Menschwerdung

Menschwerdung

Der Kaiser von China

Ich möchte ihnen eine Geschichte erzählen, die mit Weihnachten auf den ersten Blick nichts zu tun hat. Denn die Geschichte spielt nicht in Bethlehem und auch nicht hier bei uns, sondern im fernen China:

Es ist schon lange her, da veranstaltete der Kaiser von China ein großes Fest. Viele angesehene Bürger aus dem ganzen chinesischen Reich lud er zu sich ein in seinen kaiserlichen Palast. Und die meisten von ihnen kamen in vornehmen Kutschen angefahren. Elegante Herren waren da zu sehen, wie sie den Damen aus dem Wagen halfen. Und natürlich trugen sie alle die feinsten Festgewänder. Denn jeder war stolz, ein Gast des Kaisers zu sein. Doch hatte es am Abend des Festes zu regnen begonnen. Und so bildeten sich vor der Toreinfahrt große Pfützen. Da kam ein Wagen angefahren und hielt vor dem Tor. Ein vornehm gekleideter, älterer Herr stieg aus, blieb aber am Trittbrett seiner Kutsche hängen – und fiel der Länge nach in eine Pfütze.

Mühsam erhob er sich wieder. Es war nichts weiter passiert. Nur war er von oben bis unten beschmutzt – und wurde deswegen sehr traurig. Denn so, wie er jetzt aussah, konnte man sich auf einem Fest des Kaisers nicht sehen lassen. Einige Gäste machten spöttische Bemerkungen über die Ungeschicklichkeit des alten Mannes. Und ein Diener, der den Vorfall beobachtet hatte, meldete das Ganze seinem Herrn, dem Kaiser. Der eilte sofort hinaus und konnte den beschmutzten Gast gerade noch erreichen, als dieser schon nach Hause fahren wollte. Der Kaiser bat den Gast, doch zu bleiben – ihm würde der Schmutz an seinen Kleidern nichts ausmachen. Doch der Gast hatte Angst vor den Blicken und dem Getuschel all der feinen Leute. Er schämte sich seines Aufzugs. Seine Ungeschicklichkeit war ihm peinlich und lehnte darum ab.

Was aber tat der Kaiser? Man glaubt es kaum: Der Kaiser ließ sich mit seinen schönen Gewändern in dieselbe Pfütze fallen, so dass auch er von oben bis unten voller Dreck war. Dann aber nahm er seinen Gast an der Hand und zog ihn mit sich. Sie gingen zusammen in den Palast – mitten hinein in den festlich geschmückten Thronsaal. Und keiner der dort Versammelten wagte es, auch nur ein Wort gegen den schmutzigen Gast zu sagen!

Nun, man könnte meinen, das sei nur eine schöne Geschichte über Gastfreundschaft – und nichts weiter. Aber ich meine, es steckt viel mehr darin. Denn für mich ist die Geschichte ein Gleichnis dessen, was sich zu Weihnachten zwischen Gott und uns Menschen ereignet hat. Gott ist nämlich ähnlich freundlich, wie jener Kaiser von China. Er hat uns Menschen eingeladen in sein himmlisches Reich. Er will dort mit uns und allen Engeln zusammen sein und feiern. Und Gottes Reich ist noch viel herrlicher, als ein kaiserlicher Palast. Wir Menschen aber sind jenem Gast ähnlich – dem alten Herrn. Denn wir haben zwar gute Vorsätze und würden gern an Gottes Fest teilnehmen. Wir sind stolz auf die ehrenvolle Einladung. Wir versuchen uns auch passend zu kleiden. Aber bevor wir bei Gott ankommen, fallen wir in den Dreck.

Schwäche und Egoismus nennt man diesen Dreck. Neid und Bosheit. Schuld und Unglaube heißt der Schmutz. Und wir sind damit besudelt von oben bis unten. So sehr, dass wir uns vor Gott und seinen Engeln schämen müssen. Durch eigene Ungeschicklichkeit sind wir so schmutzig, dass man uns unmöglich in den Himmel lassen kann. Denn als Sünder passen wir einfach nicht zu Gott. Wir sind seiner Gemeinschaft nicht würdig. Wir beleidigen seine Augen. Wir haben nichts zu suchen – dort, wo die Heiligen sind.

Was aber tut Gott? Man glaubt es kaum! Er wirft sich der Länge nach in dieselbe Pfütze – oder biblisch gesprochen: Gott verlässt den Himmel und wird Mensch. Er macht sich uns gleich. Er teilt unsere peinliche Situation. Er nimmt unsere Gestalt an und legt sich als Kind in die Krippe von Bethlehem.

Ja: Gott wird einer von uns und stellt sich uns an die Seite, damit wir uns nicht mehr schämen müssen. Gott belastet sich mit unserem Schmutz, er lädt unseren Fluch auf sich, und nimmt uns dann an die Hand, um uns in den Himmel zu geleiten. Und meinen sie, einer der Engel würde es jetzt noch wagen, über uns schmutzige Gäste zu lachen? Meinen sie, einer der Heiligen würde die Nase über uns rümpfen, nachdem Gott sich uns gleich gemacht hat?

Nein. Gott war sich nicht zu schade, ein Mensch zu werden. Er war bereit, mit uns im Dreck zu liegen, mit uns zu lachen und mit uns zu leiden. Sind wir ihm aber so kostbar, dann überdeckt seine Liebe all unsere Schande. Nimmt er uns bei der Hand, so müssen wir uns nicht mehr schämen, sondern sind geadelt durch seine Nähe. Ist Gott für uns, so kann im Himmel niemand mehr gegen uns sein. Und eben das ist es, was wir an Weihnachten feiern. Denn der Glanz dieses Abends kommt nicht von Kerzen und Lametta. Der Glanz dieses Abends liegt nicht in der Musik oder in den Geschenken. Sondern was heute glänzend sichtbar wird, das ist Gottes Liebe, die uns nicht den Folgen unseres Ungeschicks überlässt.

Wir alle haben diese Liebe nötig – daran ist kein Zweifel. Und darum geben wir Acht, dass wir uns ihr nicht entziehen. Es wäre falsch, in der Pfütze liegen zu bleiben. Und es wäre ebenso falsch, sich abzuwenden und beschämt wieder nach Hause zu fahren. Nein, tun wir das nicht! Denn Gott wäre sehr traurig. Er will uns unbedingt dabei haben, bei seinem Fest – und hat einen hohen Preis bezahlt, um unsere Teilnahme möglich zu machen.

Darum: Lassen wir uns von ihm an der Hand nehmen, sträuben wir uns nicht und zaudern wir nicht, sondern lassen wir uns gefallen, was Gott für uns tat – und tut: Damals in Bethlehem, heute hier, und einst in seinem himmlischen Reich…

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: The Holy Family with a Curtain

Rembrandt, Public domain, via Wikimedia Commons