Erntedank

Erntedank

Wer nicht genau hinsieht, kann sich in Bildern sehr täuschen. Und so erging es mir mit dem obigen Bild, das „Der Heuwagen“ heißt. Denn bei der ersten, flüchtigen Betrachtung habe ich es für eine fröhliche Ernteszene gehalten. Da wird Heu eingebracht auf diesem riesigen Wagen. Einige Menschen machen Musik. Und einige sehen aus, als würden sie tanzen. Manche trinken, andere bereiten Essen zu, und es herrscht Getümmel wie auf einem ländlichen Markt. Es geht so bunt zu wie bei einem Volksfest – und ich dachte: wahrscheinlich freuen sich die Landleute über eine reiche Ernte und lassen es sich gut gehen, weil nun für den kommenden Winter gesorgt ist. Mir schien, das sei ein passendes Bild zum Erntedankfest. Denn der riesige Heuwagen steht doch wohl für die vielen Früchte, die gewachsen sind – und somit für Gottes reichen Segen, von dem das Dorf wieder ein Jahr lang leben kann. Doch ist das alles ein Missverständnis. Und wer genauer hinschaut, sieht es auch gleich. Denn da thront zwar Jesus Christus im Himmel. Aber seine Handbewegung sieht etwas ratlos aus. Und was unten auf der Erde vor sich geht, kann ihm auch unmöglich gefallen. Der Heuwagen dort wird keineswegs von Pferden gezogen, sondern von Monstern, die Löwen-, Fisch- und Vogelgesichter haben. Das sind keine Bauern, sondern Ausgeburten der Hölle. Und darum ist ihnen auch egal, dass sie den schweren Wagen über gestürzte Menschen hinwegziehen, die unter seinen Rädern zu Tode kommen. Viele andere drängen sich gefährlich nah an den Heuwagen heran, um sich etwas von dem Heu herunterzuziehen. Sie sind scheinbar ganz wild darauf! Einige benutzen lange Haken, Gabeln und Leitern, um ihren Teil abzubekommen. Aber obwohl so viel Heu da ist, dass es für jeden reichen sollte, scheinen die Gier und die Konkurrenz so groß, dass man mit gezückten Messern aufeinander losgeht. Direkt vor dem Wagen wird jemandem die Kehle aufgeschlitzt. Und links sieht man auch schon ein Opfer liegen. Denn es ist offener Streit entbrannt. Dieser Streit scheint aber irgendwie normal zu sein. Denn viele der Umstehenden kümmern sich gar nicht darum. Bischof und König jedenfalls, die auf schönen Pferden hinter dem Wagen herreiten, greifen nicht ein, um Ordnung herzustellen. Und auch am unteren Bildrand – in Sichtweite des Mordens – sind Menschen ganz ungerührt mit sich selbst beschäftigt. Da haben Frauen mit ihren Kindern zu tun. Ein Zahnarzt geht seinem Beruf nach. Und ein Musiker spielt auf dem Dudelsack. Rechts verstauen einige Nonnen das Heu, dass sie ergattern konnten, in einem großen Sack. Und der füllige Mönch, der ihnen zuschaut, erfrischt sich mit einem Trunk. Alles wirkt sommerlich-bunt unter diesem blauen Himmel. Aber ein schönes Erntefest ist es eben doch nicht. Sondern wir sehen Gier und Gewalt bei den einen – und Gleichgültigkeit bei den anderen. 

