass es niemand sinnvoll bezweifeln kann? Descartes meinte, es sei das zweifelnde Subjekt selbst – also das „Ich“ des Denkenden, der zumindest daran nicht zweifeln kann, dass er sich mit Zweifeln herumschlägt (dass da also „etwas“ denkt), und demnach das, was denkt, auch „da“ sein muss. Es gäbe kein Problem mit der Erkenntnis, wenn niemand da wäre, der das Problem hat! Wenn ich das Problem aber habe, kann ich zumindest am eigenen Dasein nicht mehr zweifeln. Ich denke, also bin ich. Dessen ist sich der Philosoph gewiss. Und von dieser Gewissheit nimmt alle weitere Erkenntnis ihren Ausgang. Seiner selbst ist sich Descartes sicher. In dem Punkt meint er, festen Boden unter den Füßen zu haben. Und alles weitere, was er sonst noch als „wahr“ und „wirklich“ ansieht, verdankt dies dem denkenden Subjekt, das den Dingen nach kritischer Prüfung Wahrheit und Wirklichkeit zuerkennt. Entscheidend „neuzeitlich“ ist die Perspektive, die der Philosoph dabei einnimmt. Er ist zunächst nur seiner selbst sicher. Er traut allein seinem eigenen Urteilsvermögen. Und erst im zweiten Schritt traut er dann auch den Dingen und den Überzeugungen, die vor seinem Urteilsvermögen Bestand haben. Abgesehen vom Denkenden selbst ist die Geltung aller Dinge von seinem Urteil abgeleitet. Und weil wir selbst Kinder der Neuzeit sind, kommt uns dieser Ansatz auch ganz selbstverständlich und natürlich vor. 

Das Wertvolle gelangt für mich nur in den Status des Wertvollen, wenn ich es als „wertvoll“ anerkenne. Das Wahre werde ich nur als wahr ansehen, wenn ich es vor dem Forum meiner Vernunft als „wahr“ beurteilt habe. Und das Schöne würde ich nicht schön nennen, wenn ich es nicht selbst „schön“ fände. Wer dem neuzeitlichen Ansatz folgt, hat keine andere Wahl, als bei sich selbst anzufangen und alles weitere an dem Maßstab zu messen, der er selbst ist. Sein kritischer Sinn ist schließlich das einzige Werkzeug, dem er traut! Und als aufgeklärter Mensch würde er sich schämen, etwas für wahr zu halten, das er nicht mit dem eigenen Verstand geprüft hat. Wenn alles dem Zweifel unterliegt, kann es keine andere Autorität geben als die, die ich durch meinen Vernunftbesitz selbst bin. Und ich schulde es dann auch mir selbst als vernunftbegabtem Wesen, mich im Gebrauch meiner Vernunft nicht von anderen bestimmen oder leiten zu lassen. Denn das denkende Subjekt versteht sich als „autonom“ in dem Sinne, dass es keinem anderen Gesetz unterliegt als nur dem, das ihm selbst innewohnt. Und das ist nun mal die menschliche Vernunft – oder das was der Einzelne dafür hält… 

Zweifellos hat diese Denkungsart großes kritisches Potential. Und mit ihrer Hilfe konnte tatsächlich viel Unsinniges entlarvt und überwunden werden. Sie erlaubte den Untertanen, den absolutistischen Staat zu hinterfragen. Und sie half verängstigten Völkern, ihren Aberglauben abzulegen. Sie befreite die Wissenschaft von Denkverboten und revolutionierte soziale Systeme. Denn in der Neuzeit herrscht der Grundsatz, dass nichts gilt, dessen Geltung sich nicht begründen lässt. Nur die Ordnung ist als legitim anzusehen, die ihre Legitimität nachweist und in kritischer Prüfung bewährt. Das ist ein kraftvolles Werkzeug, mit dem sich viele Ketten sprengen lassen! 

