Bekehrung
Die Bekehrung des Paulus

Bekehrung

Es gibt viele indiskrete Fragen, mit denen man jemand in Schwierigkeiten bringen kann. Eine davon ist aber sicher die nach der Bekehrung. Denn wenn jemand begeistert von seinem Glauben erzählt und in missionarischem Eifer fragt, ob man selbst auch „bekehrt“ sei – was soll man darauf sagen? Natürlich hat der eigene Glaube seine Geschichte. Man kam ja nicht schon als Christ auf die Welt, sondern hat das entsprechende Bewusstsein erst im Laufe der Jahre entwickelt. Wahrscheinlich gab’s auch bei jedem Fortschritte und Rückschritte im Glauben, Phasen der Hinwendung und der Abkehr. Aber ein Bekehrungserlebnis von der Art, dass man Ort und Stunde angeben könnte – so ein großer Umbruch, der mit einem Schlag den Saulus zum Paulus macht –, ist doch eher selten. Und die Erwartung, dass ein „wahrer Christ“ so einen dramatischen Moment der Wiedergeburt erlebt haben müsse, ist auch nicht berechtigt. Denn wer als Kind getauft wurde und in einem christlichen Elternhaus aufwuchs, kann sich möglicherweise an einen ungläubigen Zustand gar nicht erinnern. Und wenn er seiner Erinnerung nach nie fern von Gott und abgekehrt war – wie soll er sich dann in dramatischer Umkehr zu Gott hinwenden und „bekehren“? Natürlich gibt es Bekehrungen der plötzlichen Art. Es gibt Menschen, die innerlich wie tot waren, und dann völlig unerwartet von Gott ergriffen, verwandelt und neu auf die Füße gestellt wurden. Für die zerfällt ihr Leben natürlich in ein Vorher und ein Nachher. Doch man muss so etwas nicht erlebt haben. Sondern man kann in den Glauben auch auf kontinuierliche und unspektakuläre Weise hineinwachsen – und ist Gott deswegen nicht „ferner“ als andere. Niemand muss eine Bekehrung vorweisen können, so als wäre die eine notwendige Bedingung „wahren Christ-Seins“. Und wenn mich selbst einer fragt, wann ich mich „für Gott entschieden“ habe, muss ich ehrlicher Weise sagen: Im Sinne einer bewussten Richtungsänderung habe ich mich gar nicht „entschieden“, sondern bin einfach an Gott kleben geblieben. Das war keine Sache der eigenen Wahl. Sondern nach anfangs diffusem Interesse wurde ich innerlich gefangen genommen, wurde von Gott wie von einem großen Magneten angezogen und festgehalten. Wenn’s einen Menschen aber nicht mehr loslässt – hat der sich dann „für den Glauben entschieden“? Müsste man nicht eher sagen, „es wurde über ihn entschieden“? Natürlich klingt es toller, wenn einer erzählt, er habe (an der Weggabelung stehend) aus freien Stücken den christlichen Weg gewählt. Das ist rühmlicher, als wenn man bloß wie eine Fliege auf Gottes Leim kleben bleibt! Wer eine Wahl trifft, wirkt souverän. Doch was soll ich tun? Ich bin einfach nur dem tiefen Eindruck erlegen, den Gott auf mich machte! Und ich vermute, dass dies auch für viele andere gilt. Denn: Sind wir wirklich wie Jäger, die nach langer Suche Gott finden wie eine Beute? Ist nicht eher Gott der Jäger, der uns aufspürt und erbeutet? Und ergeht’s einem da nicht ähnlich, wie wenn Menschen nach der Wahrheit streben, nach einem Sieg oder einem Besitz? Wohl sind wir „auf etwas aus“ und jagen ihm nach, um uns seiner zu bemächtigen. Doch indem wir uns diesem Ziel hingeben und ihm nachlaufen zeigt sich bereits, wie viel Macht es über uns hat! Wir wollen’s besitzen, sind aber davon selbst wie besessen. Wir meinen zu ergreifen, sind aber ergriffen. Und während wir von unserem Traum nicht ablassen, ist es doch eigentlich er, der