Trost
„Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ (Jes 66,13). Dieser Vers ist schon auf den ersten Blick eingängig und freundlich. Und er gefällt besonders Frauen, weil er die mütterliche Seite Gottes hervorhebt. Tatsächlich ist der Gott der Bibel nicht bloß Vater und zeigt nicht bloß männliche Eigenschaften, sondern er kann auch mit einer Mutter verglichen werden, die zärtlich ist und liebevoll, geduldig und sanft. Und da steckt schon viel Evangelium drin, wenn der Mensch wissen darf, dass Gott für ihn ein Fluchtpunkt und ein sicherer Hafen sein will. Wie ein kleines Kind (das sich wehgetan hat oder Angst bekommt) zur Mutter läuft und auf ihren Schoß flüchtet, so dürfen wir das bei Gott tun. Und wie die Mutter dann das aufgeregte Kind beruhigt und sagt „Es ist gut“ (und dann ist es auch gut!), so dürfen wir es bei Gott erwarten. Schön ist das, und ein wenig rührend, denn jedem fällt dazu die eigene Mutter ein, die für aufgeschlagene Knie ein Pflaster bereithielt, die verheulte Gesichter mit einem Taschentuch wieder in Ordnung brachte und einen für die Gemeinheit der Welt mit einem Bonbon entschädigte. Gott hat wirklich diese mütterliche Seite. Aber wenn wir das festgestellt haben – sind wir dann mit Jesajas Wort schon fertig? Nein, ich denke es lohnt sich, noch einen zweiten Blick darauf zu werfen und tiefer zu graben. Denn was ist denn eigentlich „Trost“? Ist „Trost“ die Hilfe im Unglück – oder tröstet er nur darüber hinweg, dass Hilfe nicht kam? Ersetzt der Trost die Hilfe durch Vertröstung? Sorgt Trost dafür, dass wir uns gut fühlen, obwohl längst nicht alles gut ist? Und überhaupt: Ist Trost nicht etwas für Kinder und für Schwächlinge, während die Gesunden und Starken es vorziehen, Trost lieber gar nicht nötig zu haben? Wenn wir auf die Mutter schauen, die ihr Kind tröstet, wird schnell klar, dass die konkrete Hilfe, die sie leistet, nicht die Hauptsache ist. Denn das aufgeschlagene Knie kann sie ja nicht gleich wieder heil machen, und auch das Taschentuch und das Bonbon machen die vorangegangene Verletzung nicht ungeschehen. Der Schaden bleibt bestehen – und trotzdem kommt die Welt des Kindes wieder in Ordnung. Wie aber geht das zu? Hat das Kind sein Fahrrad kaputt gefahren und wird getröstet, ist das Fahrrad immernoch kaputt. Hat es sich mit dem besten Freund gestritten und wird getröstet, ist der Streit davon noch nicht beigelegt. Hat das Kind Zahnschmerzen und wird getröstet, geht es dem Zahn davon nicht besser. Und trotzdem geht es dem Kind besser, denn Trost hat diese besondere Eigenschaft, dass er das Leid eines Menschen mindert, auch wenn die Ursache seines Leidens fortbesteht. Wie aber ist das möglich, dass man den Schmerz mindert, ohne das zu beseitigen, was den Schmerz verursacht? Wenn jemand gestorben ist, wie kann dann mitfühlender Trost der Witwe helfen, wenn auch noch soviel Trost den Ehemann nicht wieder lebendig macht? Die Antwort kann nur sein, dass Trost nicht auf das wirkt, was uns verzweifeln lässt, sondern auf unsere Verzweiflung. Trost ändert nicht die konkreten Lebensumstände, aber Trost bringt uns das seelische Gleichgewicht zurück, das uns die Umstände genommen haben. Trost beseitigt nicht das, was uns Angst macht, aber Trost mindert die erlebte Angst durch die Zuwendung und Nähe eines Menschen, der mutiger ist als wir. Und damit ist auch schon klar, wie und unter welcher Voraussetzung Trost funktioniert. Denn trösten kann mich keiner, der genauso aufgelöst und verzweifelt ist wie ich selbst, sondern nur jemand, der Zuversicht und Stärke bewahrt hat. Trösten kann mich keiner, der selber mutlos ist! Es muss einer sein, der die seelische Balance, die ich verlor, für seine Person noch besitzt. Denn wenn zwei gleichermaßen wackeln und fallen – wie könnte sich da einer am anderen festhalten? Steht aber einer