Ich bin der Welt entbehrlich

Ich bin der Welt entbehrlich

Beruht das auf Gegenseitigkeit?

 

Im November ist es nicht leicht, den trüben Gedanken zu entgehen. Denn wenn man durchs Fenster in den Regen schaut, scheinen alle Farben aus der Welt gewichen. Erich Kästner hatte schon Recht: „Der November trägt den Trauerflor“. Und ob wir wollen oder nicht – unsere Gedanken wandern wie von selbst zu den Menschen, die nicht mehr bei uns sind. Man erinnert sich der Verstorbenen. Man sieht ihre Gesichter vor sich, die noch so vertraut sind. Und wenn man beginnt die Namen aufzuzählen, erschrickt man über die Menge der Freunde, die man schon „überlebt“ hat.

Wie waren diese Menschen einst so wichtig! Man konnte sich ein Leben ohne sie gar nicht vorstellen. Als sie starben meinte man, die Welt müsse stehen bleiben, weil nun doch etwas Entscheidendes fehlt! Aber es geschah nichts. Man hatte das Gefühl, die Welt müsse mindestens den Atem anhalten, weil etwas Gravierendes vorgefallen ist! Aber das Leben ging einfach weiter. Die Mutter, der Freund, der Ehepartner – sie bedeuten uns so viel. Und doch gehen sie, ohne dass die Welt groß Notiz davon nähme.

Es gibt eine Anzeige in der Zeitung, einen kurzen Gottesdienst, einen Stein auf dem Friedhof – und das war’s. Nach ein paar Jahren fällt uns zu manchen Gesichtern schon der Name nicht mehr ein. Und weil’s den Anderen einmal mit uns genauso gehen wird, erschrecken wir. Sind wir der Welt so wenig wichtig? Wird sie auch über unseren Tod ungerührt hinweggehen? Der Gedanke kränkt unseren Stolz. Doch andererseits: Würde es etwas ändern, wenn man um unser Sterben ein großes Aufhebens machte?

Uns selbst und der Familie mag unser Dasein bedeutsam erscheinen. Doch der Rest der Welt kommt ohne uns aus. Auch wenn wir gern das Gegenteil glauben wollten: Wir sind ersetzlich! Sich das aber klar zu machen, ist eine bittere Lektion. Denn mit einem leichten Federstrich aussortiert zu werden, geht uns gegen den Stolz.

Wir versuchen schließlich wichtig zu sein – oder uns wenigstens wichtig zu machen. Wir versuchen bedeutend zu sein für möglichst viele. Wir versuchen Spuren in der Welt zu hinterlassen. Doch ein Gang über den Friedhof lehrt uns, dass es nicht gelingt. In den Herzen derer, die uns lieben, hinterlassen wir zwar eine Lücke. Aber nicht einmal diese Lücke wird bleiben. Denn ein, zwei Generationen später leben die, die uns kannten, selbst nicht mehr.

Vielleicht ärgert es uns, vergessen zu werden. Und doch sollte man sich in einer stillen Stunde fragen, ob uns wirklich Unrecht geschieht. Sind wir für die Welt eine solche Zierde, dass sie durch unser Verschwinden wirklich ärmer und hässlicher wird? Ist etwas an uns so kostbar, dass es unbedingt verewigt werden müsste? Sorgen nicht unsere Fehler und Schwächen dafür, dass wir Tag um Tag durch liebloses Reden und Tun neues Unheil anrichten? Und wenn es so ist: Kann man es Gott dann verdenken, dass er uns nicht ewig auf Erden bleiben lässt, sondern unserem Treiben irgendwann ein Ende setzt?

Ich denke: Nein. Es hat schon seine Ordnung, dass die, die von Erde genommen sind, auch wieder zu Erde werden. Denn uns gebührt eine gewisse Zeit – und Gott allein gebührt die Ewigkeit. Müssen wir also klagen über die relative Bedeutungslosigkeit unseres Daseins? Und muss es uns empören, wenn sich die Erde nach unserem Tod ungerührt weiterdreht? Nein. Denn was nützte uns ein Staatsbegräbnis und was nützten uns die Anteilnahme und die Tränen der ganzen Welt, wenn wir diese Welt doch hinter uns lassen?

