Welt, wo läufst du hin?

Welt, wo läufst du hin?

Haben sie einmal an einem Gebirgsbach gesessen, wo das Wasser rauschend von Stufe zu Stufe und von Stein zu Stein springt? Es scheint, als hätte es das Wasser ungeheuer eilig, in die Tiefe zu gelangen. Es hält keine Sekunde inne, sondern sucht sich stets den kürzesten Weg, drängt und schäumt, sickert und fließt, spritzt und gluckert. Es eilt am Betrachter vorbei, ist ruhelos und will nicht bleiben, sondern folgt der vorgezeichneten Bahn, als würde es sonst dort hinten, wo es dem Blick entschwindet, etwas Wichtiges verpassen. Vom eigenen Gewicht fortgezogen drängt es voran, immer den Hang hinab, und kommt nirgendwo im Bett dieses Baches zur Ruhe – auch nicht im nächstgrößeren Fluss oder im breiten Strom des Rheins, sondern eigentlich erst im Meer. Erst da auf Meereshöhe ist dann Schluss mit der großen Wanderung. Und von dort geht‘s auch nicht mehr tiefer hinunter, sondern durch Verdunstung wieder nach oben. Aber davon sieht man natürlich nichts, wenn man am Gebirgsbach sitzt, wo das Wasser seine hektischen Sprünge macht. Denn dort am Bach kann man nicht mal sagen, ob dieses Wasser eher auf der Flucht oder auf der Suche ist, ob es eigentlich geschoben oder gezogen wird. Kennt man aber das Meer, so kennt man des Wassers Ziel. Und wenn man dort am Bach das Meer mitdenkt, versteht man viel besser, was den Kreislauf so mächtig antreibt. Man sieht das Meer nicht, aber man denke es mit. Und vielleicht kommt einem dabei in den Sinn, dass der Glaube etwas ganz Ähnliches tut. Denn jemand sagte mal: „Glauben heißt wissen, dass es ein Meer geben muss, wenn man einen Bach sieht“ (anonym). Der Satz will besagen, dass im Leben viele Dinge so einem ruhelos bewegten Gebirgsbach gleichen, und dass man auch beim Leben selbst ein Ziel mitdenken muss, um zu verstehen, was die Bewegung vorantreibt – auch wenn dieses Ziel außerhalb unseres Horizonts liegt. Als Kind habe ich das stark empfunden, wenn draußen die Rufe der Wildgänse zu hören waren. Ich lief dann vors Haus und starrte in den Himmel hinauf, wo die Wildgänse hoch oben in ihrer typischen Formation vorüberflogen. Mit dem Kopf im Nacken stand ich lange da. Und weil die Mutter uns Kindern den „Nils Holgersson“ vorgelesen hatte, kamen mir Bilder von fernen Landschaften in Afrika und Skandinavien in den Kopf. Bei dem Gedanken, dass die Wildgänse in ein paar Tagen dort ankämen (und welch grandiose Ausblicke sie unterwegs haben würden) befiel mich das Fernweh. Natürlich sah ich weder die Landschaften des Nordens noch die des Südens. Ich hörte nur die Schreie der Vögel. Aber so wie beim Wasser im Bach konnte ich das Ziel der Bewegung mitdenken, beneidete die Wildgänse um ihre Freiheit und verstand ihren so mächtigen und unermüdlichen Drang in die Ferne.  Bewegungen sind oft nur von ihrem Ziel her zu verstehen. Und bei Menschen, die irgendeine Sehnsucht treibt, ist das nicht anders. Man beobachte nur, wie sich bei einem Schulausflug die Jungen und die Mädchen heimlich beäugen und sich umkreisen, wie sie sich untereinander necken und die eigene Wirkung testen, wie sie unbeholfen flirten, sich gegenseitig suchen und dann doch wieder flüchten, einander anlocken und abweisen – und sich in ersten Freundschaften ausprobieren. Auf Nachfrage würden sie es natürlich leugnen. Aber im Grunde möchten sie wissen, wie das mit der Liebe ist. Und niemand versteht, warum sie so seltsam umeinanderschleichen, wenn er dies große Ziel nicht kennt und mitdenkt. Denn während die Jugendlichen tun, als wären sie mit ganz anderem beschäftigt, suchen sie doch, was man „Liebe“ nennt. Und sie sind darin so beharrlich wie das Gletscherwasser, das zum Meer strebt, und wie die Wildgänse, die in den Süden fliegen. Ein Ziel, das man nicht sieht, zieht sie mächtig voran! Und – ist nicht alles Lebendige in so ein Streben verwickelt und stets „auf etwas aus“, wovon es magisch vorangezogen wird wie mit unsichtbaren Fäden? Wissenschaftler brüten über Büchern, Mikroskopen und Messwerten. Aber was sie suchen, liegt nicht mit auf dem Tisch, sondern es ist die Wahrheit – die ist der Magnet, der die Forschenden anzieht! Politisch engagierte Menschen sieht man Flyer verteilen, demonstrieren und Plakate kleben. Doch die