Sinn
Hamlet und Horatio auf dem Friedhof

Sinn

Das Leben gleicht einem seltsamen Kartenspiel: Wir werden geboren und sind plötzlich mittendrin. Wir müssen das Spiel des Lebens mitspielen, obwohl wir die Spielregeln nicht gemacht haben. Und wir dürfen noch nicht einmal selbst die Karten mischen. Nein, jeder bekommt ungefragt sein Blatt zugeschoben: Talente und Begabungen, aber auch persönliche Schwächen und Unzulänglichkeiten – ein buntes Gemisch aus Trümpfen und Nieten.

Jeder hat ein anderes Blatt, und so sind die Ausgangspositionen der Menschen ganz unterschiedlich. Weil uns aber gar nichts anderes übrig bleibt, versuchen wir im Spiel des Lebens die richtige Karte im richtigen Moment auszuspielen.

Dabei planmäßig vorzugehen ist schwer: Die Regeln des Spieles sind kompliziert, und sein Verlauf kaum vorherzusagen. Wir müssen mit Mitspielern zurechtkommen, die sich ohne zu fragen plötzlich an den Tisch setzen – Menschen treten unverhofft in unser Leben. Und wir müssen ebenso damit leben, dass Mitspieler, an die wir uns gewöhnt haben, plötzlich aussteigen – Ehepartner, Eltern und Freunde wenden sich ab oder sterben. So wandelt sich das Bild ständig: Mal meinen wir das Spiel des Lebens zu gewinnen, mal meinen wir zu verlieren.

Irgendwann aber legt uns jemand die Hand auf die Schulter und sagt: „Für dich ist das Spiel jetzt aus.“ Dann haben wir meist noch wenig verstanden und noch weniger vollendet, müssen aber doch erkennen, dass das Spiel des Lebens Ernst war. Während uns die Karten aus der Hand genommen werden, fragen wir uns, ob wir vielleicht zu viel falsch gemacht haben und deshalb das Leben verlieren. Dann aber müssen wir gehen – und wissen nicht einmal genau wohin...

Ist es da nicht natürlich, dass der Mensch sich selbst zum Rätsel wird? Mitten in der Routine des Alltages halten wir inne, wundern uns über unser Dasein – und fragen nach dem Sinn des Ganzen. Wozu bin ich, wo ich bin? Wozu tue ich, was ich tue? Was soll das bunte Treiben um mich her? Worauf soll das alles hinauslaufen? Hat mein Leben bloß ein Ende oder hat es auch ein Ziel?

Gewiss – an manchen Tagen ist das Leben so schön, dass es sich gewissermaßen von selbst versteht. Dann bedarf seine Fortsetzung keiner weiteren Rechtfertigung, weil fröhliches Lachen alle Fragen übertönt. Aber es gibt auch die finsteren Tage voller Blut, Schweiß und Tränen. Und da fragen wir dann mit Nachdruck nach dem tieferen Sinn dessen, was wir durchstehen und erleiden. Wir wollen verstehen, woher, wohin und wozu das Rad der Weltgeschichte sich dreht. Denn wenn wir es verstünden, könnten wir die Opfer leichter tragen, die diese Drehung fordert und könnten unsere Rolle im großen Welttheater leichter finden. Doch eben da liegt die Schwierigkeit: Wir wissen einfach zu wenig über den großen Zusammenhang, in dem wir stehen. Wir überblicken nicht das große Getriebe, in dem wir ein kleines Rädchen sind. Und ohne einen solchen Überblick über das Ganze lässt sich die Frage nach dem Sinn der Teile nicht beantworten. Denn schließlich ist nichts „an und für sich“ sinnvoll oder sinnlos. Alles ist, was es ist, nur in dem ganz bestimmten Kontext, in dem es steht:

Ein Auto ist nicht „an und für sich“ gut oder schlecht, sondern gut oder schlecht im Blick auf einen bestimmten Zweck. Was gut ist für asphaltierte Rennstrecken kann schlecht sein auf Wüstenpisten.

100 Dollar sind nicht „an und für sich“ viel Geld oder wenig, sondern viel oder wenig im Kontext einer bestimmten wirtschaftlichen Lage. Für einen verwöhnten Europäer, der durch eine noble Einkaufsstraße schlendert, ist es nicht viel. Doch für ein hungriges Kind in Äthiopien kann es ein Vermögen sein.

Eine Pistolenkugel ist nicht „an und für sich“ gefährlich oder ungefährlich, sondern das ist abhängig von ihrem Ort. Steckt sie im Wald in einem Baum, ist sie ohne Bedeutung. Steckt sie aber im Revolver des Räubers, der mir den Weg verstellt, so bedeutet sie auf einmal sehr viel.

Viele Beispiele ließen sich hinzufügen, die dasselbe verdeutlichten. Über Sinn und Bedeutung einer Sache lässt sich nur urteilen, wenn man den Zusammenhang kennt, in dem sie steht. Weil das aber nicht nur von irgendwelchen „Sachen“ gilt, sondern ebenso von meinem eigenen Leben, darum ist die Frage nach dem Sinn meines Lebens so schwer zu beantworten.

