Evangelisch-Sein
Vom Hüten der Flamme
Alle Jahre wieder zum Reformationsfest werden wir daran erinnert, dass wir „evangelisch“ sind. Und die Prediger stehen an diesem Tag vor der Aufgabe, das „Evangelisch-Sein“ zu beschreiben. Es gilt sich bewusst zu machen, dass wir nicht bloß zufällig evangelisch sind, nicht aus Konformismus oder bloß aus Tradition, sondern aus gutem Grund. Diesen Grund aber mit wenigen Worten zu benennen, ist schwer. Denn leicht gerät man in eine formelhafte Theologensprache oder verliert sich in den historischen Details der evangelisch-katholischen Kontroverse. Ich möchte darum einen anderen Weg gehen, um zu beschreiben, was das Wesen des „Evangelischen“ ausmacht. Ich möchte es verdeutlichen anhand einer Geschichte, in der Selma Lagerlöf das Leben eines gewissen „Raniero“ beschrieben hat:
Dieser Raniero war ein ungewöhnlich starker Mann und ein Raufbold zugleich. Er wusste, dass ihm im Kampfe niemand gewachsen war – und entsprechend stolz und großsprecherisch trat er auf. Er war grausam gegen Tiere und auch hart gegen seine Frau. Er machte z.B. Schießübungen auf einen Singvogel, den seine Frau im Käfig hielt. Und als er ihren Vogel getötet hatte, rühmte er sich überall des guten Schusses. Er demütigte den Vater und den Bruder seiner Frau. Und einen bedauernswerten Behinderten hänselte Raniero so lange, bis er Selbstmord beging.
Raniero suchte immer Gelegenheit, sich durch seine Kraft hervorzutun, und scheute keine Gefahr, wenn er durch einen Kampf Ruhm ernten konnte. Er wurde schließlich von jedermann gefürchtet, hatte aber durch seine Grausamkeit die Liebe seiner Frau verloren und wurde von ihr verlassen. Natürlich wollte er ihre Liebe wiedergewinnen. Doch fiel ihm dazu kein anderes Mittel ein, als weitere, noch größere und schrecklichere Taten zu vollbringen, die seine Frau beeindrucken und zu ihm zurückbringen sollten. So schloss sich Raniero dem Heer der Kreuzritter an und brach mit ihnen nach Jerusalem auf, um das Grab Christi aus der Hand der Heiden zu befreien.
Wie viele andere Kreuzfahrer hoffte er, im Morgenland nicht nur Reichtümer und Ländereien zu gewinnen, sondern auch Ruhm und Ehre. Und zudem meinte er, Gott würde ihm den Kampf gegen die Heiden als großen Verdienst anrechnen. Tatsächlich gelangt Raniero mit dem Heer der Kreuzritter nach Jerusalem und steigt in der Schlacht als einer der ersten über die Stadtmauer. Mit den anderen Kreuzfahrern wütet er schrecklich in Jerusalem. Tausende von Männern, Frauen und Kindern werden erschlagen, bis Jerusalem rot ist vom Blut der muslimischen Einwohner. Und danach feiern die christlichen Heere ein großes Siegesfest. Raniero aber, als der tapferste der Krieger, wird für seine Heldentaten besonders geehrt: Er darf mit den anderen Kreuzrittern in die Grabeskirche einziehen und als erster seine Kerze entzünden an der heiligen Flamme, die dort vor Christi Grab brennt. Raniero ist sehr stolz auf diese besondere Ehrung.
