Bonhoeffer: Der Leib Christi

 

Der Leib Christi. 

 

Die ersten Jünger lebten in Jesu leiblicher Gegenwart und Gemeinschaft. Was bedeutet das und worin setzt sich für uns diese Gemeinschaft fort? Durch die Taufe sind wir Glieder am Leibe Christi geworden, sagt Paulus. Dieser Satz, der uns so fremd und unzugänglich ist, bedarf der gründlichen Erläuterung. Es ist uns damit gesagt, daß die Getauften auch nach Tod und Auferstehung des Herrn in Jesu leiblicher Gegenwart und Gemeinschaft leben sollen. Keinen Verlust bedeutet Jesu Hingang für die Seinen, sondern vielmehr ein neues Geschenk. Die ersten Jünger konnten in der leiblichen Gemeinschaft Jesu nichts anderes und nichts mehr haben, als wir heute haben, ja diese Gemeinschaft ist uns fester, voller, gewisser gegeben als jenen. Wir leben in der vollen Gemeinschaft der leiblichen Gegenwart des verklärten Herrn. Die Größe dieser Gabe darf unserm Glauben nicht unbewußt bleiben. Der Leib Jesu Christi ist der Grund und die Gewißheit unsers Glaubens, der Leib Jesu Christi ist die eine und vollkommene Gabe, in der wir des Heils teilhaftig werden, der Leib Jesu Christi ist unser neues Leben. Im Leibe Jesu Christi sind wir von Gott in Ewigkeit angenommen. Seit dem Fall Adams hat Gott in die sündige Menschheit sein Wort gesandt, Men-schen zu suchen und anzunehmen. Dazu ist das Wort Gottes bei uns, die ver-lorene Menschheit wieder anzunehmen. Gottes Wort kam als Verheißung, es kam als Gesetz. Es wurde schwach und gering um unsertwillen. Aber die Menschen verstießen das Wort und ließen sich nicht annehmen. Sie brachten Opfer, sie taten Werke, die sollte Gott annehmen an ihrer Statt, aber sich selbst kauften sie damit frei.

Da geschieht das Wunder aller Wunder. Gottes Sohn wird Mensch. Das Wort ward Fleisch. Der von Ewigkeit her in der Herrlichkeit des Vaters war, der die Gottesgestalt trug, der im Anfang Mittler der Schöpfung war, so daß die ge-schaffene Welt nur durch ihn und in ihm erkannt werden kann, Gott selbst (1. Kor. 8,6; 2. Kor. 8,9; Phil. 2,6ff.; Eph. 1,4; Kol. 1,16; Joh. 1,1ff.; Hebr. 1,1ff.), nimmt die Menschheit an und kommt auf die Erde. Er nimmt die Menschheit an, indem er menschliches Wesen, menschliche „Natur“, „sündliches Fleisch“, menschliche Gestalt annimmt (R. 8,3; Gal. 4,4; Phil. 2,6ff.). Gott nimmt die Menschheit an, nicht mehr allein durch das gepredigte Wort, sondern im Leibe Jesu. Gottes Erbarmen schickt seinen Sohn ins Fleisch, damit er mit dem Fleisch die ganze Menschheit selbst auf sich lade und trage. Gottes Sohn nimmt die ganze Menschheit leibhaftig an, die im Gotteshaß, im Stolz des Fleisches Gottes leibloses, unsichtbares Wort verwarf. Jetzt ist sie im Leibe Jesu Christi leibhaftig und wahrhaftig angenommen, so wie sie ist, aus göttlichem Erbarmen. Die Väter der Kirche haben bei der Betrachtung dieses Wunders mit Leidenschaft darum gestritten, daß hier gesagt werden müsse, Gott habe die menschliche Natur angenommen, nicht aber, daß Gott sich einen einzelnen vollkommenen Men-schen erwählt habe, um sich mit diesem zu vereinigen. Gott wurde Mensch. Das heißt: Gott nahm die ganze kranke, sündige menschliche Natur an, Gott nahm die ganze abgefallene Menschheit an; nicht aber: Gott nahm den Menschen Jesus an. Das rechte Verständnis der ganzen Heilsbotschaft hängt an dieser klaren Unterscheidung. Der Leib Jesu Christi, in dem wir mit der ganzen Mensch-heit angenommen sind, ist nun der Grund unseres Heils.

