Stolz

Stolz

Wenn man Christen fragt, ob sie „stolz“ sind, wehren sie das erschrocken ab. Denn zum Christ-Sein gehört nicht Dünkel, sondern Demut. Das Evangelium, auf das der Glaube sich stützt, macht Gottes Gnade groß – und steht somit allem menschlichen Rühmen entgegen: „Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme“ (Eph 2,8-9). Diese Mahnung leuchtet ein. Denn rühmen kann man sich nur eigener Taten. Und eines Christen Seligkeit ist eindeutig Gottes Tat. Sie wird nicht durch Werke verdient, sondern durch Gottes Gnade geschenkt. Und so gebührt auch Gott allein die Ehre, uns gerettet zu haben. Erlöst zu sein, soll einen Christen dankbar und froh machen. Aber stolz macht es nicht, denn die Betroffenen tragen nichts dazu bei. Es ist ein Sieg göttlicher Gnade – und lässt (eben darum) keinen Raum für menschlichen Stolz. Darüber besteht auch ein weitgehender Konsens. Jeder sagt es so. Und doch frage ich mich manchmal, ob wir’s nicht eigentlich – tief im Herzen – anders möchten.

Lassen wir uns wirklich an Gottes Gnade genügen? Oder wollten wir lieber auf einen eigenen Beitrag stolz sein dürfen? Vertrauen wir seiner Gnade ganz und gar? Oder versuchen wir, unser Dasein auch selbst noch einmal zu rechtfertigen durch Leistung, Nächstenliebe, Fleiß und Tugend? Ich zumindest ertappe mich dabei. Ich möchte Anerkennung auch verdienen, will etwas vorweisen können, stolz darauf sein. Und ich habe den Eindruck, dass es anderen genauso geht. Denn man kann kaum übersehen, wie sich alle Menschen gerne rühmen und ihr Werke präsentieren, wie sich jeder ins rechte Licht setzen, Eindruck machen und etwas gelten will. Man ist zu stolz, um sich einfach nur begnadigen zu lassen. Man will eine Anerkennung erfahren, deren Grund in einem selbst liegt. Das scheint ein unausrottbares Bedürfnis zu sein! Und passt es auch schlecht zur Gnade Gottes (weil beschenkt zu werden nun mal kein Verdienst ist), so nagt doch der Wunsch an uns, auf ein wenig Respekt auch Anspruch zu haben. 

„Oh“, heißt es, „da ist jemand mit dem Fahrrad bis nach München gefahren? Na ja, ich bin in meiner Jugend bis nach Rom gegangen – und zwar zu Fuß! Jemand hat sich ein schönes Haus gekauft? Na also ich hab’ mein Haus noch mit den eigenen Händen erbaut! Jemand ist krank und erduldet tapfer seine Schmerzen? Das ist gar nichts im Vergleich zu meiner Leidensgeschichte! Jemand ist fleißig? Aber ich hab’ immer geschuftet für zwei! Aus Nachbars Kindern ist etwas geworden? Ja, aber aus unseren noch viel mehr!“ 