fest, während der andere schwankt, kann die feste Schulter dem Schwankenden Halt bieten und eine Stütze sein. Und genau so funktioniert Trost: Dass nämlich einer, der noch über seelische Kraft verfügt, Anteil nimmt am Schicksal dessen, dem diese Kraft gerade fehlt. Der Tröstende ist bereit mit-zu-fühlen, mit-zu-leiden und sich mit-betreffen zu lassen. Die emotionale Last, die für einen zu schwer war, wird sozusagen auf zwei Seelen verteilt, die sie gemeinsam tragen und verkraften, um nach dieser inneren Stärkung dann auch äußerlich wieder handlungsfähig zu werden. Das Kind nach seinem Fahrradunfall ist aufgelöst und verzweifelt, empört, verschreckt und überfordert: Seine Welt ist aus den Fugen! Sobald es aber die Ruhe der Mutter erlebt, die nicht überfordert und nicht panisch ist, gewinnt das Kind die Gewissheit, dass seine Welt auch wieder in Ordnung kommt. Sein Elend relativiert sich, sobald es mit einem Menschen in Kontakt kommt, den dieses Elend nicht überwältigt. Wenn das Kind selbst auch keinen Rat weiß, hat es doch eine Mutter, die immer Rat weiß. Und wenn das Kind sich mal selbst nicht lieben kann, hat es doch noch eine Mutter, die es immer lieben kann. So ist Trost die Teilhabe an der Stärke und am Mut eines Anderen, der mich teilhaben lässt, indem er sich mir zuwendet, sich mir mitteilt und dabei seine Zuversicht mit mir teilt. Oder anders gesagt: Da öffnet sich ein Mitfühlender für die Gemeinschaft mit dem Erschrockenen, weil sein Mut für zwei reicht und er sagt: Ok, was dir fehlt, davon habe ich noch genug, und ich teile es mit dir, damit meine Freude deine Trauer kompensiert, damit meine Vertrauen deine Angst aufwiegt, und meine Hoffnung ein Gegengewicht bildet gegen deine Resignation. Der Verzweifelt hat vielleicht das Gefühl, seine Not sei ausweglos, seine Furcht allumfassend, seine Schwäche endgültig. Der Tröstende aber beweist ihm das Gegenteil, indem er sagt: Schau her, ich bin nicht überwältigt und bin nicht panisch, und du siehst daran, dass du es auch nicht sein musst. Die Verzweiflung ist nicht so allgemein, wie sie dir jetzt vorkommt, denn mich hat sie nicht im Griff! Und fehlt dir momentan alle Kraft, so gibt es doch andere, die noch Kraft haben und sie mit dir teilen. Du bist momentan überwunden und besiegt, aber, schau her, nicht jeder ist besiegt, und auch dir helfen wir wieder auf die Beine. Denn überwunden bist du nur, wenn du dich isoliert betrachtest, als wärst du allein. Aber allein bist du eben nicht, sondern wirst getragen von der Gemein-schaft der Freunde, die an deiner Seite sind… Wenn man einen technischen Vergleich heranziehen will, dann funktioniert Trost wie das Starthilfekabel bei einer Autopanne. Denn des einen Batterie ist leer, die des anderen aber ist voll, und das Starthilfekabel übermittelt die nötige Kraft, damit der lahmgelegte Wagen wieder anspringt. So etwas ist toll. Und Trost als emotionales Starthilfekabel funktioniert bei Kindern deshalb so gut, weil sie ihre Eltern selten hilflos erleben. In den Augen des Kindes sind die Eltern unermesslich klug und stark. Und wenn es ordentliche Eltern sind, sie sind auch bereit, sich anzapfen zu lassen. Das Kind findet bei ihnen verlässlich offene Arme, kann andocken und auftanken! Was aber, wenn ich kein Kind mehr bin, und meine Eltern nicht mehr stark? Nun, wir haben es gehört: „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Und was er damit anbietet, ist keine rührselige, bloß emotionale Stützung, sondern eine konkrete, wechselseitige Partizipation, die in dreierlei besteht: Nämlich (1.), dass Gott teilhaben will an meiner Not, dass er (2.) mich teilhaben lässt an seiner Kraft, und dass er mich (3.) durch diese wechselseitige Teilhabe aus der isolierten Situation, die mich überfordert, in die tröstliche Gemeinschaft mit ihm überführt. Im Grunde