Vision, in deren Bann sie stehen, der Traum von einer gerechten Gesellschaft, der ist nicht mit im Bild. Dieses Ziel muss man sich zur sichtbaren Bewegung hinzudenken, um sie zu verstehen. Und so geht es mit all dem tausendfachen Streben. Denn niemand mühte sich, wenn er nicht auf etwas aus wäre. Man läuft nur, wenn man irgendwo hin will. Und ohne den Impuls hoffender Erwartung, stünde man morgens nicht mal auf. Wenn daher Leben in der Bewegung besteht und in einer ständigen Veränderung des Suchens und Werdens – wenn das ganze Leben so ein Gebirgsbach ist, der nie stillsteht, sondern forteilt – muss es dann nicht ein „Meer“ geben, dem es zustrebt? Alles im Leben fließt und wir fließen mit. Nach Bleibendem suchen wir vergeblich. Gemeinsam stürzen wir der Zukunft entgegen. Und am liebsten würde man alles, was da hektisch vorübereilt, daraufhin befragen, wohin es unterwegs ist! Wer aber drüber nachdenkt, kann kaum anders, als zu der allumfassenden Bewegung ein Ziel hinzuzudenken. Denn wo die Dinge herkommen, mag interessant sein. Doch wo sie hinwollen, ist noch aufschlussreicher. Nicht das, was ein Mensch hinter sich ließ, beseelt ihn, sondern das Künftige, das er sucht. Wohin einer strebt und wofür er sich mit Herzblut einsetzt – das zeigt, wer er wirklich ist! Wenn daher die ganze Welt stets ruhelos in Bewegung bleibt, als würde sie an unsichtbaren Fäden vorangezogen, wenn sie in jeder Sekunde aus dem „jetzt“ ins „dann“ hinübereilt – muss man da nicht fragen: „Wohin des Wegs? Welt, wo läufst du hin? Was ist dein Ziel?“ Das Geheimnis des Baches liegt in dem Meer, dem er zustrebt. Das Geheimnis der Wildgänse liegt in den Landschaften des Südens. Die Jugend sucht nach der Liebe, die Wissenschaft nach der Wahrheit und die Politik nach Gerechtigkeit. Und da sollte die Welt insgesamt kein solches Geheimnis haben und kein verborgenes Ziel, auf das alles hinausläuft? Die Ereignisse springen eilig an uns vorüber – und manche reißen uns mit sich fort. Jeder Tag ist anders und fordert Entscheidungen. Mit jeder Geburt beginnt das Leben neu und stürzt sich der Zukunft entgegen. Wie aber könnte so viel Dynamik ohne Ziel sein? Muss ein so mächtiger Sog nicht von irgendetwas ausgehen, wie von einer tief verborgenen Kraft und starken Strömung? Die Geschichtsbücher berichten davon natürlich nichts. Sie betrachten nur den eng umrissenen Moment, in dem wieder einmal Völker und Interessen hart aufeinanderprallen. Doch „Glauben heißt wissen, dass es ein Meer geben muss, wenn man einen Bach sieht.“ Und wenn sich das Meer außer Sichtweite befindet, ändert das wenig. Denn das Vorfindliche ist in keiner Weise selbsterklärend. Natürlich lässt eine chemische Analyse des Gletscherwassers nicht auf das Meer schließen – wie auch eine tote Wildgans ihr Reiseziel nicht mehr verrät. Weder die Liebe noch die Wahrheit oder die Gerechtigkeit lassen sich unters Mikroskop legen, denn was Menschen beseelt, ist ebenso wenig „physisch“ wie die menschliche Seele selbst. Doch wer könnte je eine Bewegung verstehen, wenn er ihr Ziel außer Betracht lässt? Fragt er aber nach ihrem Ziel – kommt er dann noch an Gott vorbei als dem großen „Woher“ und „Wohin“? Mir gelingt das nicht einmal in der gedanklichen Bewegung. Denn überall, wo es graduelle Unterschiede gibt, die man auf einer Skala verzeichnen kann, frage ich mich, wo die Skala wohl ihr Ende hat. Es gibt Dinge, die sind brauchbar, und andere sind noch etwas besser. Manche sind richtig gut, und andere nennen wir hervorragend. Alle Qualitäten lassen sich steigern. Wenn man sie aber immer weiter steigert, wo kommt man dann hin? Muss man sich am Ende der Skala nicht ein Optimum denken, einen „Superlativ der Vollkommenheit“, der Gott selbst entspricht? Wenn ich Sekunden zu Minuten addiere, Stunden zu Wochen und Monate zu Jahren: läuft mein Denken dann nicht wie von selbst ins Unendliche hinein und endet erst beim Ewigen – also wiederum bei Gott? Gehe ich vom eigenen Schmutz aus und weiß, dass man sich von seiner Verkehrtheit stufenweise reinigen kann: läuft der Gedanke dann nicht ganz automatisch auf zunehmende Heiligung hinaus und zuletzt auf den ultimativ Heiligen, nämlich auf Gott? Auch von der Macht und dem Wissen gibt es immer ein „mehr oder weniger“. Muss