Bonhoeffer: Die Wahrhaftigkeit

 

Die Wahrhaftigkeit.

 

„Ihr habt weiter gehört, daß zu den Alten gesagt ist: „Du sollst keinen falschen Eid tun und sollst Gott deinen Eid halten.“ Ich aber sage euch, daß ihr überhaupt nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Stuhl, noch bei der Erde, denn sie ist seiner Füße Schemel, noch bei Jerusalem, denn sie ist des großen Königs Stadt. Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören: denn du vermagst nicht, ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen. Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel“ (Mt. 5,33-37).

Die Auslegung dieser Verse ist in der christlichen Kirche bis zur Stunde außer-ordentlich unsicher. Von der rigorosen Verwerfung jedes Eides als Sünde bis zu der milderen Ablehnung des leichtsinnigen Eides und Meineides gehen die Ausleger seit der Alten Kirche auseinander. Die weiteste Anerkennung fand in der Alten Kirche die Auslegung, der Eid sei zwar den „vollkommenen“ Christen verboten, aber für die Schwächeren sei er in bestimmten Grenzen zulässig. Augustin hat u. a. diese Meinung vertreten. Er befand sich in der Beurteilung des Eides in Übereinstimmung mit heidnischen Philosophen wie Plato, den Pytha-goräern, Epiktet, Marc Aurel. Hier wurde der Eid als eines edlen Mannes unwürdig bezeichnet. Die reformatorischen Kirchen haben in ihren Bekennt-nissen den von der weltlichen Obrigkeit geforderten Eid als selbstverständlich von dem Wort Jesu nicht betroffen angesehen. Die Hauptargumente waren von Anfang an, im Alten Testament sei der Eid geboten, Jesus selbst habe vor Gericht geschworen, der Apostel Paulus bediene sich mehrfach eidesähnlicher Formeln. Für die Reformatoren hat hier die Scheidung des geistlichen und weltlichen Reiches neben dem unmittelbaren Schriftbeweis entscheidende Bedeutung gehabt.

Was ist der Eid? Er ist die öffentliche Anrufung Gottes als Zeugen für eine Aussage, die ich über etwas Vergangenes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges mache. Gott, der Allwissende, soll die Unwahrheit rächen. Wie kann dieser Eid von Jesus Sünde, ja „vom Bösen“, EK TOU PONEROU, „satanisch“ genannt werden? Weil es Jesus um die völlige Wahrhaftigkeit geht.

Der Eid ist der Beweis für die Lüge in der Welt. Könnte der Mensch nicht lügen, so wäre kein Eid notwendig. So ist der Eid zwar ein Damm gegen die Lüge. Aber eben darin fördert er sie auch; denn dort, wo allein der Eid letzte Wahrhaftigkeit beansprucht, ist zugleich der Lüge im Leben Raum gegeben, ist ihr ein gewisses Lebensrecht zugestanden. Das alttestamentliche Gesetz verwirft die Lüge durch den Eid. Jesus aber verwirft die Lüge durch das Verbot des Eides. Es geht hier wie dort um das Eine und Ganze, die Vernichtung der Unwahrheit im Leben der Glaubenden. Der Eid, den das Alte Testament gegen die Lüge stellte, wurde von der Lüge selbst ergriffen und in den Dienst gestellt. Sie vermochte sich noch durch den Eid zu sichern und Recht zu verschaffen. So muß die Lüge von Jesus dort gefaßt werden, wohin sie sich flüchtet, im Eid. Darum muß der Eid fallen, weil er zum Schutz der Lüge geworden ist. Das Attentat der Lüge auf den Eid konnte in doppelter Weise geschehen, so daß sie sich unter dem Eid behauptete (Meineid), oder so, daß sie sich in die Form des Eides selbst hineinstahl. In diesem Fall gebrauchte die Lüge im Eid nicht die Anrufung des lebendigen Gottes, sondern die Anrufung irgendeiner weltlichen oder göttlichen Macht. Ist die Lüge so tief in den Eid eingedrungen, dann kann die völlige Wahrhaftigkeit nur durch Verbot des Eides gewährleistet werden.

Eure Rede sei Ja, ja und Nein, nein. Hierdurch wird das Wort des Jüngers nicht etwa der Verantwortlichkeit vor dem allwissenden Gott entzogen. Vielmehr ist gerade dadurch, daß der Name Gottes nicht ausdrücklich angerufen wird, schlechthin jedes Wort des Jüngers unter die selbstverständliche Gegenwart des allwissenden Gottes gestellt. Weil es überhaupt kein Wort gibt, das nicht vor Gott gesprochen wäre, darum soll der Jünger Jesu nicht schwören. Jedes seiner Worte soll nichts als Wahrheit sein, so daß keines der Bestätigung durch den Schwur bedürfe. Der Schwur stellt ja alle seine anderen Worte ins Dunkel des Zweifelhaften. Darum ist er „vom Bösen“. Der Jünger aber soll mit allen seinen Worten Licht sein.

