Ist alles relativ?

 

Wer heute in Glaubensdingen einen klaren Standpunkt vertritt, wird angeschaut, als wäre er nicht ganz bei Trost. Denn sich mit Überzeugung zum Christentum zu bekennen, ist aus der Mode gekommen. Vielen Menschen gilt als „der Weisheit letzter Schluss“, dass nur gewiss sei, was man messen, zählen oder in harter Währung ausbezahlen kann. Alles andere, sagen sie, sei doch „relativ“. Und gerade Religion beruhe nur auf subjektiven Meinungen. „Das mit Gott“ könne jeder sehen, wie er will. Und „moralisch“ sei auch nur, was der Einzelne gerade dafür halten will. 

Diese Einstellung ist verbreitet. Und so wird in unserer Gesellschaft zwar noch gern von „Grundwerten“ gesprochen. Welche das sind, kann aber keiner mehr so recht sagen. Und wenn der Trend sich fortsetzt, gibt es bald ebenso viele „Kulturen“ wie Individuen – und keinen Konsens mehr, der sie zusammenhält. Doch wohin führt dieser Weg? Am Ende scheint alles fraglich, und nichts gewiss zu sein. Was als gut oder böse gilt, ist „Ansichtssache“. Recht und Unrecht muss man immer erst ausdiskutieren. Selbstverständlich ist gar nichts. Und verbindlich nur das, worin man zufällig übereinstimmt. Denn Weltanschauungen gibt es endlos viele, Meinungen noch mehr – und zu jedem Thema findet sich einer, der alles ganz anders sieht. Was wird dann aber die Basis sein, auf der Menschen künftig miteinander leben? „Wahrheit“ gibt es schon jetzt nur noch in der Mehrzahl subjektiver „Wahrheiten“. Welche man persönlich gut findet, scheint beliebig zu sein. Und selbst offenkundigen Tatsachen werden „alternative Fakten“ gegenübergestellt. Denn angeblich ist sowieso „alles relativ“.  Aber stimmt das? 

Wer darauf verweist, dass doch immerhin Gott nicht „relativ“, sondern „absolut“ ist, erntet ein müdes Lächeln. Denn der postmoderne Mensch ist überzeugt, dass nur gilt, was er selbst gelten lässt. Du siehst es so. Und ich sehe es anders. Für dich ist dies wahr. Für mich das Gegenteil. Und es lohnt sich nicht einmal, darüber zu streiten. Denn wenn „alles relativ“ ist, hat sowieso niemand „Recht“. Da ist dann nichts mehr im strengen Sinne „richtig“, nichts mehr „falsch“ – und folglich alles erlaubt.

Momentan profitiert die westliche Welt noch von ihrer christlichen Prägung, wie von einer alten Gewohnheit. Sie vergisst aber zunehmend, was der Grund für all das Gute war, und verliert dadurch die Orientierung. Freilich will man diesen Werteverlust nicht „Haltlosigkeit“ nennen! Darum spricht man lieber von „Freiheit“. Und weil auch „Beliebigkeit“ hässlich klingt, redet man lieber von „Toleranz“. Man wirft viele Kulturen in einen Eimer und hofft, dass daraus wie von selbst eine neue entsteht. Doch so einfach wird das nicht gehen. Denn wenn alles gleich viel gilt, gilt nichts mehr wirklich. Und dieser Verlust der Maßstäbe ist nur auf den ersten Blick ein schöner und zwangloser Zustand. Denn tatsächlich gleicht man darin einem Wanderer, der in der Wüste seinen Kompass verloren hat, und dem infolgedessen jede Richtung gleich recht ist. Ohne Orientierung ist die Wahl des Weges beliebig. Und wenn man das Ziel nicht kennt, nützt es auch nichts, um so schneller zu laufen. Man stolpert also planlos herum und lässt sich von den Umständen treiben. Darum ist es wichtig zu sehen, wo der Relativismus unserer Zeit sein Recht – und wo er seine Grenze hat.

Er hat darin sicher Recht, dass menschliche Aussagen von einem bestimmten Standort aus getroffen werden und deshalb für jemanden, der einen anderen Standort einnimmt, nicht automatisch dieselbe Geltung beanspruchen können. Denn für mich ist mein linkes Bein mein „linkes“ Bein. Wenn mir aber jemand gegenübersteht, so ist es von ihm aus gesehen das „rechte“ Bein. In Deutschland kann man sich darüber einigen, wo „oben“ ist. Für die Australier auf der anderen Seite der Welt ist dieselbe Richtung aber eindeutig „unten“. Für die Ameise ist ein Mensch gewaltig „groß“. Doch für den Elefanten ist derselbe Mensch „klein“. Und was ist nun „wahr“? 