uns nicht loslässt. Jemand sagte: „Ich hab’ einen Gefangenen gemacht, und er lässt mich nicht mehr los“ (Nestroy). Mir scheint das aber auch auf große Wahrheiten zuzutreffen. Denn haben wir die erst einmal erkannt, können wir nicht mehr so tun als wüssten wir nicht. Und erfüllt uns eine große Leidenschaft, geht’s genauso. Denn das, woran unser Herz hängt, nimmt von uns Besitz. Schon mancher Mann meinte eine Frau zu „erobern“ – und wurde dann von ihr am Nasenring durch die Manege geführt! Oft ist unklar, wer da eigentlich überwindet und wer überwunden wird. Bei Gott aber dürfte auf der Hand liegen, dass ihn keiner „einfängt“, ohne von ihm gefangen zu werden. Und mögen die Weg dahin so vielfältig sein wie das Leben selbst, ist das Ergebnis doch immer gleich: dass der Mensch nämlich an Gott haften bleibt wie ein kleiner Nagel an einem großen Magneten. Ob ein Christ unmerklich in seinen Glauben hineinwächst oder mit einem Schlag dazu bekehrt wird – am Ende gibt er sich dem Gott gefangen, der ihn nicht mehr loslässt. Und welche Irrwege dem vorausgingen, ist kaum noch wichtig. Denn entscheidend ist nicht, wie wir zu Gott kommen, sondern was wir durch ihn werden. Christen sind nicht etwa Mitglieder in einem Kulturverein namens Kirche, sondern sind Gefangene Gottes, die er an sich gezogen und an sich gebunden hat, um sie zu retten. Gott ist der Planet, um den wir wie Monde kreisen und von dem wir auch gar nicht mehr weg können oder wollen, weil seine Anziehungskraft größer ist als alles andere. Diese Kraft zu empfinden ist weniger eine Option, die wir wählen, als ein Schicksal, das Gott uns bereitet. Und wundern muss es uns nicht, weil wir auch in der Bibel sehen, dass die Protagonisten sich nicht aussuchen, Botschafter oder Diener Gottes zu sein, sondern von Gott dazu ausgesucht werden. In der Regel haben sie sich nicht drum beworben, sondern wurden berufen. Und obwohl sich viele drücken wollten, ließ Gott doch nicht locker. Mose hielt sich für zu jung und unbegabt, aber das half ihm nichts. Jona wollte weglaufen, aber Gott holte ihn zurück. Hiob ärgerte und empörte sich, konnte aber doch von seinem Gott nicht lassen. Elia wollte den Dienst quittieren, um in der Wüste zu sterben, aber Gott erlaubte es nicht. Und als Jeremia unter dem Amt stöhnt, das Gott ihm aufgezwungen hat, bekennt er, dass er von Gott niedergerungen und genötigt wurde. „Herr“, sagt er, „du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen“ (Jer 20,7). In schwierigen Zeiten wurde auch Jesus von vielen Anhängern verlassen, die zwölf Apostel aber die blieben, und Petrus sprach mit einem resignierten Schulterzucken: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes“ (Joh 6,68-69). Das heißt: „Was wir bei dir finden, Jesus, finden wir nirgends sonst. Nichts hält dem Vergleich stand. Und darum können wir nicht weg.“ Wer solche Einsicht hat, ist tatsächlich machtlos dagegen. Denn wenn in Christus die Wahrheit beschlossen liegt, wie sollte man je von ihm loskommen oder sich von dieser Quelle abschneiden? Nur Gottes Sohn hat „Worte des ewigen Lebens“. Und die braucht ein Christ wie das tägliche Brot. Denn wer von der Kraft dieses Magneten erfasst wurde, für den ist dieser Impuls stärker als jeder andere. Und so ist ein Christ ein Gefangener Gottes. Er erliegt dem, was zu seinem Besten ist, und müsste verrückt sein, sich dem liebevollen Zugriff Gottes wieder zu entziehen. Denn wenn der gute Hirte das verlorene Schaf einfängt, ist