Befiehl du deine Wege

Befiehl du deine Wege

„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind‘s achtzig Jahre“ – so steht es im Alte Testament. Aber wenn ein älterer Mensch noch mitten im Leben steht, schieben wir diese Gedanken lieber beiseite. Wir sind dann auf seinen Tod nicht vorbereitet. Und wenn er eintritt, fällt uns das Loslassen doppelt schwer. Denn bei aller Einsicht in die Unvermeidlichkeit des Abschiedes, wollen wir doch das Lebenslicht eines geliebten Menschen nicht verlöschen sehen.

Als Christen wissen wir zwar, dass Gottes Wille darin waltet, dem wir unser Einverständnis nicht verweigern können. Dieses Einverständnis dann aber wirklich zu geben und der Wahrheit standzuhalten, dass es ja auch mit uns nicht ewig so weitergeht, das ist schwer – und ist eine Prüfung unseres Glaubens. Denn es gilt hier ja, der biblischen Aufforderung zu folgen, die da lautet: „Befiehl dem HERRN deine Wege“ (Ps 37,5) Lege deinen Lebensweg in Gottes Hand, heißt das. Vertraue dich seiner Führung an! Wer das aber ernst nimmt und zu leben versucht, der spürt wie schwer es ist. Denn Gott tut manchmal, was uns schmerzt. Die Wege, die er uns leitet, führen manchmal auf den Friedhof. Die Menschen, die er uns zur Seite stellte, werden abberufen. Und die große Frage ist dann, ob wir bereit sind Gottes Ratschluss auch da anzuerkennen, wo er unseren Wünschen widerspricht.

Haben wir genug Vertrauen zu dem Gott, der unser Schicksal bestimmt? Können wir unsere Angehörigen seiner Führung ruhig und ohne Zögern überlassen? Oder werden wir innerlich murren über das, was Gott uns zumutet? Er nimmt uns liebe Menschen, und alles was danach noch kommt wird anders sein, weil wir es nicht mehr mit den Verstorbenen teilen können. Ein Stück Gemeinschaft zerbricht, ohne dass wir gefragt wurden. Und die Hilflosigkeit, mit der wir das hinnehmen, kann sehr bedrückend sein. Denn wir gehen zwar zur Beerdigung, um den Verstorbenen „auf seinem letzten Weg zu begleiten“, wie man so sagt. Aber im Grunde wir wissen sehr genau, dass das nicht möglich ist. Wir können niemanden auf seinem letzten Weg begleiten, weil diesen letzten Weg jeder alleine gehen muss. Jeder stirbt für sich allein seinen eigenen Tod. Kein anderer Mensch kann uns dabei an die Hand nehmen – selbst wenn er wollte. Und eben das macht den Tod so bedrohlich. Denn er macht uns einsam…

In der Gemeinschaft der Familie fühlen wir uns stark. In der Kindheit gehen wir unseren Weg an der Hand der Eltern und fühlen uns dabei geborgen. Später gehen wir unseren Weg gemeinsam mit einem Ehepartner. Und wenn wir alt werden, sind es die Kinder, die uns begleiten. Kommt aber der Tod in den Blick, so erschrecken wir. Denn da spüren wir plötzlich, dass alle irdische Gemeinschaft nur Gemeinschaft auf Abruf ist. Und selbst der, der uns am nächsten steht, kann uns nur Begleitung zusagen „bis dass der Tod uns scheidet“. Darüber hinaus aber können wir nicht (und darüber hinaus wollen wir auch nicht) Begleiter sein. Wir gehen mit den Verstorbenen nur bis an den Rand des Grabes, dann aber drehen wir uns um und kehren ins Leben zurück, weil wir den Lebenden verpflichtet sind.