ich da nicht auch jenes Maximum denken, dass wir „Allmacht“ und „Allwissenheit“ nennen und nur Gott zuschreiben? Für meinen begrenzten Geist liegen die Enden der Skala nie in Sichtweite. Aber ohne Anfang und Ende gäbe es keine Skala! Und verlängere ich die vielen Linien ins Unendliche, so schneiden sie sich außerhalb des Blickfelds gerade dort, wo die Religionen Gott verorten. Daher drängt sich mir mit der Einsicht in die eigene Relativität zugleich der Gedanke des Absoluten auf. Und mit der Einsicht in die eigene Unvollkommenheit ist mir auch schon die Idee göttlicher Vollkommenheit gegeben. Die sehe ich zwar nicht, denn mein Blickfeld ist begrenzt. Aber wenn doch alles in der Welt strebt und drängt und hastig in Bewegung ist, als wollte es dringend über sich hinaus – sollten dann all die wirren Impulse auf „nichts“ hinauslaufen? Das ist wenig wahrscheinlich! Und eben dies Unwahrscheinliche immer wieder zu empfinden, ist ein religiöser Grundinstinkt. Denn wer über das Gewusel dieser Welt lange genug staunt, wird merken, dass es weit mehr Fragen aufwirft, als die Welt selbst beantworten kann. Der kleine Ausschnitt, den wir verstehen, verweist über die Welt hinaus. Es muss da mehr geben als die paar Fragmente, die wir mit Händen greifen können. Und Glauben heißt, sich dessen bewusst zu werden und einzusehen, dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht getan ist (Wittgenstein). „Glauben heißt wissen, dass es ein Meer geben muss, wenn man einen Bach sieht“.  Es heißt erkennen, dass dieses Leben für sich genommen keinen Sinn ergibt. Es macht nur Sinn im Zusammenhang mit Gott. Und wenn unsere Seele in der Welt nicht zur Ruhe kommt, bezeugt sie damit selbst, dass ihre wahre Heimat woanders ist. Wären wir auf Erden wirklich zu Hause, fänden wir auch Frieden – und blieben ungerührt liegen wie die Steine. Tatsächlich sind wir aber ruhelos unterwegs und genauso wenig an unserem Ziel „angekommen“ wie die Welt insgesamt. Soviel wir auch von ihr essen, bleibt doch ein Hunger. Denn die einen werden am Genuss nicht satt – und die anderen nicht an der Liebe, an der Wahrheit oder der Gerechtigkeit. Im Grunde bedürfen wir nicht dieser oder jener Gabe, sondern bedürfen des Gebers. Und so werden die Menschen nicht müde zu laufen und zu ringen, zu streiten und zu geizen, zu forschen und zu kämpfen. Doch – ohne dass sie es wüssten – liegt ihr Ziel weit über diese Welt hinaus. Und Gott selbst, der dieses Ziel ist, bezeugt sein Dasein sehr nachdrücklich dadurch, dass er uns fehlt. Sein Fehlen zu bemerken, ist aber der Anfang des Glaubens. Und mehr als diesen Anfang braucht auch die Wildgans nicht, um ihrem Instinkt zu folgen. Sie wartet nicht lange auf einen Beweis. Sondern wenn der Schwarm immer unruhiger wird, fliegt er eines Tages davon. Die Tiere sehen ihr Ziel durchaus nicht vor sich. Aber sie tragen es in sich. Und hätten sie in Wahrheit kein Ziel – wozu wären ihnen dann Flügel gegeben? Sollte die Jugend nicht nach Liebe suchen – wozu erwachte dann die lockende Ahnung? Sollte der Forscher niemals Wahrheit finden – wozu dann die Neugier seines Geistes? Und sollte der politische Mensch nicht Gerechtigkeit finden – wozu wäre ihm ein waches Gewissen verliehen? Nicht vergeblich hat uns Gott den Wunsch nach Vollkommenheit ins Herz gelegt (Pred 3,11). Nicht um diesen Wunsch unerfüllt zu lassen, sondern um letztlich selbst die Erfüllung zu sein. Nicht unnütz sollen wir im Kreis laufen, sondern bei ihm ankommen. Nicht bloß hungern sollen wir, sondern auch sattwerden. Und darum, können wir uns das Wasser des Gebirgsbachs zum Vorbild nehmen. Denn das läuft und läuft in größter Geduld, sucht immer den kürzesten Weg, springt und windet sich durch tausend Ritzen, gibt aber niemals auf und ruht auch nicht, bis es das Meer gefunden hat. Natürlich weiß das Wasser nicht, was es da tut – wie es viele Menschen ja auch nicht wissen. Doch das, was ihnen unbewusst bleibt, hebt der Glaube ins Bewusstsein. Er erkennt das Leben als ein auf Gott gerichtetes Streben. Und er bejaht diese Richtung gerade auch im schmerzlichen Ersehnen und Vermissen Gottes. Denn je mehr einer von Gott kosten durfte, desto schaler schmeckt ihm die Welt. Und folgerichtig spricht dann der Beter der Psalmen: 