Aber die Sache hat auch einen Haken. Denn dass unser menschliches Urteilsvermögen der ihm zugewiesenen Aufgabe überhaupt gewachsen ist, wird bei alledem mehr vorausgesetzt als bewiesen. Das Subjekt schüttelt die anderen Autoritäten nur ab, indem es sich selbst zur obersten Autorität erhebt. Es gewinnt Freiheit nur durch völlige Bindung an sich selbst. Es zieht alle Macht an sich, wird zum Gesetzgeber und Richter in eigener Sache, erklärt sich für souverän und hinterfragt dann alles außer dieser Anmaßung. Alles andere bedarf der Begründung! Aber das „Ich“ als die Instanz, die Begründungen verlangt, begründet das Recht seiner Forderung nur damit, dass es anderen Instanzen nicht trauen könne. Es zweifelt an allem, außer an der Berechtigung der eigenen Zweifel. Und während der Mensch meint, damit eine uneinnehmbare Festung zu beziehen, hat er sich zugleich in ein Gefängnis eingemauert. Denn seine Autonomie ist auch eine Falle. Er kann sich nicht mehr „fremdbestimmen“ lassen, denn er hat den Grundsatz verinnerlicht, dass nur gelten darf, was seine eigene Einsicht gelten lässt. Und von diesem Standpunkt kommt er selbst Gott gegenüber nicht mehr herunter. Denn für Gegebenheiten, die den Horizont seines menschlichen Urteils überschreiten, ist er jetzt weitgehend blind. 

Der neuzeitliche Mensch will sich an Regeln halten, denen er zugestimmt hat, und will Wahrheiten vertreten, die ihm einleuchten, er will als „gut“ anerkennen, was ihm „gut“ vorkommt, will Ziele verfolgen, die ihm lohnend erscheinen, und Pläne umsetzen, die er begreifen kann. Das klingt als wär‘s nur recht und billig! Aber ist die Wirklichkeit auch geneigt, sich den vom Subjekt gesetzten Bedingungen zu fügen? Lässt sie sich durch das Nadelöhr subjektiver Billigung zwängen? Oder lacht sie über den beschränkten Geist, der sich da zu obersten Instanz und zum Maß aller Dinge erhoben hat? Es dürfte sicher sein, dass die Wirklichkeit nicht dort aufhört, wo menschliches Begreifen endet. Warum sollte sie auch? Was wahr ist, bleibt auch dann wahr, wenn es nicht jedem einleuchtet. Die Gesetze eines Staates gelten auch für die Bürger, die ihnen nicht zugestimmt haben. Frauenrechte können „gut“ sein, auch wenn sie manchen Männern nicht „gut“ vorkommen. Und wer nur Pläne umsetzen will, die er restlos verstanden hat, ist als Mitarbeiter einer großen Firma nicht zu gebrauchen. Es gibt einfach Dinge, die meine Zustimmung nicht nötig haben. Sie kümmern sich um mein Bedürfnis nach Autonomie so wenig, wie es die Schwerkraft kümmert, ob ich fallen möchte! Und am schwersten wiegt der Konflikt dort, wo das vermeintlich souveräne menschliche Subjekt seinem Schöpfer begegnet. 