Jeder von uns ist nur ein Teil eines riesigen Puzzles, ein Rädchen in einer gewaltigen Maschinerie, eine kleine Fußnote im Roman der Weltgeschichte. Weil unsere Kenntnis vom großen Zusammenhang aber sehr begrenzt ist, darum bedarf die Welt der Interpretation. Wir müssen sie deuten, wie man ein rätselhaftes Gedicht oder eine verschwommene Fotografie zu deuten versucht. Wir müssen unsere Welt deuten, wie man ein Buch deutet, in dem viele Seiten fehlen, oder wie einen Film, bei dem der Ton ausgefallen ist. Und wie macht man das?

Indem man von dem, was klar scheint, zurückschließt auf das, was dunkel ist. Und indem man eine Hypothese bildet bezüglich des Leitmotivs, von dem her das Ganze gedeutet und verstanden werden will. So eine „Grundidee“ zu unterstellen, ist natürlich ein Wagnis. Die Lage ist unübersichtlich. Aber da wir trotzdem in ihr handeln und leben müssen, können wir nicht warten, bis wir das Ganze durchschauen. Täglich werden uns Entscheidungen abverlangt. Deshalb kommt keiner von uns darum herum, die Welt, die er nicht wirklich „begreift“, wenigstens so oder so zu „deuten“. Jeder macht sich seinen Reim darauf – und wenn es auch ein ganz simpler ist. Dabei gilt aber immer, dass der Mensch, indem er dem Ganzen eine Bedeutung unterstellt, auch seinem eigenen Leben, als einem Teil des Ganzen, eine bestimmte Bedeutung zuschreibt:

Deutet er die Welt als Kriegsschauplatz, so findet er seinen eigenen Lebenssinn vermutlich darin, stark und im Lebenskampf überlegen zu sein.

Deutet er die Welt als großen Vergnügungspark, so wird er seinen Lebenssinn darin finden, keine Attraktion zu verpassen.

Und deutet er die Welt als große Täuschung und als Gefängnis seines „wahren Ichs“, so wird sein Lebenssinn wahrscheinlich darin liegen, sich von dieser Welt abzukehren und eine mystische Reise ins Innere anzutreten.

Freilich: Die Zahl solcher „Weltanschauungen“ ist unendlich. Und ihre Qualität ist sehr unterschiedlich. Einige wurden uns anerzogen oder zumindest von den Eltern nahe gelegt. Einige kollidieren mit harten Fakten. Einige sind in sich widersprüchlich. Einige vertragen sich nicht mit meinem Charakter. Einige machen den, der sie vertritt, geradezu lebensuntüchtig. Und andere geben Kraft und Orientierung.

Kein Wunder also, dass uns die Wahl schwer fällt. Kein Wunder aber auch, dass die, die eine tragfähige und überzeugende „Weltanschauung“ gefunden haben, sie anderen Suchenden weiterempfehlen. Auch die Kirche tut das – auf Geheiß Jesu Christi und im Interesse der Menschen. Denn in Auseinandersetzung mit der Bibel gelangen Christen zu der Überzeugung, dass keiner zu sich selbst, zur Wahrheit und zum Sinn seines Daseins findet, wenn er nicht zu Gott findet. Ihn aber zu finden, heißt begreifen, dass diese Welt von Gott her und auf Gott hin geschaffen ist. Für Christen ist Gottes Plan der „große Zusammenhang“, in dem sie stehen. Und auch in diesem Fall ergibt sich der Sinn des kleinsten Teils aus dem Sinn des großen Ganzen. Denn wer glaubt, findet den Sinn seines Daseins darin, an dem Ort, wo ihn Gott hingestellt hat, seine Aufgabe in Gottes Plan zu suchen und sie mit Hilfe der ihm von Gott geschenkten Gaben und Talente möglichst gut zu erfüllen.

Dass das immer leicht wäre, kann man nicht behaupten. Aber wo wir es versuchen, ist unser Leben zumindest kein absurdes „Kartenspiel“ mehr. Die Rahmenbedingungen sind zwar noch dieselben. Und wir sind auch den Wechselfällen des Lebens immer noch ausgeliefert. Aber wir sehen die Ereignisse mit anderen Augen, weil wir wissen, was der große Regisseur letztlich im Schilde führt. Wir erahnen etwas von der Weisheit des Projektes, in das er uns einbindet. Wir spüren, dass uns die Karten in unserer Hand nicht grundlos zugeschoben wurden. Und je länger wir uns auf das Wagnis des Glaubens einlassen, umso mehr erfahren wir, dass es den Sinn und das Glück des Lebens ausmacht, in etwas Größerem aufgehoben zu sein, als man selbst ist.

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Hamlet und Horatio auf dem Friedhof

Eugène Delacroix, Public domain, via Wikimedia Commons