Doch was will der Maler damit sagen? Hieronymus Bosch macht es uns nicht gerade leicht. Denn wir verstehen sein Bild erst, wenn wir darin die Illustration eines Sprichworts erkennen, das zu seiner Zeit in den Niederlanden bekannt und geläufig war. Da sagte man nämlich gern: „Die Welt ist ein Heuhaufen. Und ein jeder pflückt davon, so viel er kann.“ Dieses Sprichwort ist hier dargestellt! Und so geht es zwar wirklich um die Güter und Freuden dieser Erde – das mit dem Erntesegen war gar nicht so falsch. Aber jenes Sprichwort bringt zugleich des Menschen Begehrlichkeit ins Spiel: „Die Welt ist ein Heuhaufen. Und ein jeder pflückt davon, so viel er kann.“ Das heißt ja wohl: keiner will zu kurz kommen, alle reißen sich drum, und jeder möchte ein Stück vom Kuchen abhaben. Eigentlich ist Gottes schöne Erde so reich an Gütern, dass jeder satt werden könnte. Und doch ist ein rücksichtsloser Streit entbrannt, weil jeder rafft und hortet so viel er kann, weil er dem Nebenmann seinen Teil nicht gönnt – und selbst den Hals nicht vollbekommt: „Die Welt ist ein Heuhaufen. Und ein jeder pflückt davon, so viel er kann.“ Was Hieronymus Bosch malt ist demnach ein Gleichnis des Lebens insgesamt. Es ist aber gerade kein schmeichelhaftes, sondern ein trauriges Gleichnis. Denn alles dreht sich nur um Besitz, Konsum und Konkurrenz. Und rund um den schönen Heuhaufen, der ja eigentlich etwas Gutes ist, entbrennt aus lauter Raffgier ein Hauen und Stechen. Wer will, kann auf dem Bild alle sieben Todsünden finden. Oben auf dem Heuwagen, in dem Gebüsch, ist die „Wollust“ angesiedelt. Und der Mord, der unten auf dem Weg geschieht, steht für den „Zorn“. Der wohlgenährte Mönch repräsentiert sowohl die „Völlerei“ als auch die „Faulheit“. Die gekrönten Häupter auf ihren Pferden symbolisieren „Stolz“ und „Hoffart“. Die ihr Heu zusammenraffenden Nonnen stehen für den „Geiz“. Und all die anderen, die einander etwas wegschnappen wollen, illustrieren, was „Neid“ bedeutet. Bosch stellt uns ein Gleichnis des Lebens vor Augen, wie es kritischer und trauriger kaum sein könnte. Denn da scheint jeder seinen Vorteil zu suchen – und keiner hat Hemmungen, es auf Kosten der anderen zu tun. Die einzigen Lichtblicke sind der betende Engel, oben neben dem Lautenspieler, und der Mann unten links, der ein Kind davon abhält, ins gefährliche Getümmel hineinzulaufen. Doch woher kommt eigentlich der lange Zug, der doch offenbar wie eine Prozession von links nach rechts in Bewegung ist? Und wo laufen die alle hin, die den Heuwagen begleiten und ihm folgen? Stünde das Bild für sich allein, könnten wir darüber nur Vermutungen anstellen. Doch tatsächlich handelt es sich um die große Mitteltafel eines Triptychons – und d.h.: es gibt dazu noch eine linke und eine rechte Seitentafel, die das Bild ergänzen. 