Denn der fängt nicht erst an Gott zu sein, wenn der Mensch sich davon überzeugen lässt. Der menschliche Glaube macht ihn nicht zu Gott, sondern erkennt ihn nur als Gott. Und in eben dieser Erkenntnis kollabiert das Selbstverständnis des „modernen“ Menschen. Denn wenn Gott Gott ist, ist er die alles bestimmende Wirklichkeit, der gegenüber menschliche „Selbstbestimmung“ nur Illusion oder Anmaßung sein kann. Schöpfer und Geschöpf befinden sich nie auf Augenhöhe, sondern zwischen ihnen besteht ein unaufhebbares Gefälle, das, sobald man es erkennt, eine entsprechend veränderte Haltung fordert. Ist Gott der Herr, so kann ich ihm nicht begegnen als wäre er Meinesgleichen. Ist Gott mein Richter, kann ich nicht so tun als unterläge er meiner Beurteilung. Und ist Gott die Wahrheit, kann ich die Anerkennung dieser Wahrheit nicht an Bedingungen knüpfen. Jede Form der Selbstbehauptung gegenüber Gott steht im Widerspruch zu der Erkenntnis, dass er das Recht des Schöpfers auf seiner Seite hat. Und wer Gott in seiner Gottheit erkennt, hat daher gar keine andere Wahl als seine menschliche Autonomie in fröhlicher Theonomie untergehen zu lassen. Es gibt keine andere Art, wie wir der Rollenverteilung zwischen Gott und uns entsprechen könnten. Bedingungslose Kapitulation ist der einzige Weg, der Situation gerecht zu werden. Darum gesteht der Glaube überwältigt zu sein, gibt Gott hin, was Gott sowieso gehört, und verzichtet auf alle sichernde Distanz, weil jede Abgrenzung Gott gegenüber nur Realitätsverweigerung oder Unrecht sein könnte. 

Der Glaube pocht nicht auf Selbstbestimmung, sondern bejaht fröhlich seine Fremdbestimmung durch Gott. Er lässt seinen Willen im Willen Gottes aufgehen und gewinnt dabei jene Einheit mit dem Vater, in der die Bestimmung des Menschen liegt. Seine innere Haltung kann dabei aber nicht mehr die des neuzeitlichen Subjektes sein. Denn der Gläubige reklamiert gerade nicht die Kontrolle (weder über sein Denken noch über sein Leben), sondern gibt diese Kontrolle willig und sorglos an den barmherzigen Vater ab. Er hält sich nicht mehr selbst für die höchste Instanz und vertraut dem eigenen Urteilsvermögen nicht mehr blind. Denn der Gläubige weiß, dass Gottes Gebote auch dann gelten, wenn sie ihm nicht einleuchten, dass Gottes Pläne richtig sind, auch wenn er sie nicht versteht, und dass er Gottes Wahrheit durch seine Zustimmung weder etwas hinzufügen noch etwas wegnehmen kann. 

Natürlich hört der Glaube deswegen nicht auf, sich seines Verstandes zu bedienen! Er benutzt ihn aber nicht, um Gott etwas vorzudenken, sondern um Gottes Gedanken nachzudenken. Er urteilt nicht selbstgewiss und naseweis über Gottes Wort, sondern sitzt als Schüler zu seinen Füßen. Und wenn er etwas nicht versteht, kreidet er das nicht der Heiligen Schrift an, sondern seinem eigenen beschränkten Verstand. Denn es scheint ihm nicht wahrscheinlich, dass der allwissende Gott, wenn er seiner Menschheit etwas Wichtiges mitteilen will, sich dabei unklar ausdrückt, lispelt, lallt oder stottert… 

Wie jemand sehr richtig bemerkte: Eine Wahrheit begriffen zu haben und von einer Wahrheit ergriffen zu sein – das sind verschiedene Dinge. Und gerade in der Theologie bestätigt sich, wie groß der Unterschied ist. Denn ein kluger Kopf kann das Evangelium durchaus begreifen, ohne daran zu glauben. Das aktive Begreifen, das sich des untersuchten „Gegenstandes“ intellektuell bemächtigt, hebt die innere Distanz nicht auf! Ist der Theologe aber als Christ vom Evangelium ergriffen, geht in diesem ganzheitlichen und passiven Widerfahrnis alle Distanz unter. Der „Forschungsgegenstand“ hinterfragt plötzlich den Forscher. Der, der sich ein Urteil bilden wollte, sieht sich von Gott beurteilt. Und wenn er Gottes unbedingten Vorrang anerkennt, führt ihn das zwangsläufig über das autonome Selbstverständnis des neuzeitlichen Subjekts hinaus. 