Es ist das sündliche Fleisch, das er trägt – doch ohne Sünde (2. Kor. 5,21; Hebr. 4,15). Wo sein menschlicher Leib ist, da ist Angenommensein für alles Fleisch. „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen“ – darum allein konnte Jesus die Krankheiten und Schmerzen der menschlichen Natur heilen, weil er all unsere Krankheit und Schmerzen an seinem Leibe trug (Mt. 8,15-17). „Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen.“ Er trug unsere Sünde – darum konnte er Sünde vergeben, weil in seinem Leibe unser sündiges Fleisch „angenommen“ war. Darum nahm Jesus die Sünder an (Lk. 15,2), weil er sie leibhaftig trug. Mit Jesus war das „angenehme (DEKTON) Jahr des Herrn“ angebrochen (Luk. 4,19). So war der menschgewordene Sohn Gottes beides, Er selbst und die neue Menschheit. Was er handelte, handelte er zugleich für die neue Menschheit, die er in seinem Leibe trug. So ist er ein zweiter Adam, der „letzte“ Adam (1. Kor. 15,45). Auch in Adam war der Einzelne und die ganze Menschheit in Einem. Auch Adam trug die ganze Menschheit in sich. In ihm fiel die ganze Menschheit, in „Adam“ (Mensch) fiel „der Mensch“ (R. 5,19). Christus ist der zweite Mensch (1. Kor. 15,47), in dem die neue Menschheit geschaffen wird. Er ist der „neue Mensch“.

Von hier aus verstehen wir erst das Wesen der leiblichen Gemeinschaft, die den Jüngern mit Jesus geschenkt war. Daß die Bindung der Jünger in der Nachfolge eine leibliche war, ist nicht zufällig, sondern von der Menschwerdung her not-wendig. Der Prophet und Lehrer bedürfte keiner Nachfolger, er brauchte Schüler und Zuhörer. Der menschgewordene Sohn Gottes, der in das menschliche Fleisch gekommen ist, braucht eine Nachfolgergemeinde, die nicht nur seiner Lehre, sondern gerade auch seines Leibes teilhaftig wird. Am Leibe Jesu Christi haben die Nachfolger die Gemeinschaft. In der leiblichen Gemeinschaft Jesu leben sie und leiden sie. Die Gemeinschaft des Leibes Jesu legt ihnen das Kreuz auf. Denn in ihm sind sie alle getragen und angenommen.

Jesu irdischer Leib wird gekreuzigt und stirbt. In seinem Tode wird die neue Menschheit mitgekreuzigt und stirbt mit ihm. Weil Christus nicht einen Menschen, sondern die menschliche „Gestalt“, das sündliche Fleisch, die menschliche „Natur“ angenommen hatte, darum leidet und stirbt mit ihm alles, was er trug. Es ist unser aller Krankheit und unser aller Sünde, die er ans Kreuz trägt; wir sind es, die mit ihm gekreuzigt werden und sterben. Zwar stirbt der irdische Leib Christi, aber als ein unverweslicher, verklärter Leib ersteht er vom Tode. Es ist derselbe Leib – das Grab war ja leer! – und es ist doch ein neuer Leib. So trägt er die Menschheit, mit der er starb, hindurch in die Auferstehung. So trägt er noch in seinem verklärten Leibe die Menschheit, die er auf Erden angenommen hat. Wie gewinnen wir nun lebendigen Anteil an diesem Leibe Christi, der dies alles für uns tat? Denn das ist gewiß, es gibt keine Gemeinschaft mit Jesus Christus, es sei denn als Gemeinschaft mit seinem Leib, in dem allein wir angenommen sind, in dem allein unser Heil liegt! Der Gemeinschaft des Leibes Christi werden wir teilhaftig gemacht durch die beiden Sakramente des Leibes Christi, durch Taufe und Abendmahl. Der Evangelist Johannes läßt in unübersehbarer Andeutung die Elemente beider Sakramente, Wasser und Blut, aus dem gekreuzigten Leibe Jesu Christi hervorgehen (Joh. 19,34.35). Dieses Zeugnis wird durch Paulus bestätigt, indem er Gliedschaft am Leibe Christi ganz an die beiden Sakramente bindet (Anm.: Auch Eph. 3,6 umschließt die ganze Heilsgabe, Wort, Taufe, Abendmahl). Ziel wie Ursprung der Sakramente ist der Leib Christi. Weil Leib Christi da ist, darum allein gibt es Sakramente. Nicht das Wort der Predigt bewirkt unsere Gemeinschaft mit dem Leibe Jesu Christi, das Sakrament muß hinzu-kommen. Taufe ist Eingliederung in die Einheit des Leibes Christi, Abendmahl ist Erhaltung der Gemeinschaft (KOINONIA) am Leibe. Die Taufe macht uns der Gliedschaft am Leibe Christi teilhaftig. Wir sind in Christus „hineingetauft“ (Gal. 3,27; R. 6,3), wir sind „zu einem Leibe getauft“ (1. Kor. 12,13). So wird uns im Tauftod durch den heiligen Geist zugeeignet, was Christus in seinem Leibe für alle erwarb. Die Gemeinschaft des Leibes Jesu, die wir empfangen, wie sie die Jünger und Nachfolger der ersten Zeit empfingen, bedeutet, daß wir nun „mit Christus“ sind, „in Christus“ sind und daß „Christus in uns“ ist. Vom rechten Verständnis des Leibes Christi her bekommen diese Ausdrücke klaren Sinn.

