Anonyme Christen?

Anonyme Christen?

Haben sie mal den Ausdruck gehört, jemand sei ein „praktizierender“ Katholik? Das ist eine Wendung, die immer mal wieder begegnet. Doch wenn ich sie höre, frage ich mich, was dann wohl die anderen sind. Der eine soll ein „praktizierender Katholik“ sein. Und die anderen sind dann – was? Sind das Katholiken im „Stand-by-Modus“? Sind die gerade „offline“? Oder sind sie nur „rein theoretisch“ Katholiken? „Outen“ sich praktizierende Katholiken, während die anderen „inkognito“ bleiben? Oder haben die irgendwo an ihrem Glauben die Pausentaste gedrückt? Ich frage mich dann, wie das gehen soll. Denn natürlich kenne ich Ärzte, die zeitweise nicht praktizieren, kenne auch Tänzer, die nicht immer tanzen, und Musiker, die eine Weile nicht spielen. Die können ihre erlernte Fertigkeit jederzeit wieder ausüben! Doch was soll ein „nicht-praktizierender“ Christ sein? Etwa einer, der glauben könnte, wenn er mal wieder Zeit dazu fände? Oder einer, der die Kunst des Christ-Seins beherrscht, aktuell aber keinen Gebrauch davon macht? Natürlich weiß ich, wie der Ausdruck gemeint ist: Der nicht-praktizierende Christ gehört bloß formal seiner Kirche an, der praktizierende richtet sein Leben daran aus – das will der Ausdruck sagen! Doch liegt darin ein Missverständnis, wenn man den „nicht-praktizierenden“ trotzdem als „Christen“ bezeichnet. Denn christlicher Glaube ist keine Fertigkeit, die man „theoretisch“ noch zur Verfügung hat, auch wenn man sie „praktisch“ nicht nutzt. Sondern wenn ein Mensch seinen Glauben nicht lebt, dann hat er eben keinen. Und umgekehrt – wenn er einen Glauben hat, darf man davon ausgehen, dass er ihn auch irgendwie lebt und praktiziert. Christ-Sein ist nichts, was man zu Weihnachten aus der Schublade ziehen und an Silvester wieder wegpacken kann. Vielmehr: Einen Glauben, den man nicht lebt, hat man verloren – weil es Religion als „Konserve“ genauso wenig gibt wie eine vorübergehend „inaktive“ Liebe. Ein Liebender, der nicht liebt, hat aufgehört, ein Liebender zu sein. Er kann seine Liebesbeziehung nicht „auf Eis legen“, ohne sie damit preiszugeben. Und so eine Beziehung ist der christliche Glaube eben auch. Er ist liebende Hingabe an Gott. Und dass man davon nichts merken sollte, ist so unwahrscheinlich, wie dass einer heftig verliebt wäre, ohne dass es sich irgendwie zeigt. Denn was uns innerlich ergreift, das äußert sich auch. Und wo sich nichts äußert, weil einer nichts von dem lebt, was zum Christ-Sein gehört, da ist er eben kein Christ. Nur kann man das kaum aussprechen, ohne dass sich jemand empört. Denn viele sind der Meinung, wenn sie getauft wurden, sei das für den Rest ihres Lebens genug. Sie verstehen ihre Zugehörigkeit zur Kirche wie eine Mitgliedschaft im Golfclub, die zwar Geld kostet, sie aber nicht wirklich verpflichtet Golf zu spielen. Man kann auch seinen Beitrag zahlen – und das Golfen den anderen überlassen! Doch davon, dass ich mir Turnschuhe kaufe, bin ich noch kein Sportler. Der Aufenthalt in einer Garage macht mich nicht zum Auto. Und so kann auch niemand auf „rein theoretische Weise“ religiös sein. Denn Glaube ist Hingabe. Und wo die einen Menschen erfasst, manifestiert sich das in konkretem Verhalten. Oder sehen wir das nicht bei den Anhängern