Auf der linken Tafel, die sich dort befindet, wo der Heuwagen herkommt, ist als Ursprung allen Lebens die Schöpfung zu sehen – also die Erschaffung Adams und Evas, das Paradies, der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies. Und diese „Vorgeschichte“ erklärt schon viel von der Ambivalenz der mittleren Tafel. Denn die zeugt sowohl vom reichen Segen des Schöpfers (in Gestalt des Heuwagens), als auch von dem bösen Streit, der darum entbrannt ist. Gegenwärtig mischen sich „Gottes Werk“ und „Teufels Beitrag“ in fataler Weise. Auf der rechten Tafel ragt die Deichsel des Heuwagens aber schon direkt in die Hölle hinein, wo es noch viel mehr Monster gibt, noch mehr gequälte Menschen, Teufelsfratzen, ewiges Feuer und Folterungen verschiedenster Art. Da die Leserichtung der drei Tafeln aber mit der chronologischen Ordnung und mit der Richtung übereinstimmt, in die der Heuwagen gezogen wird, kann man die düstere Logik des Ganzen – und damit die Botschaft des Malers – kaum missverstehen: Bosch führt uns vor Augen, wie der uns vertraute „Lauf der Welt“, von Gottes guter Schöpfung herkommend, ungebremst der Hölle entgegen geht. Denn auf etwas anderes als „Hölle“, laufen Raffgier, Neid, Konkurrenz und Gewalt nicht hinaus. All diese Menschen sind süchtig nach dem Glück dieser Erde, sie gieren nach dem Heu auf dem Wagen. Sie fragen aber nicht, was es ihnen langfristig nützen wird oder wohin die Reise geht. Sondern sie tun einfach, was alle tun, und haben dabei keine andere Sorge, als dass sie eventuell zu kurz kommen. Ja: „Die Welt ist ein Heuhaufen. Und ein jeder pflückt davon, so viel er kann.“ Das muss man wohl als treffende Beschreibung des menschlichen Daseins gelten lassen. Denn Konsum geht vor – und Spaß muss sein. Jeder will vom Kuchen ein möglichst großes Stück abhaben. Die Cleveren machen sich die Taschen voll. Und die weniger Geschickten kommen unter die Räder. Wohin das langfristig führt, ist zwar kein Geheimnis. Aber den Lauf der Welt ändert man nicht mal eben. Und in der allgemeinen Konkurrenz will man auch nicht als einziger abseits stehen. Was wäre also die Alternative? Was könnte einer tun, der da auf dem Bild nicht mitmachen möchte – und trotzdem Bedürfnisse hat? 

Wir kommen mit dieser Frage wieder auf das Erntedankfest zurück. Denn dessen Botschaft ist ja gerade, dass unser Verhältnis zu den Gütern und Freuden dieser Welt nicht durch Gier, sondern durch den Glauben, durch Dank und Verantwortung bestimmen sein soll. Das Erntedankfest ist sozusagen der christliche Gegenentwurf zum großen Gerangel um den Heuwagen. Und es mahnt uns, im Verteilungskampf eben nicht das Messer zu zücken, sondern freigiebig zu sein und mit anderen zu teilen. Denn ein Christ kann im Streben nach irdischen Gaben nie den himmlischen Geber vergessen, von dem sie kommen. Und so sehr er der konkreten Gaben und Güter auch bedarf, betrachtet er sie doch nie wie eine Beute, die er sich raubt. Sondern er sieht darin Gottes freundliches Geschenk, das er mit Dank entgegennimmt – und nicht anders als im Sinne des Spenders gebraucht. Natürlich erwirbt ein Christ seinen Lebensunterhalt durch Arbeit und Fleiß. Wenn er dann aber mit seiner Familie satt wird, schreibt er das dem Schöpfer zu und vertraut grundsätzlich nicht auf seine eigene Kraft und Geschicklichkeit, sondern auf Gottes Fürsorge. Gott selbst ist des Christen Glück und Ziel – die Güter der Erde sind es nicht. Darum hat er‘s nicht nötig, mit anderen um Besitztümer zu zanken oder ihnen das Ihre zu neiden. Sondern er strebt nach einer gerechten Verteilung des irdischen Reichtums und ist bereit, die Früchte seiner Arbeit mit den Bedürftigen zu teilen. Er weiß, dass alle Güter dieser Erde dem Allmächtigen gehören, der sie nicht geschaffen hat, um einzelne reich, sondern um alle satt zu machen. Und so wird ein Christ nicht wie ein Plünderer über den großen Heuwagen herfallen, um möglichst viel an sich zu raffen und zu horten – sondern er sieht sich im Blick auf das, was seine Arbeit einbringt, nur in der Rolle eines Verwalters. Er wird deswegen nicht zum Kostverächter, sondern genießt sehr wohl mit Freude, was Gott ihm Gutes gönnt! Er gönnt aber anderen dasselbe – und freut sich, wenn er Bedürftigen helfen kann. Alles in allem ist die christliche Haltung das Gegenteil der Selbstbedienungsmentalität, die Bosch uns vor Augen führt. Denn die Menschen auf seinem Bild kriegen den Hals nicht voll. Ein Christ hingegen sammelt lieber Schätze im Himmel als auf Erden. Und er pocht auch nicht auf vermeintliche Rechte, sondern betrachtet jede gute Gabe als Gottes ungeschuldetes Geschenk. Er arbeitet tüchtig, vertraut aber viel mehr auf Gottes Beistand als auf das eigene Bemühen. Und wenn er Pflanzen und Tiere nutzt, sieht er in ihnen viel mehr als nur Mittel zu irgendeinem Zweck. Er benimmt sich in Gottes schönem Garten nicht wie ein Eigentümer, sondern wie ein Gast, und teilt das Vorhandene gern mit den anderen Gästen. Sein eigentliches Gegenüber sind aber nicht sie, sondern sein maßgebliches Gegenüber ist der Schöpfer selbst. Dem sagt er „bitte“ und sagt „danke“ – und nimmt dabei den Geber wichtiger als die Gaben. Denn auch die besten irdischen Gaben sind vergänglich. Der himmlische Geber aber ist ewig. Käme diese Einsicht aber auch über die Menschen auf unserem Bild – würde das die Bedeutung des Heus nicht sehr relativieren? Und müsste sich die Szene nicht bald verändern? Die Streitenden könnten dann Frieden schließen und miteinander die Verletzten unter dem Wagen hervorziehen. Man könnte dafür sorgen, dass jeder soviel Heu bekommt, wie er braucht. Und jene Gestalten, die an der Deichsel ziehen, würden von selbst verschwinden. Denn es ist kein Naturgesetz, dass der Lauf der Welt unaufhaltsam in Richtung Hölle geht. Und am allerwenigsten ist es Gottes Wille. Denn der hat in seiner Freundlichkeit den Heuwagen seiner guten Gaben nicht dazu bestimmt, dass er Anlass für Streit, Gewalt und Unglück werden sollte – sondern ganz im Gegenteil: Nicht ein Fluch, sondern ein Segen soll dieser Reichtum sein, nicht Anlass zum Zank, sondern zur Freude. Und wenn uns das bei der Betrachtung klar wird, hat uns das Gemälde damit schon einen Dienst erwiesen.