„Mit Christus“ sind zwar alle Menschen schlechthin in der Kraft der Mensch-werdung. Jesus trägt ja die ganze menschliche Natur. Darum ist sein Leben, sein Sterben und Auferstehen ein reales Geschehen an allen Menschen (R. 5,18ff.; 1. K. 15,22; 2. Kor. 5,14). „Mit Christus“ sind aber die Christen in besonderer Weise. Was den andern zum Tode wird, wird ihnen zur Gnade. In der Taufe wird es ihnen zugesagt, daß sie „mit Christus gestorben“ (R. 6,8), „mitgekreuzigt“ (R. 6,6; Kol. 2,20), „mitbegraben“ (R. 6,4; Kol. 2,12), „mitgepflanzt zu gleichem Tode“ (R. 6,5) sind und daß sie eben darum auch mit ihm leben werden (R. 6,8; Eph. 2,5; Kol. 2,12; 2. Tim. 2,11; 2. Kor. 7,3). „Wir mit Christus“ – das hat seinen Grund darin, daß Christus der Immanuel, der „Gott-mit-uns“ ist. Nur dem, der Christus so erkennt, wird das Mit-Christus-sein zur Gnade. Er wird „in Christus hineingetauft“ (EIS), in die Gemeinschaft seines Leidens. So wird er selbst ein Glied dieses Leibes, und die Gemeinschaft der Getauften wird zu dem einen Leib, der Christi eigener Leib ist. So sind sie „in Christo“ (EN), und so ist „Christus in ihnen“. Sie sind nicht mehr „im Gesetz“ (R. 2,12; 3,19), „im Fleisch“ (R. 7,5; 8,3.8.9; 2. Kor. 10,3), „in Adam“ (1. Kor. 15,22), sondern in ihrer ganzen Existenz und in allen Lebensäußerungen sind sie von nun an „in Christo“.

In einer schier unerschöpflichen Fülle von Beziehungen kann Paulus das Wunder der Menschwerdung Christi zum Ausdruck bringen. Alles Gesagte läßt sich zusammenfassen in dem Satz: Christus ist „für uns“, nicht nur in Wort und Ge-sinnung, sondern mit seinem leibhaftigen Leben. Er steht mit seinem Leibe dort, wo wir vor Gott stehen sollten. Er ist an unsere Stelle getreten. Er leidet und stirbt für uns. Das kann er, weil er unser Fleisch trägt (2. Kor. 5,21; Gal. 3,13; 1,4; Tit. 2,14; 1. Thess. 5,10 etc.). Der Leib Jesu Christi ist im eigentlichsten Sinne „für uns“, am Kreuz, im Wort, in Taufe, in Abendmahl. Darin liegt der Grund aller leiblichen Gemeinschaft mit Jesus Christus.