Ist der Eid damit abgelehnt, so ist doch zugleich deutlich, daß es dabei allein um das Ziel der Wahrhaftigkeit geht. Es ist selbstverständlich, daß das Gebot Jesu keine Ausnahme leidet, vor welchem Forum auch immer. Ebenso muß aber gesagt werden, daß nicht die Verweigerung des Eides selbst wieder der Ver-hüllung der Wahrheit dienen darf. Wo dies der Fall ist, d. h. wo gerade um der Wahrhaftigkeit willen der Eid zu leisten ist, ist nicht generell zu entscheiden, sondern wird vom Einzelnen entschieden werden müssen. Die reformatorischen Kirchen sind der Meinung, daß jeder Eid, der von der weltlichen Obrigkeit gefordert wird, diesen Fall schaffe. Ob diese allgemeine Entscheidung möglich ist, muß fraglich bleiben.

Unfraglich aber ist es, daß dort, wo dieser Fall gegeben erscheint, der Eid nur geleistet werden kann, wo erstens völlige Klarheit und Durchsichtigkeit darüber herrscht, was inhaltlich in den Eid eingeschlossen ist; zweitens ist zu unter-scheiden zwischen Eidesleistungen, die sich auf vergangene oder gegenwärtige Tatbestände, die uns bekannt sind, beziehen, und solchen, die den Charakter eines Gelübdes tragen. Da der Christ niemals in der Kenntnis des Vergangenen irrtumsfrei ist, wird die Anrufung des Allwissenden Gottes für ihn nicht der Bestätigung der dem Irrtum unterworfenen Aussage, sondern der Reinheit seines Wissens und Gewissens dienen. Da aber der Christ auch niemals über seine Zukunft verfügt, ist ein eidliches Gelübde, z. B. ein Treueid für ihn von vornherein von größten Gefahren bedroht. Denn nicht nur seine eigene Zukunft hat der Christ nicht in der Hand, sondern erst recht nicht die Zukunft dessen, der ihn mit dem Treueid bindet. Es ist also um der Wahrhaftigkeit und der Nachfolge Jesu willen unmöglich, einen solchen Eid zu leisten, ohne ihn unter den Vorbehalt des Willens Gottes zu stellen. Es gibt für den Christen keine absolute irdische Bindung. Ein Treueid, der den Christen absolut binden will, wird ihm zur Lüge, ist „vom Bösen“. Die Anrufung des Namens Gottes kann in einem solchen Eid niemals die Bestätigung des Gelübdes, sondern einzig und allein die Bezeugung dessen sein, daß wir in der Nachfolge Jesu allein an Gottes Willen gebunden sind, daß jegliche andere Bindung um Jesu willen unter diesem Vorbehalt steht. Wird dieser Vorbehalt in Fällen des Zweifels nicht ausgesprochen oder wird er nicht anerkannt, so kann der Eid nicht geleistet werden, weil ich eben mit diesem Eid den irreführe, der ihn mir abnimmt. Es sei aber eure Rede Ja, ja und Nein, nein.

Das Gebot der völligen Wahrhaftigkeit ist nur ein anderes Wort für die Ganzheit der Nachfolge. Nur wer ein in der Nachfolge Gebundener Jesu ist, steht in der völligen Wahrhaftigkeit. Er hat vor seinem Herrn nichts zu verbergen. Er lebt aufgedeckt vor ihm. Er ist von Jesus erkannt, in die Wahrheit gestellt. Er ist als Sünder vor Jesus offenbar. Nicht er hat sich Jesus offenbart, sondern als Jesus sich ihm offenbarte in seinem Ruf, da wußte er sich von Jesus in seiner Sünde offenbart. Völlige Wahrhaftigkeit gibt es nur aus der aufgedeckten Sünde heraus, die auch von Jesus vergeben ist. Wer im Bekenntnis seiner Sünde vor Jesus in der Wahrheit steht, der allein schämt sich nicht der Wahrheit, wo auch immer sie gesagt werden muß. Die Wahrhaftigkeit, die Jesus von seinem Jünger fordert, besteht in der Selbstverleugnung, die die Sünde nicht verdeckt. Es ist alles offen-bar und licht.

Weil es in der Wahrhaftigkeit zuletzt und zuerst um die Aufdeckung des Men-schen in seinem ganzen Sein, in seinem Bösen vor Gott geht, darum erregt diese Wahrhaftigkeit den Widerspruch der Sünder, darum wird sie verfolgt und gekreu-zigt. Die Wahrhaftigkeit des Jüngers hat ihren einzigen Grund in der Nachfolge Jesu, in der er uns am Kreuz unsere Sünde offenbart. Allein das Kreuz als die Wahrheit Gottes über uns macht uns wahrhaftig. Wer das Kreuz kennt, scheut andere Wahrheit nicht mehr. Wer unter dem Kreuz lebt, für den ist der Eid als Gesetz zur Herstellung der Wahrhaftigkeit abgetan; denn er ist in der vollkomme-nen Wahrheit Gottes.

Es gibt keine Wahrheit Jesus gegenüber ohne Wahrheit den Menschen gegen-über. Die Lüge zerstört die Gemeinschaft. Wahrheit aber zerschneidet falsche Gemeinschaft und begründet echte Bruderschaft. Es gibt keine Nachfolge Jesu ohne das Leben in der aufgedeckten Wahrheit vor Gott und den Menschen.

- FORTSETZUNG -