 

„Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?“ (Ps 42,2-3). 

 

„Mein Herz hält dir vor dein Wort: »Ihr sollt mein Antlitz suchen.« Darum suche ich auch, Herr, dein Antlitz“ (Ps 27,8). 

 

„Gott, du bist mein Gott, den ich suche. Es dürstet meine Seele nach dir, mein ganzer Mensch verlangt nach dir aus trockenem, dürrem Land, wo kein Wasser ist. So schaue ich aus nach dir in deinem Heiligtum, wollte gerne sehen deine Macht und Herrlichkeit“ (Ps 63,2-3). 

 

Wer so betet, erwartet nicht mehr, dass er in dieser Welt zur Ruhe käme. Er erwartet es nicht von der Familie und auch nicht mehr von den Sicherheiten und Freuden, die uns Wohlstand erkaufen kann. Wenn er aber überhaupt „ruht“, dann in eben jener Bewegung, die ihn Gott näher bringt. Nun klingt das paradox, dass man in einer Bewegung „ruhen“ könnte! Aber besser weiß ich den Vorteil nicht zu beschreiben, den wir als Christen genießen: Um des erfreulichen Zieles willen, können wir auch eine unerfreuliche Reise mit Gleichmut ertragen. Wir können uns mit dem Leben versöhnen, weil es der Übergang zu etwas Besserem ist. Wir reisen auch nicht ins Blaue hinein, sondern aus der Fremde in die Heimat. Gott lässt uns sicher bei ihm ankommen. Und in dieser Gewissheit, die das Ziel vorwegnimmt, kann man innerlich ruhen, auch wenn man äußerlich noch unterwegs ist. Bei aller Wirrnis hat unser Leben eben doch eine Richtung. Wir stürzen unserem Gott entgegen. Und das fröhlich zu bejahen, das ist des Glaubens Vorrecht und großer Trost.

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Waterfall in Telemark

August Cappelen, Public domain, via Wikimedia Commons