Advent
Vom Warten und Kommen
Wenn man sagt, der Advent sei eine Zeit der Erwartung, ist das ebenso richtig wie missverständlich. Denn Außenstehende könnten folgern, Christen erwarteten nur in der Adventszeit etwas – und was sie erwarteten, sei bloß das Weihnachtsfest! Darin läge aber ein arges Missverständnis. Denn christlicher Glaube ist ganzjährig voller Erwartung. Und er schaut dabei auch nicht allein auf den Heiligabend. Denn Jesu Geburt ist zwar die Erfüllung von Verheißungen des Alten Testaments. Seine Verkündigung ist aber zugleich Ursprung neuer Verheißungen, die nun wieder auf ihre Erfüllung warten. Denn mit Christus hat das kommende Gottesreich tatsächlich schon begonnen. Wo man ihm glaubt, ist es geistlich und sakramental schon genauso präsent wie Christus selbst. Doch wächst Gottes Reich derzeit auf verborgene Weise. Und erst wenn Christus sichtbar wiederkehrt, kommt mit ihm auch unübersehbar das Ende der uns bekannten Welt, die dann übergeht in einen neuen Himmel und eine neue Erde. Das ist ein Prozess voller Spannung und Dynamik. Denn die neuen Erwartungen, die Christus geweckt hat, sind noch viel größer als die alten, die er erfüllte. Und so werden wir im Neuen Testament aufgefordert, wach zu bleiben, nach vorn zu schauen und vorbereitet zu sein. Denn bis Christus wiederkehrt, haben die Christen allerhand Prüfungen zu bestehen. Wir wissen nicht, an welchem Tag Christus kommt (Mt 24,42). Aber nur, wer Geduld aufbringt und beharrlich wartet, wird auch selig (Mt 24,13 / Offb 2,10). Wir sollen Knechte sein, die ihrem Auftrag so treu nachgehen, dass ihr Herr jederzeit zurückkommen kann – und sie jederzeit bei der Arbeit findet (Mt 24,45-51). Wir sollen wie jene klugen Jungfrauen sein, die für ihre Lampen immer genug Öl vorrätig haben, um von jetzt auf gleich dem Bräutigam entgegenzugehen (Mt 25,1-13). Und so sind wir als Christen nicht bloß im Advent, sondern jederzeit „auf dem Sprung“, sitzen sozusagen „auf gepackten Koffern“ und freuen uns auf den Tag, da der gottlose Zustand dieser Welt einmal endgültig überwunden wird. Denn als Christen haben wir genau danach Sehnsucht und hegen den dringenden Wunsch, dass entweder der Herr zu uns kommt – oder wir zu ihm. Kommt der wiederkehrende Christus mit seinem Reich zu uns, während wir noch leben, so ist es recht. Kommen wir aber zu ihm in sein Reich, weil wir gestorben sind, ist uns das genauso recht (2. Kor 5,6-8 / Phil 1,21-24). Und nur, langfristig getrennt zu sein, kann uns nicht recht sein. Denn sooft wir beim Abendmahl vom Brot essen und aus dem Kelch trinken, verkünden wir den Tod des Herrn, bis er kommt (1. Kor 11,26). Und wir rufen ihn herbei mit dem alten aramäischen Ausdruck „maranatha“, der bedeutet: „Unser Herr, komm!“ In der frühen Christenheit war dieser Gebetsruf „maranatha“ ein fester Bestandteil der Abendmahlsfeier (Didache 10,6 / vgl. Offb 22,20). Und so leben wir als Christen nicht bloß in den Adventswochen, sondern ganzjährig in großer Erwartung und „im Licht des kommenden Tages“ (1. Thess 5,1-6). Denn zusammen mit der Wiederkunft Christi und dem jüngsten Gericht erwarten wir den neuen Himmel und die neue Erde (2. Petr 3,13). Wir brauchen dabei Geduld, weil es scheinen kann, als sei Christus längst überfällig (Jak 5,7-8 / 2. Petr 3,3-9). Doch werfen wir unser Vertrauen deswegen nicht weg, sondern halten immer daran fest, dass das Beste in unserem Leben erst noch kommt (Hebr 10,35). Was bedeutet es aber, wenn ein Mensch auf diese Weise wartet, und ein anderer verspricht, zu ihm zu kommen? Zunächst einmal stimmen beide darin überein, dass sie zusammen sein sollten, es aber noch nicht sind. Und sowohl der Wartende wie der Kommende lassen ihr Handeln von diesem schmerzlichen Sachverhalt