Der Leib Jesu Christi ist die von ihm angenommene neue Menschheit selbst. Der Leib Christi ist seine Gemeinde. Jesus Christus ist Er selbst und seine Gemeinde zugleich (1. Kor. 12,12). Jesus Christus lebt seit Pfingsten auf Erden in der Gestalt seines Leibes, der Gemeinde. Hier ist sein Leib, der gekreuzigte und auferstandene, hier ist die angenommene Menschheit. Getauftwerden heißt daher Glied der Gemeinde werden, Glied am Leibe Christi (Gal. 3,28; 1. Kor. 12,13). In Christus sein heißt darum in der Gemeinde sein. Sind wir aber in der Gemeinde, so sind wir auch wahrhaftig und leibhaftig in Jesus Christus. Nun wird der Begriff des Leibes Christi in seiner ganzen Fülle offenbar. Der Raum Jesu Christi in der Welt nach seinem Hingang wird durch seinen Leib, die Kirche, eingenommen. Die Kirche ist der gegenwärtige Christus selbst. Damit gewinnen wir einen sehr vergessenen Gedanken über die Kirche zurück. Wir sind gewohnt, von der Kirche als von einer Institution zu denken. Es soll aber von der Kirche gedacht werden als von einer leibhaften Person, freilich einer ganz einzigartigen Person.

Die Kirche ist Einer. Alle Getauften sind „allzumal Einer in Christo“ (Gal. 3,28; R. 12,5; 1. Kor. 10,17). Die Kirche ist „Mensch“. Sie ist der „neue Mensch“ (KAINOS ANTHROPOS). Als solcher ist die Kirche geschaffen durch den Kreuzestod Christi. Hier wurde die Feindschaft zwischen Juden und Heiden abgetan, die die Menschheit zerriß, „auf daß er in sich selbst die zwei schüfe zu Einem neuen Menschen und Frieden machte“ (Eph. 2,15). Der „neue Mensch“ ist Einer, es sind nicht ihrer viele. Außerhalb der Kirche, die der neue Mensch ist, gibt es nur den alten, zerrissenen Menschen.

Dieser „neue Mensch“, der die Kirche ist, ist „nach Gott geschaffen in recht-schaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit und Wahrheit“ (Eph. 4,24). Er wird „erneuert zur Erkenntnis nach dem Ebenbild des Schöpfers“ (Kol. 3,10). Hier ist von keinem anderen als von Christus selbst geredet als dem Ebenbild Gottes. Adam war der erste Mensch nach dem Ebenbilde des Schöpfers. Aber er verlor das Ebenbild, als er fiel. Nun wird ein „zweiter Mensch“, ein „letzter Adam“ geschaffen nach dem Ebenbild Gottes; das ist Jesus Christus (1. Kor. 15,47). So ist der „neue Mensch“ zugleich Christus und die Kirche. Christus ist die neue Menschheit in neuen Menschen. Christus ist die Kirche.

Der Einzelne verhält sich zu dem „neuen Menschen“ so, daß er ihn „anzieht“ (Anm.: In dem Bild des ENDYSASTHAI liegt irgendwie die räumliche Vorstellung einer Behausung, einer Bekleidung vor. Vielleicht darf auch 2. Kor. 5,1ff. in diesem Zusammenhang interpretiert werden. Hier begegnet ENDYSASTHAI im Zusammenhang mit dem himmlischen OIKETERION. Der Mensch ohne dieses OIKETERION ist GYMNOS, nackt und muß sich ängsten vor Gott. Er ist nicht bedeckt und hat Verlangen danach, bedeckt zu werden. Das geschieht durch das Angezogenwerden mit dem himmlischen OIKETERION. Sollte das „Anziehen“ des OIKETERION der Kirche in dieser Welt, nicht seine Entsprechung finden in einer Bekleidung mit der himmlischen Kirche, nach der Paulus sich sehnt? Es ist hier wie dort die Eine Kirche, mit der wir überkleidet werden, die Hütte Gottes, der Raum der göttlichen Gegenwart und Bedeckung – es ist hier wie dort der Leib Christi, der uns bedeckt). Der „neue Mensch“ ist wie ein Kleid, das den Einzelnen bedecken soll. In das Ebenbild Gottes, das Christus und die Kirche ist, soll der Einzelne sich kleiden. Wer getauft wird, der zieht den Christus an (Gal. 3,27), was wiederum auszulegen ist als seine Eingliederung in den Leib, in den Einen Menschen, in dem nicht Grieche noch Jude, nicht Freier noch Knecht ist, d. h. eben in die Gemeinde. Es wird keiner ein neuer Mensch, es sei denn in der Gemeinde, durch den Leib Christi. Wer allein ein neuer Mensch werden will, bleibt beim alten. Ein neuer Mensch werden heißt in die Gemeinde kommen, Glied am Leibe Christi werden. Nicht der gerechtfertigte und geheiligte Einzelne ist der neue Mensch, sondern die Gemeinde, der Leib Christi, Christus.