Der Glaube lässt den Menschen nicht, wie er war, sondern wandelt ihn grundlegend, wandelt dabei sein Selbstverständnis – und nicht zuletzt die Voraussetzungen seines Denkens. Wenn das aber zum Glauben notwendig dazugehört, wie kann dann „liberale“ Theologie die Denkvoraussetzungen vorgläubiger Subjektivität beibehalten und sie zum kritischen Maßstab der Glaubenslehre erheben? Darin liegt ein Widerspruch, an dem das Projekt liberaler Theologie scheitern muss, weil es zwei Elemente zusammenzwingt, die ohne grundlegende Wandlung keine Synthese eingehen können. Jenes menschliche Subjekt, das sich selbst als die einzig zweifelsfreie, höchste Instanz ansieht, und jener Gott, der tatsächlich die höchste Instanz und die Wahrheit selber ist, finden so nicht zusammen, wenn nicht eine der beiden Seiten eine Veränderung erfährt. Der an allem zweifelnde Mensch, der nur sich selbst vertraut, und jener Gott, der allein Vertrauen verdient, sind einfach nicht kompatibel. Denn der neuzeitliche Mensch will unbedingt Herr des Verfahrens bleiben. Gott aber, der in Wahrheit sein „Herr“ ist, kann sich diesem Menschen nicht erschließen, ohne ihm dabei die Illusion seiner Autonomie zu nehmen. Gott wird gar nicht erkannt, wenn der Mensch ihn nicht als seinen Herrn erkennt und die Kontrolle an ihn abgibt. Nur so kommen die beiden zusammen! Denn solange ein Mensch meint, es sei seinem Gutdünken überlassen, sich über Gott diese oder jene Meinung zu bilden, hat er noch nicht verstanden, was das Wort „Gott“ bedeutet. Versteht er aber, was es bedeutet, und mit wem er da zu tun hat, ist‘s im selben Moment auch mit der souveränen Distanz vorbei, und die Rollen kehren sich um. Jene Autonomie, auf die der „moderne“ Mensch sich versteift, kann es Gott gegenüber nicht geben. Entweder erhebt sich der Mensch zum Herrn, oder er beugt sich seinem Herrn. Entweder bleibt er bei sich, oder er gibt sich hin. Wenn ihm aber zum einen wie zum anderen der Mut fehlt, weil er weder Fisch noch Fleisch sein mag, genau dann fängt er an liberale Theologie zu betreiben.

Da ringt er dann mit großem Aufwand um den Nachweis, dass die Autonomie des Menschen doch irgendwie zusammen mit der Hingabe an Gott bestehen könne. Und seine Überzeugung, zwischen den beiden müsse ein Kompromiss möglich sein, erhebt er zum theologischen Programm. Denn er meint damit der Christenheit einen Gefallen zu tun. Liberale Theologie ahnt, dass viele Menschen, wenn sie sich zwischen ihrer Autonomie und dem Glaube entscheiden müssten, die Autonomie wählen würden. Und sie versichert ihnen darum eilig, dass es einer solchen Entscheidung nicht bedürfe. Um die Religion in die Moderne hinüberzuretten, willigt sie ein, die Religion nur noch in den Grenzen der Vernunft zu betreiben. Und in der Glaubenslehre soll darum nur gelten, woran die Gebildeten keinen Anstoß nehmen. Liberale Theologie betreibt eine Schriftauslegung, die alles für „unecht“ oder „redaktionell“ hält, was sie nicht selbst als „echt“ erwiesen hat. Sie verkündigt eine Frohbotschaft, die jeder leicht glauben kann, weil sie nur solche Sätze entschieden vertritt, die auch der Vernunft eingehen. Und sie beschränkt sich auf eine Ethik, die lediglich wiederholt, was Sitte, Humanität und Staatsgesetz sowieso schon gebieten. 