Ich will das gar nicht karikieren. Aber es ist erschreckend, wie Menschen das Geltungsbedürfnis aus allen Knopflöchern dringt, wie das Großtun und Prahlen schon im Kindergarten anfängt – und später nur etwas subtiler verpackt wird. Natürlich laufen wir nicht herum und rufen: „Schaut mich an, wie toll ich bin, ich weiß bescheid, ich hab’s drauf!“ Aber oft sagt unser Gebaren genau dies. Und der Wunsch steht vielen auf der Stirn geschrieben: „Lasst gelten, dass ich etwas Besonderes bin, und bestätigt mir die positive Bilanz meines Lebens, damit ich endlich auch selbst dran glauben kann.“ Man dringt auf Anerkennung, weil man sich seines Wertes in Wahrheit nicht sicher ist, und in Gottes Gnade nur einen Notbehelf sieht, auf den man lieber nicht angewiesen wäre. Man wollte lieber etwas Eigenes vorweisen, darauf man sein Selbstwertgefühl gründen kann. Und glaubt man uns den erfolgreichen Macher nicht, wollen wir wenigstens als besonders geduldiges Opfer durchgehen oder als lustiges Original. Es kränkt uns, dass die Welt uns in Wahrheit nicht braucht. Und so würden wir ihr gern das Gegenteil beweisen! Wir wären gern bedeutend, darum blasen wir uns auf und machen uns wichtig. Wir wollen wahrgenommen werden und durch unser Glänzen andere überbieten. Darum haben so wenige Talent zur Demut! Doch die Bibel lässt das nicht durchgehen, sondern sagt ganz trocken: Wer sich rühmen will, der rühme sich des Herrn  (2. Kor 10,17; Jeremia 9,22-23). Denn – was soll das auch mit dem Geltungsdrang? Unsere Existenz ist doch längst gerechtfertigt durch den Willen unseres Schöpfers! Selbst unsere Erlösung ist schon in trockenen Tüchern durch Christi Hingabe am Kreuz! Und da gehen wir hin, um unser Dasein noch einmal zu legitimieren durch eigene Leistung? Genügt denn nicht, was Christus für uns tat? Er hat sich seine Zuwendung den höchsten Preis kosten lassen! Und wir glauben immer noch nicht, dass er uns wichtig nimmt, sondern wollen uns auch noch „wichtig machen“? Er lässt uns aus Gnade gelten – und wir gehen hin, um uns auf der Bühne des Lebens zu produzieren und uns damit Geltung zu verschaffen auf eigene Faust? Ja, trauen wir denn seinem Evangelium nicht? „Äh, doch“ hört man, „schönen Dank für das Evangelium. Aber außerdem wären wir gern noch auf etwas stolz. Und wenn wir schon bescheiden sein sollen – dürfen wir dann nicht wenigstens stolz sein auf unsere Bescheidenheit?“ 

So kommt es immer wieder durch. Mal rühmen wir uns auf die plumpe Art, mal etwas raffinierter. Doch so oder so läuft jeder Versuch, Eindruck zu schinden, der Gnade Gottes zuwider. Und wenn wir meinen, durch unsere „Lebensleistung“ ein zweites Mal die Rechnung zu begleichen, die Christus schon beglichen hat, nehmen wir seine Gnade nicht ernst. Wir richten unsere eigene Gerechtigkeit auf, statt uns an seiner genügen zu lassen (Röm 10,3). Wir bauen am eigenen Denkmal – und bauen also nicht auf Gottes Treue. Wir erzählen unser Leben als einen Roman, in dem wir der Held sind. Und je eifriger wir versuchen, für uns selbst gerade zu stehen, um so sicherer verfehlen wir das Ziel. Denn beides zugleich geht nun mal nicht: Entweder geben wir Christus die Ehre – oder wir reklamieren sie für uns. Entweder setzen wir auf Gottes Gnade – oder auf unser Verdienst. Entweder trösten wir uns seiner Kraft und Treue – oder unseres eigenen Vermögens. Was immer wir unserem Werk zusprechen und geben, werden wir dadurch seiner Gnade absprechen und nehmen. Und so wird ein Christ, der glänzen will, es immer auf Kosten Jesu Christi tun. Selma Lagerlöf hat das eindrücklich illustriert, als sie in „Gösta Berling“ das Sterben eines Bauern beschrieb: 