ganz anderer Leidenschaften? Wenn jemand ein Fußballfan ist, wendet er Zeit auf, um möglichst viele Spiele seines Vereins zu besuchen. Der scheut dann keine Kosten für die Anreise und den Eintritt! Er besorgt sich nicht nur ein Trikot seines Lieblingsspielers, sondern schenkt auch seinen Kindern welche. Er trägt einen Schal in Vereinsfarben. Wenn er jemanden findet, mit dem er über die Liga-Ergebnisse reden kann, wird ihm die Zeit nie zu lang. Und da er sich ständig mit Fußball beschäftig, wird er auch ganz von selbst zum Experten, der die Vereinsgeschichte auswendig kennt. So ist das mit echter Hingabe! Und warum sollte es bei Christen anders sein? So wie der Fußballfan wendet auch ein Christ Zeit auf und will sonntags in seiner Kirche nicht fehlen. Wie der Fußballfan auf seinen Verein stolz ist, so verschweigt ein Christ seinen Glauben nicht, sondern redet gern darüber. Was dem Fan sein Schal, ist dem Christen vielleicht der Fisch auf dem Auto oder das Kreuz an der Wand. Und wie ein Fußballfan fährt er gern dorthin, wo sein Verein gegründet wurde – macht also Pilgerfahrten nach Jerusalem oder Rom. Wie ein Fan ganz von selbst zum Experten für seinen Sport wird, so wächst beim Christen über die Jahre ein immer tieferes Verständnis der Bibel. Und wie der Fan sein Bier am liebsten im Vereinslokal trinkt, weil dort alle so „ticken“ wie er, sucht auch der Christ die Gemeinschaft verwandter Seelen. Denn was unser Herz erfüllt, das äußert sich ganz von selbst und wird auf irgendeine Weise „praktisch“, ohne dass man den Menschen lange drängen müsste. Bei dem einen zeigt es sich so und bei dem anderen anders – aber bei jedem irgendwie. Wenn dagegen einer sagt, er sei ein großer Fan seines Vereins, kennt aber den Namen keines einzigen Spielers – glauben wir ihm dann? Er hat seit Jahren kein Spiel besucht? Er kennt die Hymne nicht, die in der Fankurve gesungen wird? Gespräche über Fouls und Schiedsrichterfehler langweilen ihn? Und vom letzten Trainerwechsel weiß er nichts? Wer würde dem abnehmen, dass er wirklich ein Fan sei? Ebensowenig glaubhaft ist ein „nicht praktiziertes“ Christentum. Denn wer nach Jesus nicht fragt und zum Beten keine Zeit hat, wer die Kirche nicht betritt und um alle Gemeindekreise einen Bogen macht, wer von der Bibel nichts weiß und auch nichts wissen will, wer die Feste nicht feiert und schon ewig nicht mehr beim Abendmahl war – was für ein Christ soll das bitte sein? Etwa einer, der „inkognito“ unterwegs ist? Oder einer, der noch auf den richtigen Moment wartet, um sein „Coming-out“ als Christ zu erleben? Es ist nicht als Vorwurf gemeint! Aber wenn ich nicht reite, nicht schwimme und nicht fliege – sollte ich mich dann einen „Reiter“, einen „Schwimmer“ oder einen „Flieger“ nennen? Bloß im Stillen zu vermuten, es gäbe ein „höheres Wesen“, ist nicht Glaube im Sinne des Neuen Testaments. Der erfordert Hingabe! Und wo ein Mensch von dieser Leidenschaft ergriffen ist, schenkt er seinem himmlischen Gegenüber auch Zeit und Aufmerksamkeit. Das, woran unser Herz hängt, findet auch Raum in unserem Leben. Und was im Leben keinen Raum findet, daran hängt in Wahrheit nicht unser Herz. Dass ein Christ aber für das, was ihn bewegt, keinen passenden Ausdruck fände, ist schwer zu glauben. Denn ganz nach