Natürlich soll auch in der liberalen Theologie Gottes Wort gelten! Aber doch erst, wenn sie es auf ihre Weise zeitgemäß gereinigt und angepasst hat! Natürlich bindet sie Gottes Gebot! Aber freilich nur in dem, was sie daran selbst relevant, human und vermittelbar findet! Natürlich soll man glauben! Aber doch nur das, was keinem begründeten Zweifel unterliegt! Sicher gilt das biblische Wort! Aber doch bloß, wenn’s niemand wörtlich nimmt! Sollte der chemisch gereinigte Glaube aber immernoch Geheimnisse bergen, dann bitte nur solche, die dem aufgeklärten Menschen zugemutet werden können. Denn der hat sich die Kniffe der liberalen Theologie längst abgeschaut, kultiviert seinen kritischen Vorbehalt in Glaubensdingen und benutzt ihn fleißig, um jede klare Ansage Gottes in einen diskutablen Vorschlag zu verwandeln. 

Es ist dann nicht die Schrift, die sich selbst auslegt, sondern das menschliche Subjekt, das sich nach gehöriger Bedenkzeit die biblischen „Anregungen“ heraussucht, die ihm „etwas sagen“. Und jeder merkt, dass die neuzeitliche Denkungsart dabei keineswegs aufgegeben, sondern beibehalten wird. Denn wer hat bei alledem das Heft in der Hand? Wer hat die Deutungshoheit über Gottes Wort? Wessen Weltanschauung bildet den Filter, durch den man das Evangelium presst? Wer sortiert die biblischen Verse, um den Kern von der Schale, den Inhalt von der Form und das ewig Gültigen vom Zeitbedingten zu trennen? Ist es nicht nach wie vor das menschliche Subjekt, das da über seinen Glauben die Kontrolle behält? Ist es nicht der Jünger, der selbst den Umfang und die Grenzen seiner Nachfolge definiert? Ist es nicht der theologisch gewitzte Schüler, der darüber entscheidet, was Gottes Wort ihn lehren darf? Und sollte Gott sich wirklich darüber freuen, wenn „moderne“ Gläubige dann unter vielen einschränkenden Klauseln und Vorbehalten zuletzt die Güte haben, ihn als ihren Gott in Erwägung zu ziehen? 

Ohne Umschweife gesagt: Es ist die Lebenslüge der liberale Theologie, dass sie sich mit Christentum waschen will, ohne dabei nass zu werden. Sie will sich vor Gott beugen, ohne dabei den Rücken krumm zu machen. Und obwohl der Schwindel offensichtlich ist, soll ihn keiner beim Namen nennen. Denn dass einer Gottes Diener wird und dabei heimlich doch sein eigener Herr bleibt (weil er sich ja – den Glauben frei wählend – selbst zu Art und Umfang dieses Dienstes bestimmt), ist ein Unding. Wenn der Mensch Gottes Geboten folgt, weil und insofern seine Vernunft mit diesen Geboten übereinstimmt, ist das nicht wirklich Gehorsam. Wenn einer Gottes Wort gelten lässt, weil und insofern er es geprüft und für „zeitgemäß“ befunden hat, betrügt er sich selbst. Und wenn er nur die Wunder glaubt, die er sich im Rahmen der Naturgesetze noch irgendwie “vorstellen“ kann, treibt er mit Gott Scherze. Denn genau genommen hat so einer ja kein Vertrauen zu Gott, sondern hat primär Vertrauen zu sich selbst – und erst dann in abgeschwächter und sekundärer Weise auch zum Allmächtigen. Er glaubt mehr an seine eigene Urteilskraft als an Gott, und simuliert Christentum, ohne damit ernst zu machen…

