Thesen zu Gesetz und Evangelium

Die Kunst der rechten Unterscheidung

( Teils formuliert in Anlehnung an C.F.W. Walther, 1897 )

 

Der Lehrgehalt der ganzen heiligen Schrift, sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments, besteht aus zwei voneinander grundverschiedenen Lehren, nämlich dem Gesetz und dem Evangelium. Gesetz und Evangelium recht zu unterscheiden, ist die schwierigste und höchste Christen- und Theologenkunst, die allein der Heilige Geist in der Schule der Erfahrung lehrt. Die rechte Erkenntnis dieses Unterschiedes ist nicht nur ein herrliches Licht zum rechten Verstand der Heiligen Schrift, sondern ohne jene Erkenntnis ist und bleibt auch dieselbe ein fest verschlossenes Buch.

 

Gesetz und Evangelium werden nicht recht unterschieden

 

…wenn man unterstellt, das Gesetz werde nur aus methodischen Gründen verkündet, um nämlich den Menschen eine Angst einzujagen, von der das Evangelium sie anschließend befreien kann. Tatsächlich wird das Gesetz nur aus einem Grund verkündigt: Weil es gilt – und seine Geltung zu verschweigen fahrlässig wäre.

 

…wenn man dergestalt eins ins andere mengt, dass das Gesetz als frohe Botschaft erscheint und das Evangelium als neues Gesetz. Tatsächlich sind die beiden Worte Gottes so weit auseinander wie Knechtschaft und Freiheit, Tod und Leben, Finsternis und Licht.

 

…wenn man die zwischen Gesetz und Evangelium bestehende Spannung einebnet oder verharmlost, so als wäre da kein echter Gegensatz. Tatsächlich kann der Gegensatz zwischen beiden Worten Gottes nicht durch gedankliche Kunststücke überwunden werden, sondern nur auf heilsgeschichtlichem Wege durch das Kreuz Christi.

 

…wenn man den vorhandenen Gegensatz bewusst ins Absurde steigert, so als würde das Evangelium bejahen, was das Gesetz (gleichzeitig und in derselben Hinsicht) verneint. Die Spannung, um die es tatsächlich geht, ist nicht gedanklich-logischer, sondern existentieller Art.

 

…wenn angenommen wird, Gesetz und Evangelium verhielten sich (in der biblischen Geschichte oder in der Biographie des Gläubigen) wie einander ablösende Epochen, deren erste uns irgendwann nichts mehr anginge. Tatsächlich gelten Gesetz und Evangelium zugleich.

 

…wenn man den Gedanken aufkommen lässt, die Wahrheit läge irgendwo „in der Mitte“ zwischen Gesetz und Evangelium.

 

…wenn man meint, das Gesetz gelte nur den unmoralisch-schlechten Anteilen einer Person, das Evangelium aber den tugendhaft-guten. Tatsächlich sind Gesetz und Evangelium nicht Partial- sondern Totalbestimmungen, die nie nur einen Teil, sondern immer den ganzen Menschen betreffen.

 

…wenn man unterstellt, ein fortschreitender Glaube könne irgendwann über die rückhaltlose Anerkenntnis beider Urteile hinauswachsen. Tatsächlich ist Glaube nichts anderes, als die Anerkenntnis dieser beiden Urteile – und das daraus resultierende Fliehen vor Gott zu Gott.

 

…wenn man Gesetz und Evangelium auseinanderreißen und eines ohne Bezug auf das andere predigen wollte. Gesetz ohne Evangelium stürzt den Menschen in die Verzweiflung, Evangelium ohne Gesetz führt ihn zu Überheblichkeit und falscher Sicherheit.

 

…wenn man das Gesetz den Erschrockenen und Verzagten vorlegt, den Sicheren und Stolzen aber das Evangelium predigt. Rechte Verkündigung kann nur geschehen, wo das Gegenüber in seelsorgerlicher Verantwortung wahrgenommen und situationsgerecht angesprochen wird.

 

…wenn das Verhältnis der beiden Worte ungewiss oder in der Schwebe bleibt, so als ob zwischen Gesetz und Evangelium ein unentschiedenes Kräfteverhältnis oder eine Patt-Situation bestünde. Tatsächlich ist Gottes Liebe mächtiger als sein Zorn: Sie hat im Kreuz Christi den Fluch des Gesetzes überwunden. Darum muss auch in der Verkündigung das Evangelium deutlich und zweifelsfrei vorherrschen.