das zu seinem Vorteil. Ob das „Einfangen“ langer Umwege und innerer Kämpfe bedurfte, oder ob sich die Gottesbeziehung unmerklich und über Jahre kontinuierlich festigte, das ist ziemlich egal, wenn nur am Ende der Mensch mit seinem Glauben ernst macht. Ohne diesen Ernst geht’s aber nicht. Und wenn uns missionarisch gesinnte Brüder und Schwestern daran erinnern, indem sie uns nach unserer Bekehrung fragen, dann leisten sie uns einen wichtigen Dienst. Denn darin haben sie Recht, dass uns die formale Zugehörigkeit zur Kirche nichts helfen wird, wenn das Herz nicht entschieden dabei ist und Klarheit hat. Was wir eingangs sagten, bleibt davon unberührt. Wer christlich erzogen wurde und sich darum an keinen heidnischen Zustand erinnert, kann sich von diesem Zustand auch nicht abkehren. Sein Leben hat keine wirklich gottlose Phase, die er hinter sich lassen müsste. Und doch haben jene, die nach unserer Bekehrung fragen, insofern Recht, als Christentum mehr sein muss als eine Familientradition, die man gedankenlos übernimmt und aus Gewohnheit beibehält. Denn erst dann stehe ich wirklich im Glauben, wenn ich ohne Gott nicht mehr sein kann – und mir darüber auch klar bin. Erst dann stehe ich im Glauben, wenn ich fröhlich bekenne, ein Gefangener Gottes zu sein. Und das ist etwas ganz anderes, als wenn der Mensch ein paar christliche Feste feiert, für Jesus Sympathien hegt oder ein freundlicher Nachbar ist. Das ist noch nicht Glaube, wenn ich die Wahrheit Gottes wohlwollend erwäge, um dann das eine oder andere am Evangelium „gut zu finden“. Das ist noch nicht Nachfolge, wenn sich einer aus der biblischen Botschaft ein paar Rosinen herauspickt. Denn Gott will den Gehorsam und die ungeteilte Hingabe des ganzen Menschen. Wenn einer nicht heiß oder kalt ist, sondern bloß lauwarm, wird Gott ihn ausspucken (Offb 3,16). Und insofern haben die Evangelikalen Recht, wenn sie die Bekehrung wichtig nehmen und fragen, ob unser Glaube auch wirklich in die Tiefe geht. Denn es ist zwar egal, wie ein Mensch in den Zustand gläubiger Entschiedenheit gelangt, es ist aber nicht egal, ob er dorthin gelangt! Wer das Glück hatte, in einer christlichen Familie aufzuwachsen, muss keine Bekehrung vorweisen. Er muss seine geistliche Wiedergeburt nicht datieren können und muss nicht so tun, als habe er „neu“ entdeckt, was ihm von Kindesbeinen an vertraut war. Aber die Verbindlichkeit im Glauben, die bei anderen erst aus einer Bekehrung erwächst, die braucht er sehr wohl! Wurden wir christlich erzogen, müssen wir nicht so tun, als hätten wir uns Gott jemals „fern“ gefühlt. Aber wenn wir heute den Anspruch erheben ihm „nah“ zu sein, sollte diese Nähe auch spürbar und sichtbar sein. Denn wenn einer meint, er sei schon deshalb Christ, weil seine Eltern es waren, dann ist das definitiv zu wenig – und seine wahre Bekehrung liegt noch vor ihm. Der ist nicht am Ziel, der den Glaubensstandpunkt erwägt und in Betracht zieht, sondern der als sein Schicksal annimmt, dass Gott ihn auf diesen Standpunkt gestellt und dort verwurzelt hat. Lebendiger Glaube macht keine Vorbehalte, sondern ist fröhlich entschieden. Er ergibt sich dem himmlischen Vater, der ihm zu stark, und der zugleich seine Stärke ist. Er dankt dem, der auf sein Leben zugriff, um es zu retten und zu heilen! Und an dem hängt er dann auch wie das Nägelchen am Magneten. Wenn er ohne Umbrüche und Kämpfe dahin kam, weil er den Glauben schon mit der Muttermilch aufnahm – um so