 

 

Gebet zum Erntedankfest

 

Guter Gott, 

wir danken dir für den Reichtum deiner Schöpfung und preisen dich – für die Schönheit der Pflanzen und die Vielfalt der Tiere, für die Helligkeit des Tages und die Dunkelheit der Nacht, für die Höhe der Berge und die Tiefe des Meeres, für jeden guten Bissen und jedes erfrischende Getränk, für die Wärme des Feuers und die Kühle der Luft, für die Fruchtbarkeit der Erde und die Reinheit des Wassers, für Sommer und Herbst, Winter und Frühling. Wegen all dieser Dinge, guter Gott, können wir mehr als zufrieden sein. Doch wollen wir dir die Menschen anbefehlen, die es heute noch nicht sind. Wir bitten für die Unersättlichen, die nie genug kriegen an Geld und Gut, dass sie frei werden von ihrer Gier, dass sie bescheidener und dankbarer werden. Wir bitten dich aber erst recht für jene, die wirklich zu wenig haben, die trotz schwerer Arbeit nur kärglich ernten und ihre Kinder hungrig zu Bett schicken müssen, dass sie Hilfe finden bei denen, die im Wohlstand leben. Herr, du hast diese Erde reich beschenkt und mit allem Nötigen ausgestattet. Verleihe uns nun auch die Weisheit, dass wir deinen Garten sorgsam pflegen und bebauen und seine Früchte gerecht verteilen. Lass uns das Gute genießen, aber so, dass wir über den Gaben niemals den Geber vergessen. Lass es uns genießen, aber so, dass wir es mit den Bedürftigen teilen. Ja, Herr, lass den Ertrag unserer Arbeit allen Menschen zum Nutzen dienen, dir aber zur Ehre. Amen.  

 

 

Bild am Seitenanfang: Der Heuwagen

Hieronymus Bosch oder Werkstatt, Public domain, via Wikimedia Commons