haben wir damit das ganze Evangelium auf den Punkt gebracht! Denn was anderes wäre denn die Mission Jesu Christi, als dass er uns Trost spendet durch Teilhabe? Wenn er zu Bethlehem ein Mensch wird, dann doch, um an unserer Situation teilzuhaben. Und wenn er auf Golgatha ans Kreuz geht, dann doch, um unseren Fluch für uns zu tragen. So wie eine Mutter mitleidend bereit ist, das Leid des Kindes mit-zu-leiden und seinen Schmerz mit-zu-fühlen, so öffnet sich Gott für den ganzen Jammer seiner Geschöpfe. Er öffnet sich aber nicht und gibt sich nicht in unsere Lage hinein, um mit uns darin unterzugehen und zu erliegen, sondern um den Sündern Anteil zu geben an seiner Gerechtigkeit, den Schwachen Anteil zu geben an seiner Kraft und den Todgeweihten Anteil an seiner Lebendigkeit. Die tröstliche Zuwendung Gottes zu seinen verunglückten Kindern dient allein dazu, diese – auf sich gesehen hoffnungslosen Fälle – in die Gemeinschaft mit Gott hineinzuretten. Und im Ergebnis sieht die Lage der Gläubigen dann wirklich anders aus. Denn wenn Gott bereit ist, unsere Schuld mit seiner Gerechtigkeit zu kompensieren, und unsere Strafe auf seinen Rücken zu legen, wenn seine Heiligkeit unseren Schmutz aufwiegt, und seine Weisheit unsere Dummheit ausgleicht, dann hat sich das Bild ja völlig gewandelt. Blicke ich nur auf mich, meine Kraft, meine Einsicht, meine Moral, meine Klugheit, habe ich freilich Grund zur Resignation. Aber Gott will ja, dass ich ihn mit auf die Rechnung setzte! Er will, dass ich meine Sachen mit seinen zusammenwerfe als hätten wir eine gemeinsame Kasse. Er will Gütergemeinschaft mit mir pflegen, so dass mein Tod auf seinen Schultern liegt, und ich mich wiederum seines Lebens freue. Ich soll ihm meine Nöte überlassen, und er gibt mir zum Ausgleich seinen Segen. Und ziehe ich das wirklich in die Betrachtung mit ein und habe Gott mit auf dem Schirm, so bin ich in der Gemeinschaft mit ihm zu jeder Zuversicht berechtigt, ja bin mit ihm und in ihm unüberwindlich, ewig, heilig und der Hölle ein für allemal entzogen. „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Und dieses Ver-sprechen wird eingelöst durch das gesamte Evangelium Jesu Christi. Wie aber könnte man es Gott schlechter danken, als wenn man darauf besteht „untröstlich“ zu sein? Tatsächlich kann man niemanden trösten, der sich nicht trösten lässt! Es gehören zwei dazu! Auch die Mutter kann mich nicht trösten, wenn ich ihr aus dem Wege gehe! Und manche Menschen meinen heute, es sei besonders tapfer, wenn sie es mit Gott so machen. Sie wollen um keinen Preis des Trostes bedürftig sein, sondern wollen Männlichkeit und Härte zeigen, indem sie trostlos bleiben. Sie wollen auf niemandes Schoß flüchten, wollen alleine klarkommen und ungetröstet härter sein als das Leben selbst. Aber es ist schade um sie. Denn aus törichtem Stolz entlaufen sie dem einzigen Helfer, der sie schützen könnte, und laufen einem Feind in die Arme, dem sie nicht gewachsen sind. Sie wollen ohne Gott stark sein, und sind dann zu schwach für den Teufel. Das ist ein Jammer! Darum: Hüten wir uns vor dieser Art der Selbstüberschätzung. Freuen wir uns lieber, dass Gott an unserer Seite sein will. Und laden wir auch alle anderen zu solcher Freude ein. Untröstlich zu sein, wenn Trost doch vorhanden ist, das ist dumm. Und sich mit etwas Anderem zu trösten, worauf dann kein Verlass ist, das wäre auch nicht besser. Darum trösten wir uns unseres Gottes, der uns nicht allein lässt, und erzählen wir davon allen, die heute noch trostlos sind. Denn nach den Worten des Paulus ist Gottes Trost nicht nur zum Behalten da, sondern immer auch zum Weitergeben:
„Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Trübsal, damit wir auch trösten können, die in allerlei Trübsal sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.“ (2. Kor 1,3f.)