Was ist der „modernen“ Theologie also vorzuwerfen? Es ist nicht etwa dies, dass sie bei den Denkvoraussetzungen der Neuzeit ansetzt, sondern nur, dass sie nicht darüber hinausführt! Es ist nicht falsch, den modernen Menschen dort abzuholen wo er mit seinen ängstlichen Zweifeln und seiner Vernunftautonomie steht. Aber es ist falsch, ihn dort zu lassen! Denn Selbstbestimmung ist ein Ausgangspunkt, auf dem man nicht verharren kann, wenn man den Weg des Glaubens beschreiten will. Man kann sich nicht Gott in die Arme werfen und gleichzeitig reflexive Distanz zu ihm bewahren wollen. Denn bleibe ich bei mir, komme ich bei ihm nicht an. 

Warum aber ist das so? Warum kommt dem Glauben die Distanz notwendig abhanden? Es liegt einfach daran, dass wirklicher Glaube nicht als Schlussfolgerung oder Entscheidung aus dem souveränen Vernunftgebrauch des Menschen erwächst, sondern sich ohne solche Legitimation oder Ableitung als Größe eigenen Rechts und als neue Voraussetzung des Vernunftgebrauchs etabliert. Wo Gottes Geist das Ruder übernommen hat, bestimmt weniger das Denken den Glauben, als der Glaube das Denken. Denn echter Glaube ist der Vernunft gegenüber die tiefer liegende und fundamentalere Größe. Damit kommt das neuzeitliche Subjekt nicht klar. Es protestiert. Und doch ist einzusehen, weshalb das Verhältnis nicht anders sein kann:

Was immer ein Mensch aus Voraussetzungen ableitet, ist weniger gewiss, als diese Voraussetzungen, und weniger gewiss, als der Mensch, der es ableitet, denn der Prozess des Ableitens kann fehlerhaft sein. Jede Folgerung ist nur so belastbar, wie ihre Voraussetzungen richtig sind. Und bevor der Denkende seinen Folgerungen traut, muss er sich und seinem Denken trauen. Die Geltung des Gefolgerten ist immer nur sekundär, und seine Autorität von dem geliehen, der (hoffentlich richtig) gefolgert hat. Wenn demnach der Glaube eine Schlussfolgerung wäre oder ein Resultat souveräner Entscheidung, bliebe er vom Urteilsvermögen des menschlichen Subjekts immer abhängig und hätte nur den relativen Grad von Gewissheit, den man menschlichem Urteil zutrauen darf. Der Denkende behielte den Vorrang vor dem Gott, den er sich denkt – und das neu-zeitliche Subjekt behielte die Oberhand! 

Doch der Vorrang des Denkenden und seiner Skepsis steht in klarem Widerspruch zu allem, was der Glaube erlebt und bezeugt. Ist Gott tatsächlich die alles bestimmende Wirklichkeit, so leitet er sich nicht von uns ab, sondern wir von ihm. Wir begründen ihn dann nicht, sondern er begründet uns. Seinem Wort entspringt unser Dasein und unser Erkennen. Er ist die Voraussetzung, wir die Folgerung. Und wenn das stimmt, kann die Aufgabe der Theologie nicht darin bestehen, sich erst mal selbst zum Glauben zu überreden, sondern nur darin, unter Voraussetzung des Glaubens verstehend nachzubuchstabieren, was Gott über uns und sich selbst gesagt hat. Steht und fällt der Glaube mit irgendwelchen Argumenten (die uns heute einleuchten und morgen vielleicht schon nicht mehr), so ist es der Mensch, der seinen Glauben trägt und begründet. Wirklicher Glaube aber trägt und begründet den Menschen! Wirklicher Glaube ist kein Denkergebnis, sondern eine neue, durch Gottes Geist geschenkte Denkvoraussetzung. Er ist nicht die wohltemperierte „religiöse Ansicht“, die ein menschliches Subjekt sich leistet, sondern ein von Gott kommender Impuls, der den Gläubigen von sich selbst fortreißt und ihn extern neu gründet in Gott. 