Als er aber seine Kerze am Grab Christi entzündet hat, beginnt die Lichtflamme ihn nach und nach zu verändern. Er fasst den Entschluss, diese heilige Flamme in die Heimat zu tragen, um damit im Dom seiner Heimatstadt Florenz die Altarkerzen zu entzünden. Seine Mitstreiter lachen ihn aus wegen dieser Idee und erklären es für unmöglich, eine brennende Kerze von Jerusalem bis nach Florenz zu transportieren, ohne dass sie unterwegs verlöscht. Aber Raniero hält an seinem Plan fest. Am nächsten Morgen bepackt er sein Pferd mit zwei Bündeln langer Kerzen und reitet los. Von nun an dient er ganz dem Schutz der heiligen Flamme. Denn tatsächlich erweist sich sein Vorhaben als sehr schwierig:
In der Morgendämmerung muss Raniero Insekten abwehren, die sich in die Flamme stürzen wollen. Und weil beim Reiten die Zugluft das Licht zu löschen droht, muss er sich rücklings auf sein Pferd setzen, um mit seinem Körper den Wind abzuhalten. Später wird er von Räubern überfallen. Und da er mit dem Licht in der Hand nicht kämpfen kann, muss er den Räubern alles überlassen, was er hat, nur um die Flamme behalten zu dürfen. Durch die Strapazen der Reise sieht der stolze Kreuzritter bald aus wie ein Bettler. Und alle, die seinen Weg kreuzen, halten ihn für verrückt, weil er verkehrt herum auf dem Pferd sitzt, um eine Kerze vor Zugluft zu schützen. Er wird verspottet und mit Steinen beworfen – aber um der Flamme willen wehrt er sich nicht. Der einst so stolze Raufbold lernt, um Brennmaterial zu bitten. Und er lernt für fremde Hilfe dankbar zu sein. Er, der nie etwas fürchtete, beginnt die Regentropfen zu fürchten. Er, der seine Kraft immer nur einsetzte, um seinen Ruhm zu vermehren, setzt sie nun ein, um der heiligen Flamme zu dienen und das Schützenswerte zu schützen. Der, der sich für unverwundbar hielt, ist plötzlich ganz verletzlich, weil das Heilige, das er liebt, so verletzlich ist. Und der sonst nur an sich dachte, denkt nun an nichts anderes mehr, als an sein Licht.
Wenn das Wetter ungünstig ist, muss Raniero seine Reise unterbrechen und geduldig warten. Er muss dabei alles meiden, was er früher liebte, denn bei Trinkgelage, Streit und Rauferei kann man nicht über eine Flamme wachen. Er lernt seinen Zorn zu zügeln, wenn die Passanten ihn verspotten. Und nach und nach beginnt er sich an allen zu freuen, die friedfertig, klug und barmherzig sind. Als Raniero nach langer Fahrt nach Florenz hineinreitet, hat die Flamme vom Grab Christi einen anderen Menschen aus ihm gemacht.
Auch hier in Florenz wird er noch ausgelacht, und die Straßenjungen werfen mit ihren Mützen nach der Flamme, die der verrückte Pilger verzweifelt zu schützen sucht. Zuletzt aber gelingt es Raniero wie durch ein Wunder, die Altarkerzen im Dom mit seiner Flamme zu entzünden. Doch ist dieser Erfolg nicht das Wichtigste an dieser Geschichte. Und das Wichtigste ist auch nicht, dass er seine Frau wiederfindet. Das Wichtigste ist, dass jene Lichtflamme, die von Jesus Christus ausging, Ranieros stolzes und hartes Herz vollständig verwandelt hat.
Diese Wandlung, von der Selma Lagerlöf erzählt, hat auf den ersten Blick nichts, auf den zweiten Blick aber sehr viel mit dem Geist der Reformation zu tun. Denn jener Raniero, der mit der Flamme in der Hand verkehrt herum auf dem Pferd sitzt, dieser heilige Narr scheint mir das beste Sinnbild und Gleichnis eines evangelischen Christen zu sein. Ein merkwürdiges Bild und Gleichnis, wird man vielleicht sagen. Aber überlegen sie einmal: Was heißt denn „Evangelisch-Sein“ anderes, als dass ein Mensch die Flamme des Evangeliums für seinen kostbarsten Besitz hält? Was heißt „Evangelisch-Sein“ anderes, als dass wir das Licht des Wortes Gottes leuchten lassen und neben diesem Licht alles andere für zweitrangig halten?