Der gekreuzigte und auferstandene Christus existiert durch den heiligen Geist als Gemeinde, als der „neue Mensch“, so wahr er der Menschgewordene ist und in Ewigkeit bleibt, so wahr sein Leib die neue Menschheit ist. Wie in ihm die Fülle der Gottheit leibhaftig geworden ist und Wohnung genommen hat, so sind die Seinen erfüllt von Christus (Kol. 2,9; Eph. 3,19). Ja, sie selbst sind diese göttliche Fülle, indem sie sein Leib sind und indem doch Er allein es ist, der alles in allem erfüllt.

Die Einheit Christi mit seiner Kirche, seinem Leib, fordert zugleich, daß Christus als Herr seines Leibes erkannt wird. Darum wird Christus in weiterer Ausführung des Leibbegriffes das Haupt des Leibes genannt (Eph. 1,22; Kol. 1,18; 2,19). Das klare Gegenüber wird gewahrt, Christus ist Herr. Die heilsgeschichtliche Tat-sache, die dieses Gegenüber notwendig macht, und eine mystische Verschmel-zung von Gemeinde und Christus niemals zuläßt, ist die Himmelfahrt Christi und seine Wiederkunft. Derselbe Christus, der in seiner Gemeinde gegenwärtig ist, kommt wieder vom Himmel. Es ist derselbe Herr, hier wie dort, es ist dieselbe Kirche, hier wie dort, es ist der eine und selbe Leib dessen, der hier gegenwärtig ist und dessen, der aus den Wolken wiederkommt. Aber es ist ein ernster Unterschied, ob wir hier sind oder dort. So ist Einheit und Unterschiedenheit notwendig beisammen.

Die Kirche ist Einer, sie ist der Leib Christi, aber sie ist zugleich die Vielheit und Gemeinschaft der Glieder (R. 12,5; 1. Kor. 12,12ff.). Der Leib hat viele Glieder und ein jedes, Auge, Hand oder Fuß, ist und bleibt, was es ist, – dies ist der Sinn des paulinischen Vergleichs! Hand wird nicht Auge, und Auge wird nicht Ohr. Jedes bleibt, was es ist. Aber doch sind sie nur, was sie sind als Glieder an dem Einen Leib, als dienende Gemeinschaft in der Einheit. Nur von der Einheit der Gemeinde her ist jeder Einzelne, was er ist, und ist die Gemeinschaft, was sie ist, wie die Gemeinde nur von Christus und seinem Leibe her ist, was sie ist. Hier tritt das Amt des Heiligen Geistes klar heraus. Er ist es, der Christus den Einzelnen bringt (Eph. 3,17; 1. Kor. 12,3). Er erbaut durch die Sammlung der Einzelnen seine Kirche, deren Gesamtbau doch in Christus schon fertig ist (Eph. 2,22; 4,12; Kol. 2,2). Er schafft die Gemeinschaft (2. Kor. 13,13) der Glieder des Leibes (R. 15,30; 5,5; Kol. 1,8; Eph. 4,3). Der Herr ist der Geist (2. Kor. 3,17). Die Kirche Christi ist der gegenwärtige Christus im Heiligen Geist. So ist das Leben des Leibes Christi unser Leben geworden. In Christus leben wir nicht mehr unser Leben, sondern Christus lebt sein Leben in uns. Das Leben der Gläubigen in der Gemeinde ist in Wahrheit das Leben Jesu Christi in ihnen (Gal. 2,20; R. 8,10; 2. Kor. 13,5; 1. Joh 4,15). 