bestimmen. Sie halten die Spannung aus, gedanklich eigentlich schon zusammen und äußerlich doch noch getrennt zu sein. Und sie stellen damit ihr Vertrauen unter Beweis. Denn der Wartende verlässt sich genauso auf den Kommenden wie umgekehrt. Sie haben einander zugesagt, zu warten und zu kommen. Aber weder sieht der Wartende den Kommenden kommen, noch sieht der Kommende den Wartenden warten. Vorläufig bleibt da eine ärgerliche Distanz! Und so muss jeder darauf bauen, beim anderen nicht vergessen zu sein. Es lässt sich auch jeder auf ein Risiko ein. Denn wenn einer von beiden nicht tut, was er versprach, macht der andere sich lächerlich. Der Kommende kommt dann dorthin, wo keiner auf ihn wartet. Oder der Wartende wartet auf einen, der nicht kommt. So hat es jeder in der Hand, sein Gegenüber zu enttäuschen und scheitern zu lassen. Jeder kann die Hoffnung des anderen zunichtemachen. Und so werden durch die wechselseitige Sehnsucht beide Seiten verletzlich. Ein anderer, der immer nur auf das aus ist, was ihm schon greifbar vor Augen steht – der entgeht dem natürlich und riskiert nichts: Ohne Erwartung kann man nicht enttäuscht werden. Man hat seinen Fokus immer bei sich selbst. Und trotzdem liegt im Warten wie im Erwartet-Werden eine höhere Wertschätzung, als sie einer haben kann, der nur für sich und für den Moment lebt. Denn der Wartende ist es dem Kommenden wert, dass er kommt. Und der Kommende ist es dem Wartenden wert, dass er wartet. Das versteht sich nicht von selbst. Denn ein Christ könnte in Versuchung kommen, sich mit den greifbaren Gütern der Erde zu trösten, während es Christus viel weniger kostete, wenn er sich mit den Engel begnügte, die schon im Himmel sind! Doch, nein: Der Christ lebt nicht von den Freuden, die er haben könnte, wenn er es aufgäbe, auf Christus zu warten. Und für Christus ist der Himmel offenbar nicht genug, wenn wir darin fehlen! Beide Seiten verschmähen es, sich mit dem abzufinden, was schon gegeben ist, und freuen sich stattdessen auf ihre vollendete Gemeinschaft, die noch in der Zukunft liegt. Sowohl der Wartende als auch der Kommende legen damit das Bekenntnis ab, dass sie der Vervollständigung durch den anderen bedürfen. Und das ist bei Christus besonders seltsam, weil er Gott ist – und Gott eigentlich niemanden braucht! Dennoch zeigt Gott mit seiner Liebe zu den Sündern, dass er sich selbst nicht genug sein will. Er besteht darauf, eine Gemeinschaft herzustellen, die wir viel nötiger haben als er. Und auch darin ist unser Verhältnis asymmetrisch, dass er allein den hohen Preis für diese Gemeinschaft bezahlt. Wir Christen, die wir bloß warten, tragen nichts dazu bei, die Trennung zu überwinden. Christus aber, der zu uns kommt, überwindet sie um den Preis seines Lebens. Und so sind die Partner nicht so „auf Augenhöhe“, wie sie es wären, wenn sich beide zugleich entgegenliefen. Vielmehr hat Christus die aktive Rolle des Kommenden. Und wir Christen haben die passive Rolle der Wartenden. Wir als Wartende tragen nichts dazu bei, den Abstand zu verkürzen – er als der Kommende tut das sehr wohl! Und doch sind wir uns darin wieder gleich, dass der eine gedanklich beim anderen ist. Beide, die zueinander wollen, leben „exzentrisch“, weil der Schwerpunkt ihrer Gedanken nicht bei ihnen, sondern jeweils beim anderen liegt. Einer ist des andern Ziel. Und dem Kommenden sieht man das auch an, weil er in Bewegung ist. Der Wartende dagegen wirkt äußerlich, als würde er in sich ruhen. Tatsächlich ist aber auch der Wartende innerlich nicht bei sich, sondern gedanklich schon beim Kommenden. Und in dieser gedanklichen Vorwegnahme der noch nicht bestehenden Gemeinschaft bilden die beiden doch schon eine Gemeinschaft und nehmen innerlich