Heiligt der Zweck die Mittel?
Ob der Zweck die Mittel „heiligt“, das ist eine schwierige ethische Frage. Denn egal, ob man sie mit „ja“ oder „nein“ beantwortet – es scheint immer irgendwie falsch zu sein und scheint immer zu unmöglichen Konsequenzen zu führen. Man kann das anhand eines Beispiels leicht zeigen:
„Pauls Ehefrau ist an einer speziellen Form von Krebs erkrankt und droht daran zu sterben. Da hört Paul von einem Apotheker, der in der Nähe wohnt und ein aus Radium gewonnenes Mittel entwickelt hat, das seiner Frau helfen könnte. Der Apotheker bezahlt 200 Euro für das Radium und verlangt 2000 Euro für das fertige Mittel. Paul tut alles nur Erdenkliche, um das nötige Geld aufzutreiben, aber er kann nur 1000 Euro bekommen. Der Apotheker weigert sich, das Mittel für diesen Preis zu verkaufen. Paul ist verzweifelt, bricht nachts in die Apotheke ein und stiehlt die Arznei.“
Durfte Paul das tun? Hat er in Anbetracht seiner Notlage „richtig“ gehandelt? Außer Frage steht, dass Pauls Verhalten menschlich verständlich ist. Seine Beweggründe sind nachvollziehbar. Klar ist auch, dass juristisch betrachtet ein Einbruch und Diebstahl nie „legal“ sein kann. Aber ist er im geschilderten Fall vielleicht ethisch „legitim“?
Ist Paul in eine Lage geraten, in der der Zweck die Mittel heiligt? Wer darauf „nein“ sagen wollte – „man darf nicht stehlen“ – der würde ziemlich hartherzig erscheinen. Denn das Leben eines Menschen wiegt schwer. Und dieses Leben einem Prinzip zu opfern, scheint selbst dann unangemessen, wenn es ein sehr ehrenwertes Prinzip ist. Natürlich hätte Paul – juristisch gesehen – eine „weiße Weste“ behalten, wenn er sich mit der Verweigerung des Apothekers schlicht abgefunden hätte. Er wäre dann Witwer geworden. Und kein Polizist oder Staatsanwalt hätte ihm je etwas vorgeworfen. Doch hätte Paul den Erhalt seiner moralischen Integrität bezahlt mit dem Tod seiner Frau. Um sich selbst nicht die Finger schmutzig zu machen, hätte er billigend in Kauf genommen, dass sie stirbt. Und solche „Moralität“ wäre in der Tat eine ziemlich lieblose (und darum fragwürdige) „Moralität“.
Sollten wir also Pauls Einbruch billigen? Sollten wir sagen: „Ja, der Zweck heiligt die Mittel“? Das liegt nur allzu nahe. Denn Paul handelt aus Liebe. Und außerdem kann man mit gewissem Recht sagen, der geldgierige Apotheker mit seinen überhöhten Forderungen sei selber schuld. Verdient er es nicht geradezu, bestohlen zu werden? In der Tat ist der Apotheker nicht nur Opfer (eines Einbruches), sondern auf seine Weise auch Täter. Aus dem Bauch heraus sagt man darum: Es geschieht ihm recht.
Das Problem ist nur, dass der Grundsatz, der Zweck heilige die Mittel, wenn er einmal an einer Stelle akzeptiert wurde, bald auf unzählige andere Fälle übertragen und ausgeweitet wird. Da bricht ein Damm. Denn wenn Paul prinzipiell berechtigt war, für einen guten Zweck zu stehlen, warum sollte man dann nicht bei anderer Gelegenheit berechtigt sein, für einen guten Zweck zu lügen oder zu töten? Welches Mittel welchem Zweck zu dienen vermag, ist schließlich immer Ansichtssache. Man kann es sich immer so zurechtlegen, dass es passt. Und ist der Zweck nur wichtig genug (der „Endsieg“, die „Revolution“, der „Fortschritt“, mein „persönliches Glück“), so scheint bald jedes Mittel recht. Im Ergebnis hält man sich nur noch an Prinzipien und Gebote, wenn es nicht gerade opportun erscheint, sie „um des guten Zweckes willen“ zu umgehen. Wenn aber Grundsätze nur noch dort gelten sollen, wo sie nicht stören – hat man sie dann nicht faktisch aufgehoben?
Tatsächlich gewinnt die Behauptung, der Zweck heilige die Mittel, durch Geschichten wie die von Paul eine vordergründige Plausibilität. Doch wird sie erst einmal im Grundsatz anerkannt, so ist damit jeglichem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Und wohin das führt, das zeigt die Konfirmandin, die letztens ganz offen den Standpunkt vertrat, es sei ihr nicht zuzumuten, die Wahrheit zu sagen, wenn ihr daraus Nachteile entstünden. Der „Zweck“ Nachteile zu vermeiden „heilige“ nämlich das „Mittel“ der Lüge!
Es liegt auf der Hand, dass diese Form der Argumentation jegliche Ethik außer Kraft setzt. Nur: Was ist dagegen zu tun? Soll man sagen, der Zweck heilige die Mittel nur manchmal – und manchmal eben nicht? Sollte man den populären Satz nicht lieber ganz verwerfen? Ich meine der Satz „Der Zweck heiligt die Mittel“ enthält in enger Verquickung eine Wahrheit und einen Irrtum, die man sorgfältig voneinander trennen muss:
Wahr ist, dass der Mensch manchmal eine (kleinere) Schuld auf sich laden muss, um eine andere (größere) Schuld zu vermeiden. Ein Irrtum wäre es aber, wollte man daraus folgern, die kleinere Schuld würde in solchen Fällen „geheiligt“ und hörte somit auf Schuld zu sein.
Richtig ist, dass das menschliche Leben nicht mit weißer Weste bewältigt werden kann. Wie bei Paul gibt es manchmal keine „saubere“ Lösung, sondern nur die Wahl zwischen mehreren schlechten Alternativen. Paul muss entweder gegen das Leben seiner Frau oder gegen das Eigentumsrecht des Apothekers handeln. Er darf sich in dieser Situation für das entscheiden, was ihm das geringere Übel zu sein scheint.
Falsch wäre es aber, wenn er aus seiner Zwangslage folgern wollte, der Einbruch in die Apotheke könne ohne Schuld begangen werden, er sei als Mittel „geheiligt“ und darum moralisch unbedenklich. Das ist er nicht! Denn als Regelverstoß, als Sünde und Gesetzesbruch bleibt der Diebstahl was er ist. Unrecht verwandelt sich nicht dadurch in Recht, dass ich es nicht vermeiden kann. Und das heißt: Paul darf sich keineswegs „im Recht“ fühlen (auch nicht mit Hinweis auf die überhöhte Forderung des Apothekers!), sondern sollte nach vollbrachter Tat seine Schuld ganz bewusst auf sich nehmen.
Anders gesagt: Der Zweck heiligt nicht die Mittel – und trotzdem muss manchmal von diesen Mitteln Gebrauch gemacht werden. Wenn es wirklich keine saubere Lösung gibt (wenn!), darf man sich für die am wenigsten schmutzige entscheiden, soll sie aber deswegen nicht „sauber“ nennen, sondern sollte verantworten, was man entschieden hat.
In Pauls Fall hieße das: Den Einbruch begehen, der Frau das Mittel bringen, sich selbst der Polizei stellen und die Strafe ohne Murren tragen! Denn eben dies Letztere – die Bereitschaft, ohne Ausflüchte für das eigene Tun gerade zu stehen – macht in solchen Fällen den Unterschied aus zwischen einem Lump und einem aufrechten Menschen…