Jeder sieht ein, dass, was in der Perspektive der Ameise „wahr“ ist, für den Elefanten noch längst nicht „wahr“ sein muss. Denn das Urteil der Ameise, dass ein Mensch „groß“ sei, ergibt sich aus ihrer eigenen kleinen Statur. Ihre Sicht ist also nicht „verallgemeinerbar“ – und die des Elefanten ebensowenig. Doch die Redewendung „alles sei relativ“ geht deutlich weiter. Sie dehnt die Einsicht in die Relativität vieler Urteile auf alle Urteile aus und behauptet, es gäbe ausnahmslos nur perspektivische „Wahrheiten“. Alles soll subjektiv sein, gar nichts objektiv. Und damit schießt man über das Ziel hinaus. Denn es gibt durchaus Sätze, die sich in jeder Perspektive bewahrheiten. Nicht alles ist relativ, Gott z.B. ist absolut. Und es gibt kein Geschöpf, das sich nicht ihm verdankte. Gott ist nicht in mancher, sondern in jeder erdenklichen Beziehung „groß“. Und was immer man als Maßstab oder Vergleichspunkt heranziehen mag, wird er doch stets als „heilig“ befunden. Lässt man Gott aber außer acht (der fest steht), dann behält man freilich nur Wandelbares übrig! Dann ist alles zufällig, und nichts mehr notwendig. Alles wird zur „Ansichtssache“. Alles ist mehrdeutig. Und nichts mehr „verallgemeinerbar“. Der Unterschied von Gut und Böse verschwimmt. Und niemand kann wissen, ob das Ziel, das er ansteuert, überhaupt der Mühe wert ist. Denn wenn alles „relativ“ ist, ist auch nichts mehr von unbedingter Bedeutung. Der Mensch trudelt dann verunsichert durchs Leben und hat fremden Forderungen nichts mehr entgegenzusetzen, weil ihm der Maßstab fehlt, um sich ein Urteil zu bilden. Und diesen Kontrollverlust sollte man nicht mit „Freiheit“ verwechseln! 

Das Meer mag sehr unruhig sein, aber ein Seefahrer kann sich helfen, solange der Horizont fest bleibt, solange die Gestirne ihre Bahnen einhalten und die Kompassnadel nach Norden zeigt. Solange wenigstens ein paar Dinge nicht „relativ“ sind, kann man seine Position bestimmen im Bezug zu „absoluten“ Größen wie dem Polarstern, dem Sonnenstand oder dem Horizont. Wenn sich aber alles veränderte und alles so schwankend und variabel wäre wie das Wetter und der Wellengang – wie sollte man da navigieren? Eben dahin gerät der Mensch, wenn er keine Wahrheit, sondern nur noch Meinungen kennt. Dem muss alles gleich gültig oder auch gleich fraglich erscheinen, denn sein Denken ist „haltlos“ im wörtlichen Sinne. Am Anfang findet er diesen Zustand vielleicht komfortabel, weil er erlaubt, jede Autorität zu leugnen – außer der eigenen. Aber kann man auf die Dauer so unverbindlich leben? Braucht nicht jeder etwas, das für ihn von letzter Bedeutung ist? Oder soll das etwa als letzte Gewissheit gelten, dass jeder für sich selbst das „Maß aller Dinge“ sei? Wir haben leider schon zu viele Menschen, die so ticken! Sie fühlen sich niemandem verpflichtet, außer den eigenen Bedürfnissen. Doch wer will mit solchen Leuten leben? 

Verantwortliches Leben gibt es nur, wenn da eine Instanz ist, vor der man es verantwortet. Und da alles Irdische in der Tat relativ, wandelbar und fragwürdig ist, kommt als solche Instanz nur Gott in Frage. Alles außer ihm unterliegt Schwankungen. Er aber ist und bleibt derselbe. Alles, was Gott geschaffen hat, besteht nur, solange es ihm gefällt. Alles was gilt, gilt nur, sofern er‘s gelten lässt. Alles hat nur soviel Sinn, wie er ihm verleiht. Alles ist von Gott her und auf ihn hin geschaffen. Er aber ist aus sich selbst – und bedarf dazu keines anderen. Es gibt keinen noch so speziellen Standpunkt im Himmel oder auf Erden, von dem aus gesehen Gott nicht groß und heilig wäre. Er ist immer zentral und nie peripher. Er ist immer das Ganze und nie bloß ein Teil. Er ist überall der Herr – und niemand kann‘s ändern. Denn Gott ist keine Ansichtssache, sondern eine Gegebenheit, die man nur zum eigenen Schaden ignorieren kann. Er ist und bleibt der Grund aller Gründe, das Maß aller Maße, der Anfang und das Ende, das A und das O. Und jeder hat ein Recht, das zu erfahren. Denn wo Gott aus dem Blickfeld eines Menschen verschwindet, da ist es, als würde ihm der Horizont mit einem Schwamm weggewischt. Wo alles relativ sein soll, beginnt sich alles zu drehen, bald dreht sich auch der Mensch nur noch um sich selbst – und hört nur noch das verwirrende Echo seiner eigenen Stimme. Wo man Gott ignoriert, zieht man den Nagel aus der Wand, an dem das eigene Leben hängt. Man verliert dadurch den Halt und geht über in den freien Fall… 