Und genau diesem Sachverhalt wird die modern-liberale Theologie nicht gerecht, wenn sie suggeriert, der Standpunkt autonomer Selbstbestimmung ließe sich Gott gegenüber beibehalten. Denn der Schöpfer befindet sich mit seinen theologisierenden Geschöpfen zu keiner Zeit auf Augenhöhe und überlässt ihnen auch nie die Deutungshoheit über die göttlichen Dinge. Vielmehr muss das menschliche Subjekt die Kränkung hinnehmen, dass ihm im Glauben keine tragende und aktive Rolle zufällt, sondern eine leidende und passive. Das menschliche Subjekt verschafft und ergrübelt sich keine Glaubensgewissheit, sondern bekommt sie geschenkt. Unter dem Einfluss des Heiligen Geistes hört der Mensch lediglich auf, der Wahrheit Gottes zu widerstreben, die ganz unabhängig von seinem Räsonieren ist, wie sie ist! Er bekommt damit ein so festes Fundament unter die Füße, wie er es selbst nie hätte legen können! Und wenn er – von Gottes Geist überführt und überwunden – auch keineswegs aufhört zu denken, denkt er doch künftig als Überwundener und leugnet nicht etwa die „Fremdbestimmung“, die zum Glauben dazugehört, sondern bejaht sie… 

Noch einmal sei es betont: Der modernen Theologie ist nicht vorzuwerfen, dass sie vom radikalen Zweifel des menschlichen Subjekts ihren Ausgang nimmt. Denn das mag als Geburtsfehler gelten, den in der Neuzeit alle teilen. Dass diese Theologie aber bei Gott angekommen den Fehler nicht ablegen will, sondern auf der Schwelle verharrt und die gläubige Hingabe an Bedingungen knüpft, um dann Autonomie und Theonomie zu einem undeutlichen Quark zu verrühren – das ist übel. Denn was heißt das anderes, als Gott zu begegnen und sich doch nicht zu beugen? Was heißt es anderes, als zwei Herren zu dienen, die dann beide nicht zu ihrem Recht kommen? 

Man kann Gott nicht ganz nahe sein, ohne gänzlich von ihm bestimmt zu werden. Und wenn man es doch versucht, kommt nichts Gutes dabei heraus. Statt zu glauben, räsoniert man über den Glauben. Statt zu beten, führt man einen Diskurs darüber. Statt Skepsis zu überwinden, kultiviert man sie. Und am Ende ersetzen Erwägungen über Religion den religiösen Vollzug. Die liberale Theologie ist wild entschlossen, ihre Loyalität zwischen Gott und der säkularen Vernunft aufzuteilen, um dann im Widerstreit der beiden selbst den Schiedsrichter zu geben, der angeblich Glaube und Vernunft „versöhnt“, tatsächlich aber nur faule Kompromisse mit dem Unglauben schließt. 

Mit dieser Haltung dementiert Theologie das, wofür sie einstehen sollte. Darum kann ich da nicht mitgehen und halte mich lieber an die Theologie der Reformatoren, bei denen die Christenheit eines Tages wieder anknüpfen wird, wenn sie den modernen Irrweg als solchen erkannt hat. Es mag heute die Mehrheit sein, die sich im Niemandsland zwischen Glaube und Skepsis wohlfühlt. Aber davon, dass ihn so viele gehen, wird der falsche Weg nicht richtiger. Es bleibt unverschämt, Gott die Menschenvernunft hinzuhalten als das Stöckchen, über das er springen soll! Wer das aber lang genug beobachtet, wird den Verdacht nicht mehr los, dass Dávila Recht hat: „Die modernen Theologien sind gewöhnlich Verrenkungen, die der Theologe anstellt, um sich nicht selbst seinen Unglauben eingestehen zu müssen.“

 

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Esau Selling His Birthright

Hendrick ter Brugghen, Public domain, via Wikimedia Commons