Was aber wird mit den Verstorbenen? Bleiben die allein, wenn wir uns nicht mehr kümmern? Schrecklich wäre die Vorstellung, sie wären verloren und verlassen in dem dunklen Land, das sie betreten. Schrecklich wäre der Gedanke, der Tod sei nichts als Einsamkeit, Leere und Vergessenwerden. Doch – Gott sei Dank – lehrt es die Bibel anders. Denn schließlich hat das Wort aus dem 37. Psalm eine positive Fortsetzung und Begründung: „Befiehl dem HERRN deine Wege und hoffe auf ihn“, steht da, denn „er wird's wohlmachen.“ (Ps 37,5) Der Herr wird’s also nicht nur „machen“ – unerbittlich und streng, wie es der Tod vor Augen führt. Sondern er wird es wohlmachen. Er wird es gut machen. Und das heißt: Er wird das Ende in einen neuen Anfang verwandeln. Denn Jesus Christus hat seinen Jüngern versprochen, alle Tage bei ihnen zu sein bis an der Welt Ende. Also wird er es wohlmachen, auch am Tag unseres Todes und alle Tage danach. Denn der Glaube, der uns mit ihm verbindet, ist das Band einer Gemeinschaft, die auch der Tod nicht aufzuheben vermag. Christus ist größer als der Tod – und kommen wir zu ihm mit unserem Sterben, mit Verlassenheit, Angst, Schmerz und Trennung, so weiß er, wovon wir reden. Denn der Sohn Gottes wurde nicht bloß Mensch, um Leben und Freude mit uns teilen, sondern er wurde Mensch, um auch unseren Schmerz mit uns zu teilen und unseren Tod am Ostermorgen zu besiegen. Christus sagt seinen Jüngern eine Gemeinschaft zu, die keine Gemeinschaft unter Vorbehalt ist und keine Gemeinschaft auf Abruf, sondern im Vollsinne ewige Gemeinschaft:

„Siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende“ – sagt er. Und dieses Versprechen, das im Munde eines Menschen nach Selbstüberschätzung klingen müsste, das ist bei Christus glaubhaft. Denn er hat die Grenze des Todes bereits in beide Richtungen überschritten. Er ist hinabgestiegen in das Reich des Todes und er ist auferstanden von den Toten. Er ist diesseits und jenseits gleichermaßen zuhause – und eben darum vermag er auch unsere Verstorbenen diesseits wie jenseits zu begleiten. Schon bei der Taufe ist er für sie da gewesen, ebenso in der Kindheit, in der Jugend und im Alter. Und ausgerechnet auf dem letzten und schwersten Weg sollte Christus fehlen? Nein. Auch hier ist Christus gegenwärtig. Und wer sein Angebot im Glauben ergreift, wer nicht nur auf dem Papier, sondern auch im Herzen Christ ist, der wird von Christus im Dunkel des Todes so treu begleitet wie in all den Lebensjahren zuvor. Wer sich seiner Führung anvertraut, wird von Christus in das Haus des himmlischen Vaters geleitet. Und zwar nicht so, wie man jemand in die Fremde führt, nicht in eine unbekannte Ferne. Sondern so, wie man jemand nach Hause holt, der unterwegs war und nach einer langen Wanderung heimkehrt.

Muss uns also bange sein vor dem eigenen Sterben, oder muss uns bange sein um unsere Angehörigen? Nein. Wir spüren zwar am Ende schmerzlich, wie wenig Menschen für Menschen tun können. Wir können die Sterbenden nicht wieder gesunden lassen. Wir können sie nicht festhalten und können sie nicht weiter begleiten, als nur bis an den Rand des Grabes. Doch da ist Christus, der sehr viel mehr für sie tun kann und will.

Hier auf Erden gibt es ja doch kein Glück ohne Sorge und keine Freude ohne Gefahr – bei Gott aber gibt es ungetrübte Seligkeit vor seinem Angesicht. Hier gibt es kein Leben ohne Schuld und kein Vertrauen ohne Enttäuschung – dort aber gibt es Gottes Treue, die kein Ende hat. Hier ist kein Licht ohne Schatten und keine Wahrheit ohne Irrtum – dort aber ist alles klar und keine Frage bleibt offen. Gönnen wir es also einem jeden, wenn er seinen Lauf vollenden und heimkehren durfte in Gottes Hand…

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Thomas Gerlach (privat)