Wer sich das veranschaulichen will, muss nur einmal beobachten, wie Kinder im Herbst ihre Drachen steigen lassen – und kann dann in diesen Drachen ein Bild des Menschen finden. Natürlich weiß jeder, dass so ein Drachen einen Rahmen braucht, also Stäbe, und eine darüber gespannte Haut, in die der Wind greifen kann. Jeder weiß auch, dass der Drache nur fliegt, wenn entsprechend kräftiger Wind weht. Aber nimmt man nur den Drachen und den Wind – und sonst nichts –, so wird etwas Entscheidendes fehlen, und der Drachen wird durchaus nicht steigen! Denn tatsächlich braucht er zu allem anderen auch eine Schnur, die ihn am Boden oder in der Hand verankert. Und ohne diese Schnur geht gar nichts. Denn die Freiheit und Beweglichkeit des Drachens ist zwar schön und ist genauso nötig, wie der kraftvolle Wind. Soll aber dieser Wind den Drachen nicht bloß über den Boden blasen und ihn dabei zerschreddern – soll also der Drachen wirklich steigen! –, muss er mit der Schnur verankert sein und gegen die Kraft des Windes ein Widerlager haben. Erst diese Bindung macht ihn flugfähig! Nur gebunden erreicht er Höhe! Und so ist es mit Menschen auch: nur gebunden erreichen sie Höhe! 

Man wünscht ihnen darum für ihren Lebensflug einen guten Rahmen mit einer festen Bespannung, dazu auch die schönste Sonne und den kräftigsten Wind. Aber um in die Höhe zu steigen, für die sie bestimmt sind, darf die Schnur nicht fehlen. Damit sie steigen, darf nicht alles an ihnen beweglich sein, wandelbar und relativ, sondern eines muss auch fest sein: und das ist die Schnur, die den Menschen mit Gott verbindet (das ist der Anker, den er braucht, um sich nicht zu verlieren) oder mit einem Wort gesagt: das ist sein Glaube. Er ist das Widerlager gegen all die Wandlungen, die den Menschen treffen. Er ist das Bleibende in aller Veränderung und verknüpft das Menschlich-Bedingte mit dem Unbedingten, weil Gottes Gebote und Zusagen nicht bloß relative, sondern absolute Geltung haben. Sich an Gott zu binden, ist darum kein Hemmnis, sondern ist der Schlüssel zu einem gelingenden Leben. Denn wie beim Drachen hält diese Bindung den Menschen nicht etwa unten am Boden fest, sondern gerade sie ermöglicht den Flug… 

Wenn der Glaube dazu aber nötig ist – darf man den Relativismus dann unwidersprochen lassen? Ich meine, schon im Interesse kommender Generationen schulden wir allen Relativisten den Hinweis, dass ihre Haltung logisch nicht durchgehalten werden kann: die Behauptung, alles sei relativ und nichts wirklich wahr, hebt sich selbst auf. Denn wenn es wahr sein soll, dass es keine Wahrheit gibt, dann ist offenbar auch dieser Satz selbst – „dass es keine Wahrheit gibt“ – nicht wahr. Ist er aber irrig oder gelogen – so muss es Wahrheit geben! Wenn alles nur relativ gilt, gilt eben auch diese Behauptung – „alles sei relativ“ – nicht absolut! Relativismus funktioniert also nicht mal philosophisch. Und wenn das so ist – welchen Grund hätten dann Christen, sich von ihm beeindrucken oder anstecken zu lassen? Es stimmt ja, dass in unserer Welt vieles nur so ernst ist, wie wir es nehmen. Aber „vieles“ ist nicht „alles“. Und auf Gott trifft es – Gott sei Dank! – nicht zu.

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Lighthouse at Stora Bält

Anton Melbye, Public domain, via Wikimedia Commons