„Ein alter Bauer in Högberg liegt auf dem Totenbette. Er hat das Sakrament empfangen, und seine Lebenskraft ist verzehrt; er muss sterben. Rastlos wie jemand, der im Begriff steht, eine lange Reise anzutreten, lässt er sein Bett aus der Küche in die Stube und aus der Stube wieder zurück in die Küche bringen. Hieraus kann man, mehr als aus seinem schweren Röcheln, erkennen, dass seine letzte Stunde gekommen ist. Um ihn herum stehen seine Frau, seine Kinder, sein Gesinde. Er war glücklich, reich und angesehen gewesen. Sein Totenbett ist nicht einsam. Er ist in seiner letzten Stunde nicht von ungeduldigen Fremden umgeben. Der alte Mann spricht von sich immer selber, als stehe er vor Gottes Angesicht, und mit vielen Seufzern und bestätigenden Worten bezeugen die Umstehenden, dass seine Rede wahr ist. „Ich bin ein fleißiger Arbeiter und ein guter Hausherr gewesen“, sagte er. „Ich habe meine Frau geliebt wie meine rechte Hand. Ich habe meine Kinder nicht ohne Zucht und Pflege aufwachsen lassen. Ich habe nicht getrunken. Ich habe die Grenzscheide nicht verrückt. Ich habe meinem Pferd, wenn es bergan ging, nicht die Sporen gegeben, ich habe die Kühe im Winter nicht hungern lassen. Ich habe die Schafe im Sommer nicht mit ihrer Wolle herumlaufen lassen.“ Und um ihn her wiederholt das weinende Gesinde wie ein Echo: „Er ist ein guter Hausherr gewesen, ach, Herr Gott! Er hat dem Pferd, wenn es bergan ging, nicht die Sporen gegeben, er hat die Kühe im Winter nicht hungern lassen.“ Aber ganz unbemerkt ist ein armer Mann zur Tür hereingekommen, um ein wenig Speise und Trank zu erbitten. Auch er hört die Worte des Sterbenden, wie er schweigend an der Tür steht. Und der Kranke beginnt wieder: „Ich habe die Wälder urbar gemacht und die Wiesen ausgetrocknet. Ich habe den Pflug in geraden Furchen gezogen. Ich habe die Scheune dreimal so groß gebaut, zu dreimal mehr Saatkorn als zu meiner Väter Zeiten. Ich habe drei silberne Becher von blanken Speziestalern machen lassen – mein Vater ließ nur einen machen.“ Die Worte des Sterbenden dringen bis an das Ohr des Fremdlings an der Tür. Er hört ihn von sich selber zeugen, als stünde er vor Gottes Thron. Er hört die Kinder und das Gesinde bestätigend wiederholen: „Er fuhr den Pflug in geraden Furchen, das tat er.“ „Gott wird mir schon einen guten Platz in seinem Himmelreich geben“, sagt der Alte. „Der liebe Gott wird unsern Herrn wohl gut aufnehmen“, sagt das Gesinde. Der Mann an der Tür hört die Worte, und Entsetzen ergreift ihn (…). Er tritt an den Kranken heran und ergreift seine Hand. „Mein Freund, mein Freund,“ sagt er, und seine Stimme zittert vor Erregung, „hast du bedacht, wer der Herr ist, vor dessen Antlitz du bald treten sollst? Er ist ein großer Gott, ein mächtiger Gott. Welten sind seine Äcker, der Sturm ist sein Pferd. Große Himmel erzittern unter dem Gewicht seiner Fußtritte. Und du stellst dich ihm gegenüber und sagst: ,Ich habe gerade Furchen gezogen, ich habe Roggen gesät, ich habe Holz geschlagen.‘ Willst du dich vor ihm rühmen und dich mit ihm messen? Du weißt nicht, wie mächtig der Herr ist, nach dessen Reich du ziehst!“ Der Alte reißt die Augen auf, sein Antlitz verzerrt sich vor Angst, sein Röcheln wird heftiger. „Tritt nicht mit großen Worten vor deinen Gott!“ fährt der Wandersmann fort. „Die Mächtigen auf Erden sind wie gedroschenes Stroh in seiner Scheune. Sein Tagewerk besteht darin, Samen zu säen. Er hat die Meere gegraben und die Berge aufgetürmt; er hat die Erde mit Kräutern bekleidet. Er ist ein Arbeiter ohnegleichen; du kannst dich nicht mit ihm messen. Beuge dich vor ihm, du fliehende Menschenseele! Wirf dich in den Staub vor deinem Herrn und Gott! Gottes Sturm fährt über dich hin. Gottes Zorn ist über dir wie ein verheerendes Gewitter. Beuge dich! Erfasse wie ein Kind den Zipfel seines Mantels und flehe um Schutz! Wälze dich im Staube, bitte um Gnade! Demütige dich vor deinem Schöpfer, du Menschenseele!“ Die Augen des Kranken stehen weit geöffnet, seine Hände falten sich, aber sein Antlitz erhellt sich, und der röchelnde Laut hält inne. „Menschenseele! fliehende Menschenseele!“ ruft der Mann aus. „So sicher, wie du dich jetzt in deiner letzten Stunde demütig vor deinem Gott niedergeworfen hast, so sicher ist es, dass er dich als Kind auf seine Arme nehmen und dich in die Herrlichkeit seines Himmels einführen wird.“ Der Alte seufzt noch einmal tief auf, und alles ist vorbei. Hauptmann Lennart beugt sein Haupt und betet. Alle im Zimmer beten unter tiefen Seufzern. Als sie aufschauen, liegt der alte Bauer in tiefem Frieden. Seine Augen scheinen noch zu strahlen von dem Widerschein herrlicher Bilder, sein Mund lächelt, sein Antlitz leuchtet. Er hat Gott geschaut. O du große, schöne Menschenseele! denken alle, die ihn gesehen haben, so hast du denn die Banden des Staubes zerrissen. In deiner letzten Stunde erhobest du dich zu deinem Schöpfer. Du demütigtest dich vor ihm, und er hob dich wie ein Kind auf seine Arme…“ 