besser! Fehlt ihm aber die Gewissheit und die Entschiedenheit, hat er seine eigentliche Bekehrung noch vor sich. Denn bevor er nicht weiß, dass er Gottes Gefangener ist und bleibt, ist Gottes Werk an ihm nicht vollendet. Sind wir hingegeben und fest im Gehorsam, so hat’s keine Not mehr. Denn wo einer sauber ist, muss man ihn nicht waschen. Und wo der Heilige Geist schon ist, muss man ihn nicht erst rufen. Ist der Mensch aber vorerst nur auf dem Papier ein Christ, so ist ihm jenes heftige Licht zu wünschen, das den Paulus vor Damaskus von seinem Reittier warf und als einen komplett neuen Menschen wieder auf die Füße stellte. Man muss dazu keine Himmelsstimmen hören und keinen Rausch religiöser Gefühle erleben – es geht durchaus unspektakulär, ohne Visionen und brennende Dornbüsche! Aber Klarheit braucht der Mensch schon – und die Gewissheit, mit seinem himmlischen Vater im Reinen zu sein! Erst wenn unser Gewissen in Gottes Wort gefangen, und unserer Zuversicht in Gottes Treue verwurzelt ist, erst dann ist die Sache in trockenen Tüchern. Und mit weniger sollte sich keiner zufrieden geben, weil unsere Erlösung dran hängt. Als Jesus seinen Jüngern die Füße wusch und dem Petrus erklärte, dass er nur dadurch vollen Anteil an ihm haben könne, wollte Petrus auch den Kopf und die Hände gewaschen bekommen! Und so sollten auch wir nicht zufrieden sein und nicht eher Ruhe geben, bevor nicht das Werk des Heiligen Geistes an uns vollendet, und alles an uns von ihm durchdrungen ist. Nur Gottes Geist kann einen geistlich toten Menschen zum geistlichen Leben erwecken und einen Sünder zur Gnade berufen. Unser Interesse muss aber sein, dabei nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Entfernt uns der Arzt ein Geschwür, legen wir Wert darauf, dass er es ganz entfernt. Schenkt uns jemand etwas Schönes, wollen wir nicht bloß Teile, sondern das Ganze empfangen. Und so werden wir uns auch wünschen, dass unsere Bekehrung keine halbe Sache sei. Denn schließlich zieht sie viel Gutes nach sich: Wo einer bekehrt ist, fehlt ihm der Glaube nicht. Und wo der Glaube ist, kann Christus nicht fern sein. Mit Christus zugleich ziehen aber Vergebung und Gnade bei uns ein. Und mit der Gnade kommt ein fröhlich-befreites Gewissen, es kommen Friede und Freude im Heiligen Geist – und das Ewige Leben gleich noch obendrauf! All das folgt notwendig nach und kann nicht ausbleiben, wenn wir nur wirklich hingekehrt sind zu Gott. Darum: Verdenken wir’s keinem, wenn er uns missionarisch kommt und nach unserer Bekehrung fragt! Denn entweder erinnert er uns an etwas Beglückendes, das mit unserem Christenstand schon gegeben und darum ein Grund zur Freude ist. Oder er erinnert uns an etwas, das noch unvollendet aussteht und darum dringend der Vollendung bedarf. So oder so tut man uns mit der Nachfrage etwas Gutes! Und in jedem Fall kann sie Anlass sein, den Heiligen Geist neu zu erbitten. Denn schwerlich ist einer unter uns, mit dem der Heilige Geist nicht schon einen Anfang gemacht hätte. Und schwerlich gibt es einen, mit dem der Heilige Geist schon restlos fertig wäre. Es ist noch im Werden, und aus Stillstand wird leicht Rückschritt. Darum wollen wir Gott bitten, dass unser Glaubenseifer nicht vor der Zeit erlahmen möge, bevor wir das Ziel erreicht und den schönen Preis gewonnen haben!

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Conversion of St. Paul on the Way to Damascus

Caravaggio, Public domain, via Wikimedia Commons