In der Gemeinschaft des gekreuzigten und verklärten Leibes Jesu Christi neh-men wir teil an Christi Leiden und Verklärung. Christi Kreuz liegt auf dem Leibe der Gemeinde. Was sie unter diesem Kreuz leidet, ist Christusleiden. Es ist zuerst das Erleiden des Kreuzestodes in der Taufe, es ist fortan das „tägliche Sterben“ der Christen (1. Kor. 15,31) in der Kraft seiner Taufe. Es ist aber darüber hinaus noch ein Leiden von unaussprechlicher Verheißung: Zwar hat allein Christi eignes Leiden versöhnende Kraft, er litt „für uns“ und er siegte „für uns“, aber in der Kraft seines Leidens gibt er denen, die sich der Gemeinschaft seines Leibes nicht schämen, die unermeßliche Gnade, nun auch wieder „für ihn“ leiden zu dürfen. Keine größere Herrlichkeit konnte er den Seinen schenken, keine unbegreiflichere Würde kann es für den Christen geben, als daß er „für Christus“ leiden darf. Was dem Gesetz im tiefsten zuwider ist, wird hier wahr. Nach dem Gesetz können wir nur die Strafe für unsere eigenen Sünden leiden. Nicht einmal sich selbst zugute vermag hier ein Mensch etwas zu tun oder zu leiden, wieviel weniger einem anderen zugute, wieviel weniger Christus zugute! Der Leib Christi, der für uns gegeben ist, der für unsere Sünde die Strafe erlitt, macht uns frei, „für Christus“ da zu sein, im Tod und im Leiden. Es kann nun für Christus gearbeitet und gelitten werden, ihm zugute, der uns alles zugute getan hat! Das ist das Wunder und die Gnade in der Gemeinschaft des Leibes Christi (Phil. 1,25; 2,17; R. 8,35ff.; 1. Kor. 4,10; 2. Kor. 4,10; 5,20; 13,9). Wiewohl Jesus Christus alles versöhnende, stellvertretende Leiden erfüllt hat, sind doch seine Leiden auf dieser Erde noch nicht zu Ende. Er hat in seiner Gnade für diese letzte Zeit bis zur Wiederkunft seiner Gemeinde einen Rest (HYSTEREMATA) von Leiden zurückgelassen, die noch erfüllt sein wollen (Kol. 1,24). Dieses Leiden darf dem Leibe Christi, der Kirche, zugute kommen. Ob wir daran denken dürfen, daß auch dieses Leiden der Christen sündenverzehrende Kraft hat (vergl. 1. Pt. 4,1), bleibt unsicher. Deutlich aber ist es, daß der Leidende in der Kraft des Leibes Christi stellvertretend „für“ die Gemeinde, für den Leib Jesu leidet, daß er tragen darf, was anderen erspart bleibt. „Wir tragen allezeit das Sterben des Herrn Jesu an unserem Leibe, auf daß auch das Leben des Herrn Jesu an unserem Leibe offenbar werde. Denn wir, die wir leben, werden immerdar in den Tod gegeben um Jesu willen, auf daß auch das Leben Jesu offenbar werde an unserem sterblichen Fleische. Darum ist nun der Tod mächtig in uns, aber das Leben in euch“ (2. Kor. 4,10-12; vergl. 1,5-7; 13,9; Phil. 2,17). Es ist dem Leibe Christi ein Maß von Leiden verordnet. Gott gibt dem einen die Gnade, an des anderen Stelle besonderes Leiden zu ertragen. Das Leiden muß ja erfüllt, getragen und überwunden werden. Selig, wer von Gott gewürdigt ist, für den Leib Christi zu leiden. Solches Leiden ist Freude (Kol. 1,24; Phil. 2,17). In solchem Leiden darf sich der Gläubige rühmen, er trage das Sterben Jesu Christi, er trage Christi Wundmale an seinem Leibe (2. Kor. 4,10; Gal. 6,17). Nun darf der Gläubige dazu dienen, daß „Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod“ (Phil. 1,20). Solches stellvertretende Tun und Leiden der Glieder am Leibe Christi ist selbst das Leben des Christus, der in seinen Gliedern Gestalt gewinnen will (Gal. 4,19). In alledem aber stehen wir in der Gemeinschaft der ersten Jünger und Nachfolger Jesu. 