Mir scheint, dass Selma Lagerlöf hier nicht nur gut beschreibt, was es bedeutet im Glauben zu sterben, sondern zugleich, was es heißt im Glauben zu leben. Denn nicht erst am Ende, sondern schon heute können wir versuchen, es dem alten Bauern gleich zu tun und unseren törichten Stolz loszuwerden. Wir müssen dazu aber nicht etwa mehr tun, sondern weniger. Indem wir nämlich die Rechtfertigung unsers Daseins ein für allemal aus der Hand geben und sie unserem Gott überlassen, dessen Urteil wir nichts hinzufügen und von dem wir nichts wegnehmen können. Es kommt weder darauf an, sich mit Leistungen vor Gott Geltung zu verschaffen, noch kommt es darauf an, vorhandene Leistungen zu leugnen und klein zu reden. Sondern das fordert der Glaube, dass wir das Unsere schlicht beiseite lassen und davon absehen, um überhaupt nicht mehr wichtig zu nehmen, was wir tun, dafür aber um so wichtiger zu nehmen, was Christus für uns tat. Selbst wenn wir alles erdenklich Gute vollbrächten und als Wohltäter der Menschheit fast wie Heilige dastünden, wäre das kein Grund zum Rühmen, sondern bloß unsere Pflicht und Schuldigkeit (Lk 17,10). Das Gute hingegen, das Christus für uns tat, war er uns nicht schuldig. Es ist reine Gnade. Und die gibt uns gerade darum so festen Boden unter die Füße, weil sie nicht von dem abhängt, was wir für unsere Erfolge halten. Christus fordert uns auf, ein für allemal nicht auf eigene Rechnung, sondern auf seine Rechnung zu leben und zu sterben. Und eine andere Anerkennung als die, die wir in Christus haben, braucht auch kein Mensch. Man kann dieses Gnadenangebot aber nicht in Anspruch nehmen, ohne zugleich den eigenen Stolz zu verabschieden. Denn an beidem festzuhalten, das geht nun mal nicht. Entweder geben wir Christus die Ehre – oder wir reklamieren sie für uns. Entweder setzen wir auf Gottes Gnade – oder auf unser Verdienst. Was immer wir unserem Werk zusprechen und geben, haben wir damit der Gnade abgesprochen und genommen. Und so wird ein Christ, der glänzen will, es immer auf Christi Kosten tun. Das aber ist tiefes Unrecht. Darum – will sich einer unbedingt rühmen, so rühme er sich, seinen Erlöser zu kennen. Und will er stolz sein, so sei er stolz auf Christus, seinen Herrn. Dürstet einer nach Anerkennung, so suche er sie bei Christus. Und will er was gelten, so frage er Christus, ob der ihn gelten lässt. Alles andere aber ist Anmaßung, Dünkel und Raub an der Ehre Christi. Vor dem aber bewahre uns der Himmel, der allezeit Platz hat für Gescheiterte und Gebeugte, der aber niemals Platz hat für Selbstgewisse und Stolze. 

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Napoleon crossing the Alps

Jacques-Louis David, Public domain, via Wikimedia Commons