persönlicher Neigung kann er Gottesdienste besuchen, Kerzen entzünden, religiöse Kunst betrachten, Bibel lesen, gesellig sein, sich theologisch bilden, im Kirchenvorstand mitarbeiten, im Kirchenchor singen oder sich mit der Biografie von Glaubenszeugen beschäftigen. Man kann sich in einem Hauskreis austauschen oder diakonische Aktionen starten. Man kann Seelsorge üben, Wachen, Beten, Meditieren, Fasten, Schweigen, Musizieren, Pilgern, Segnen, Missionieren, Fürbitte halten, Erbauliches lesen, Abendmahl feiern, Ehrenämter übernehmen oder schöne Kirchen besichtigen. An Ausdrucksformen des Glaubens herrscht wahrlich kein Mangel! Wer aber diese praktischen Ausdrucksformen weder kennt noch nutzt – ist der wohl heimlich ein „Fan“? Das Ding ist so groß wie eine Ente, es läuft wie eine Ente und quakt wie eine Ente? Wird es wohl eine Gazelle sein? Der Mann redet wie ein Heide, lebt wie ein Heide und bekennt sich dazu? Wird er wohl insgeheim Christ sein? 

Die Sache ist klar genug. Warum scheuen wir uns aber, die Dinge beim Namen zu nennen? Vielleicht weil wir selbst nur auf halbherzige Weise glauben und fürchten, dass wir dem Bild lebendigen Christ-Seins selbst nicht entsprechen? Vielleicht weil wir‘s im Bewusstsein eigener Defizite unpassend fänden, anderen Leuten das Christ-Sein „abzusprechen“, in deren Seele wir doch nicht hineinschauen? Oder vielleicht weil wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass mancher auf heimliche Weise gläubiger ist, als er nach außen hin scheint? Tatsächlich verunsichert uns das, wenn wir sympathische und hilfsbereite Menschen treffen, die nach eigenem Bekunden nicht gläubig sind – und dennoch im Sinne Jesu handeln. Man fühlt sich ihnen verwandt und staunt, weil manche von ihnen die „christlichen Werte“ konsequenter leben als wir. Ja, man hat den Eindruck, sie wären eigentlich Christen, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Gern unterstellt man dann, das seien „anonyme Christen“ und in der Tiefe ihres Herzens wüssten sie sehr wohl von Gott – nur wüssten sie eben nicht, dass sie von ihm wissen. So möchte man sie für die gute Sache der Christenheit vereinnahmen. Doch liegt darin ein Denkfehler. Denn man vergisst, dass ein Mensch nicht dadurch zum Christen wird, dass er besonders moralisch lebt, sondern dadurch, dass er (an der eigenen Moralität verzweifelnd) sein Heil bei Christus sucht. Bonhoeffer sagt es ganz deutlich: „Christ ist der Mensch, der sein Heil, seine Rettung, seine Gerechtigkeit nicht mehr bei sich selbst sucht, sondern bei Jesus Christus allein.“ Und das macht den Unterschied zwischen einem sympathischen Heiden und einem vielleicht eher unangenehmen christlichen Bruder. Der Letztere wird dadurch zum Christen, dass er nicht bloß im Allgemeinen Gerechtigkeit, Heil und Frieden sucht, sondern das alles in Christus sucht. Sein Streben nach Sanftmut, Güte und Demut ist vielleicht nicht von Erfolg gekrönt, aber es findet seinen Antrieb in Christus. Und wenn ihn jemand nach seiner Daseinsberechtigung fragt, verweist er nicht auf seine Verdienste, sondern wiederum auf Christus. Ein Christ lebt überhaupt nicht aus sich selbst, sondern lebt von Gottes Wort als der externen Quelle seines Trostes und seiner Kraft. Das ist die Bindung, die ihn bindet, das ist der