In dem Moment zählt nur noch, dass es jenseits dieser Welt jemanden gibt, der uns kennt und wichtig nimmt. Von Bedeutung ist dann nur, dass wir in die Hand unseres Schöpfers zurückkehren, aus der wir einst hervorgegangen sind. Angesichts des Todes ist nicht mehr entscheidend, was unser Leben uns und anderen Menschen, sondern nur, was es Gott bedeutet.

Denn für die Mehrheit unserer Mitmenschen wiegt unser Leben leicht: Für sie ist es nur eins von hunderttausend anderen. Für Gott aber sind wir – trotz all unserer Fehler – einzigartig und wichtig. Er kennt uns besser als wir uns selbst kennen. Und doch ist es für Gott nicht der Erfolg oder das Scheitern, das einem Menschen Bedeutung verleiht. Sondern für Gott sind wir kostbar, weil er uns liebt. Gottes Liebe vermag wichtig zu nehmen, was nach weltlichen Maßstäben durchaus nicht wichtig ist. Er verleiht den Nichtswürdigen Würde, indem er sie seiner Aufmerksamkeit würdigt. Wenn Gott aber unser gedenken will, muss uns dann die Vergesslichkeit der Welt noch schrecken?

Gott spricht zu jedem Christen: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jes 43,1). Gott besiegelt diese Zusage in der Taufe. Und wer ihr vertraut, kann auf allen faulen Trost verzichten. Ein Christ muss sich nicht einreden, seine Angehörigen könnten ihm „ewiges Angedenken“ bewahren. Sie leben ja selbst nicht „ewig“! Er wird auch weder in seinem Lebenswerk noch in seinen Kindern „weiterleben“, sondern wird sterben und in der Welt vergessen sein. Aber das macht nichts. Denn seine bleibende Bedeutung wird darin liegen, dass er Gott etwas bedeutet. Von der Welt kann er das nicht erwarten. Sie vermag den Toten kein bleibendes Denkmal zu setzen. Die Welt kann ja nicht mal den Lebenden echte Geborgenheit oder wahren Frieden schenken! Gott aber kann es. Und er will es auch.

Darum sollten wir versuchen, uns selbst nicht zu wichtig und unseren Abschied von dieser Welt nicht zu schwer zu nehmen. Denn die Welt braucht uns nicht. Für Gott aber sind wir kostbar. Glauben wir von Herzen, so finden wir Gnade vor seinem Richterstuhl. Finden wir aber Gnade bei Gott, so wird er all unsere Gebrechen heilen, all unsere Tränen trocknen, alle Wunden schließen und allen Hunger stillen.

Sind also die zu bedauern, die im Glauben sterben? Müssen wir ihretwegen Trübsinn blasen – oder unseren eigenen Tod fürchten? Nein. Es stimmt zwar, dass wir der Welt entbehrlich sind. Aber das beruht auf Gegenseitigkeit. Denn dem Christen ist auch die Welt entbehrlich. Sie braucht uns nicht. Wir brauchen sie aber auch nicht. Denn Gott hält eine bessere Welt für uns bereit. Und wenn wir ihm vertrauen, so ist dort, im Reich Gottes, ein Platz für uns reserviert. Müssen wir also unsere Depressionen pflegen? Nein!

Es bringt uns zwar jeder Tag einen Schritt näher zum Grab. Aber für Christen ist näher beim Tod auch näher bei Gott. Dieses Leben ist nur ein Weg. Und Gott ist das Ziel. Wer das aber zu unterscheiden weiß und daran denkt, dass der Weg eben nicht das Ziel ist, der muss sich weder vor dem Gehen fürchten – noch vor dem Ankommen…

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Funeral

Marianne von Werefkin, Public domain, via Wikimedia Commons