Darum ist Raniero, der in größter Selbstvergessenheit über dem Heiligen wacht, das Urbild eines evangelischen Christen. Er hat vergessen, dass er einmal ein Held werden wollte. Er hat vergessen, wen seine Taten beeindrucken sollten. Und ein Heiliger zu werden, liegt ihm völlig fern. Er lässt sich ganz an der Gnade genügen, dass ihm das Heilige geschenkt ist. Er will selbst kein Licht und keine Leuchte sein, sondern er lässt sich daran genügen, in dem Licht zu stehen, das von Christus ausgeht. Und diese fröhliche Bescheidung – diese Selbstvergessenheit im Angesicht des Evangeliums – macht das Evangelisch-Sein aus.
Denn Evangelisch-Sein heißt, sich der Gnade Gottes rühmen und die eigenen Qualitäten vergessen. Evangelisch-Sein heißt, konzentriert sein auf Gottes Wort und menschliches Gutdünken unterordnen. Evangelisch-Sein heißt, Gott die Ehre zu geben, statt selbst glänzen zu wollen. Evangelisch-Sein heißt, sich verspotten lassen, wenn es um des Evangeliums willen nötig ist. Und Evangelisch-Sein heißt, die Flamme des Evangeliums mit dem eigenen Körper zu schützen, wenn es sein muss.
Darum ist mir dieser heilige Narr Raniero, der alles erduldet, wenn nur seine Flamme nicht verlischt, das wahre Sinnbild evangelischer Kirche. Und wirklich: So wünschte ich mir meine Kirche, dass sie weniger besorgt wäre um ihre Geltung und ihr Image in der Welt und weniger beschäftigt mit ihrer Selbsterhaltung, sondern restlos konzentriert wäre auf ihren Auftrag, die Flamme des Evangeliums weiterzutragen. Prunkvoll aufzutreten und glänzend dazustehen wie der stolze Kreuzritter Raniero vor Jerusalem – das kann man anderen Konfessionen überlassen, wenn sie es für wichtig halten. Mag Besitzstandswahrung betreiben, wer will. Unser Amt ist es, dem Evangelium zu dienen und keinen anderen Glanz zu suchen als nur den, der vom Evangelium ausgeht.
Egal nämlich, was auf unserem Taufschein steht, egal, wie lange wir uns schon „evangelisch“ nennen – in Wahrheit „evangelisch“ sind wir erst, wenn das Evangelium zum Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns geworden ist, so wie Ranieros Flamme zum Mittelpunkt seines Denkens und Handelns wurde. Darum bedarf eine Kirche, die in Gefahr steht, nur noch sich selbst zu verwalten und sich selbst zu erhalten, einer neuen Reformation, in der sie sich alter Wahrheiten bewusst wird: Dass sie nämlich kein Selbstzweck ist, sondern zum dienenden Instrument des Evangeliums bestimmt ist. Und dass alles an dieser Kirche nur insofern Wert hat, als es zum Brennmaterial für die Flamme des Evangeliums taugt. Konzentrieren wir uns also aufs Wesentliche. Wer sich rühmen will, der rühme sich einzig des Evangeliums. Wer sich freuen will, der habe seine Freude am Brennen dieser heiligen Flamme. Und wer Ehre sucht, der lege seine Ehre darein, das Wort Gottes unverkürzt zu hören und weiterzusagen.
Vor allem aber lassen sie uns das Entscheidende nicht vergessen: Evangelisch-Sein bedeutet nicht, ein Licht und eine Leuchte sein zu müssen, sondern es bedeutet, in dem Lichtschein zu stehen, der von Christus ausgeht. Haben wir den Mut, uns verkehrt herum aufs Pferd zu setzen. Denn dann war die Reformation nicht vergeblich.
Bild am Seitenanfang: Im Schein der Kerze
Martin Ferdinand Quadal, Public domain, via Wikimedia Commons