Der Abschluß dieser Betrachtung muß nun darin bestehen, daß wir das Zeugnis vom Leibe Christi im Schriftganzen wiederfinden. Hier erweist sich, daß im Leibe Christi die große alttestamentliche Weissagung vom Tempel Gottes ihre Erfüllung findet. Nicht im Zusammenhang des hellenistischen Gebrauchs dieses Bildes, sondern von der alttestamentlichen Weissagung des Tempels her ist der Begriff des Leibes Christi zu verstehen. David will Gott einen Tempel bauen. Er befragt den Propheten. Dieser überbringt David Gottes Wort zu seinem Vorhaben: „solltest du mir ein Haus bauen, daß ich darin wohne? ... der Herr verkündigt dir, daß der Herr dir ein Haus machen will“ (2. Sam. 7,5.11). Gottes Tempel kann nur von Gott selbst gebaut werden. Zugleich empfängt David in seltsamem Wider-spruch zu dem vorher Gesagten die Verheißung, daß einer aus seinem Samen Gott das Haus bauen soll und daß sein Reich in Ewigkeit bestehen werde (v. 12.13). „Ich will sein Vater sein und er soll mein Sohn sein“ (v. 14). Salomo, der „Sohn des Friedens“ Gottes mit dem Hause David, hat diese Verheißung auf sich bezogen. Er baute den Tempel und wurde von Gott darin bestätigt. Dennoch war in diesem Tempel die Weissagung nicht erfüllt; denn er war von Menschen-händen gebaut und mußte zerbrechen. So blieb die Weissagung unerfüllt be-stehen. Noch wartet das Volk Israel auf den Tempel, der von dem Sohn Davids gebaut werden sollte, dessen Reich ewig bestünde. Der Tempel in Jerusalem war mehrfach abgebrochen, ein Zeichen, daß es nicht der verheißene Tempel ist. Wo war der wahrhaftige Tempel? Christus selbst sagt es uns, indem er die Weis-sagung des Tempels bezieht auf seinen Leib. „Da sprachen die Juden: Dieser Tempel ist in 46 Jahren erbaut; und du willst ihn in drei Tagen aufrichten? Er aber redete von dem Tempel seines Leibes. Da er nun auferstanden war von den Toten, gedachten seine Jünger daran, daß er dies gesagt hatte, und glaubten der Schrift und der Rede, die Jesus gesagt hatte“ (Joh. 2,20ff.). Der Tempel, auf den Israel wartet, ist der Leib Christi. Der alttestamentliche Tempel ist nur der Schatten seines Leibes (Kol. 2,17; Hebr. 10,1; 8,5). Jesus meint seinen mensch-lichen Leib.

Er weiß, daß auch der Tempel seines irdischen Leibes abgebrochen wird, aber er wird auferstehen, und der neue Tempel, der ewige Tempel wird sein auferstande-ner, verklärter Leib sein. Dies ist das Haus, das Gott seinem Sohn selbst baut und das doch auch der Sohn dem Vater baut. In diesem Haus wohnt Gott wahr-haftig und zugleich die neue Menschheit, die Gemeinde Christi. Der menschge-wordene Christus selbst ist der Tempel der Erfüllung. Es entspricht dem, was die Offenbarung des Johannes vom neuen Jerusalem sagt, daß darin kein Tempel sei, „denn der allmächtige Gott ist ihr Tempel und das Lamm“ (21,22). Der Tempel ist der Ort der gnädigen Gegenwart und Wohnung Gottes unter den Menschen. Er ist zugleich der Ort, an dem die Gemeinde von Gott angenommen wird. Beides ist wahr geworden allein im menschgewordenen Jesus Christus. Hier ist die Gegenwart Gottes wahrhaft und leibhaftig. Hier ist die Menschheit wahrhaft und leibhaftig; denn er hat sie in seinem eigenen Leibe angenommen. So ist der Leib Christi der Ort der Annahme, der Versöhnung und des Friedens zwischen Gott und Menschen. Gott findet im Leib Christi den Menschen, und der Mensch findet sich im Leibe Christi von Gott angenommen. Christi Leib ist der geistliche Tempel (OIKOS PNEUMATIKOS), der aus lebendigen Steinen gebaut ist (1. Pt. 2,5ff). Christus ist allein Grund und Eckstein dieses Tempels (Eph. 2,20; 1. Kor. 3,11), er ist zugleich selbst der Tempel (OIKODOME Eph. 2,21), in dem der heilige Geist wohnt und die Herzen der Gläubigen erfüllt und heiligt (1. Kor. 3,16; 6,19). Gottes Tempel ist die heilige Gemeinde in Jesus Christus. Christi Leib ist der lebendige Tempel Gottes und der neuen Menschheit.

 

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