Halt, der ihn hält! Und mit dem humanistischen Ideal eines edel gesinnten „guten Menschen“ hat das rein gar nichts zu tun – sondern im Gegenteil ist Christentum eher etwas für Leute, die bereits an all ihren Idealen gescheitert sind. Genau darum suchen sie ihr Heil nur noch bei Christus. Und wie sollte es zugehen, dass einer das von sich selbst nicht wüsste? Nein – bei allem Respekt vor hilfsbereiten, ethisch vorbildlichen Heiden – man ist nicht Christ, ohne etwas davon zu merken! Denn die Hingabe an Gott äußert sich zwar je nach Veranlagung mal so und mal anders. Sie äußert sich aber bei jedem Christen irgendwie. Und aus welchem Grund sollte ein gläubiger Mensch dann verschmähen, was Christus ihm nahelegt – wie etwa das Gebet, die Gemeinschaft, die Sakramente und das Bibellesen? Mitmenschlichkeit ist schön und lobenswert. Aber Mitmenschlichkeit ohne Gott ist kein Glaube. Und darum kann das Konzept des „anonymen Christ-Seins“ nicht überzeugen. Christlicher Glaube ist keine so diffuse „Einstellung“, dass er leicht übersehen oder dem Betreffenden „unbewusst“ bleiben könnte. Glaube wird sichtbar in der Gemeinschaft mit anderen Christen gelebt, weil sich der Einzelne nicht selbst segnen oder trösten, ermahnen oder taufen kann. Man ist auf die Dauer auch nicht Christ, ohne dass es irgendwer merkt. Und so sollten wir keine Menschen vereinnahmen, die das gar nicht möchten, und sie zu „Christen ehrenhalber“ ernennen, nur weil sie freundlich und guten Willens sind. Zu offenkundig ist da der Wunsch der Vater des Gedankens. Denn wenn eine Fußballmannschaft im eigenen Stadion vor leeren Rängen spielt, und der Trainer behauptet hinterher, sein Verein hätte jede Menge Fans, es seien aber „nicht-praktizierende“ und „anonyme“ Fans – nehmen wir ihm das ab? Wenn er stolz verkündet, eigentlich seien alle Anhänger seines Vereins, es wäre den Leuten nur nicht bewusst, denn sie wären Fans auf „heimliche“ Weise – lachen wir dann nicht? Sie sind fast alle Fans, aber selbst zum Heimspiel kommen sie nicht? Sie sind Fans, aber bei einem Sieg jubeln sie nicht? Kirche darf sich solchen Illusionen nicht hingeben. Denn, dass im Grunde alle Menschen Christen wären (und sie wüssten es nur nicht), dass es eigentlich alle wären (und sie praktizierten es nur nicht), dass es letztlich alle wären (aber nur auf „anonyme“ Weise) – das ist Unsinn. Es gibt zwischen Christen und anderen Menschen deutlich erkennbare Unterschiede. Und dem Neuen Testament zufolge ist auch nicht egal, auf welcher Seite einer steht, sondern genau darauf kommt’s an. Christus kennt die Seinen, und die Seinen kennen ihn (Joh 10,1-30). Die Übrigen aber gilt es nicht ungefragt zu umarmen und zu vereinnahmen, sondern es gilt sie auf direkte und ehrliche Weise für Christus zu gewinnen. Unsere Entschiedenheit sollte sie neugierig machen, unsere Begeisterung sollte sie anstecken, unser Zeugnis sollte sie in Grübeln bringen. Weil sie uns nicht egal sind, kann uns nicht egal sein, ob sie zum Glauben finden! Dass aber jeder auf seine Weise etwas dazu beitrage, das schenke uns Gott, der sich ungeteilt hingegeben hat – und auch von uns ungeteilte Hingabe erwarten kann.

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Sheep in Line

Hugo Simberg, Public domain, via Wikimedia Commons