vorweg, was äußerlich erst noch werden muss. Der Kommende ist dem Wartenden in seiner Erwartung schon gegenwärtig, wie auch der Wartende dem Kommenden als Ziel seines Laufes bereits vor Augen steht. Beide dokumentieren aber durch ihr Tun, dass sie sich längst kennen. Denn warum sollte einer ersehnen und anstreben, was er nicht kennt? Wären sie sich wirklich unbekannt, wüsste der Wartende nicht, nach wem er ausschaut. Und der Kommende wüsste nicht, wen er sucht. Indem sie dagegen warten und kommen, zeigen die Christen genau wie Christus, dass sie einander höher schätzen als das, was sie ohne Warten und Kommen haben könnten. So beruht dann die Vorwegnahme des Künftigen auf der lebhaften Erinnerung des Vergangenen in der Gegenwart. Denn man wartet nur, wenn es eine Vorgeschichte gibt, die Erwartungen begründet. Eine gewisse Nähe muss schon dagewesen sein, damit zwei Seiten überhaupt Nähe erstreben. Und wenn‘s auch aussieht, als bestünde Warten in Untätigkeit, ist es faktisch doch ein Tun, das Kraft kostet. Denn der Wartende ist unablässig damit beschäftigt, den Raum freizuhalten, den der Kommende in seinem Leben einnehmen soll. Seine Ankunft kann der Wartende nicht beschleunigen. Davon, dass er ständig auf die Uhr schaut, kommt der Kommende auch nicht früher. Aber als Wartender kann er sich bemühen, im eigenen Leben den Raum freizulassen, den der kommende Christus bei ihm füllen will. Und genau das ist die Aufgabe, der wir uns im Advent verstärkt widmen! Denn wie soll Christus bei uns einziehen, wenn da gar kein Platz mehr ist? Wie soll er uns lehren, wenn unsere Köpfe schon von eigener Weisheit überquellen? Wie soll er uns seine Gnade schenken, wenn wir schon alle Hände voll – und also für sein Geschenk keine Hand mehr frei haben? Arm, hungrig und bedürftig zu sein, ist für den Wartenden kein Nachteil, sondern ein Vorteil. Denn wo könnte sich Christus wohler fühlen als dort, wo er dringend gebraucht wird? Wohin käme er lieber als dorthin, wo man sein Fehlen beklagt? Und wo träte er schneller ein als dort, wo man ihm seinen Platz freigehalten hat? Ebenso logisch ist aber das Umgekehrte. Denn wenn in unserem Leben keine Lücke klafft, kann Christus sie auch nicht füllen. Wo wir uns nicht krank fühlen, kann uns Christus nicht heilen. Und wo wir kein Verschulden anerkennen, hat uns Christus nichts zu vergeben. Denn er kommt zwar zu den Mühseligen und Beladenen als Retter. Zu den Stolzen und Satten kommt er aber als Richter. Und so feiert nur der wirklich Advent, der Christus von Herzen vermisst. Nur der hat zur christlichen Erwartung ein Talent, der sich Gottes bedürftig weiß. Und jenen anderen, die schon randvoll sind mit eigenem Dünkel, eigenen Gedanken, Plänen und Zielen, denen hat Christus nichts zu sagen oder zu geben – ja, die gehen ihn gar nichts an, denn sie haben für den Heiland weder Platz noch Bedarf. Zu denen kommt er darum nicht als Retter, sondern als Richter. Und er ist ihnen als der wiederkehrende Christus genauso wenig willkommen, wie er‘s bei seiner ersten Ankunft vor 2000 Jahren war. Nun hält ihn das zum Glück nicht auf. Er kommt auch zu denen, die ihn nicht vermissen! Aber werden sie an seinem Erscheinen Freude haben? Nein. Ihr Erschrecken wird deutlich verraten, dass die zweite Ankunft Christi sie genauso stört, wie damals die erste den Herodes, die Pharisäer, die Priester und die Schriftgelehrten störte. Die hatten sich den Messias ganz anders vorgestellt! Und als ihnen Gott in der Person Jesu ungeheuer nahe kam, war‘s ihnen gar nicht recht. Gottes Gegenwart brachte sie derart in Schwierigkeiten, dass sie versuchten, ihn aus ihrem Leben wieder hinauszudrängen! Sie behaupteten zwar, sie hätten mit Ungeduld auf den Messias gewartet. Als er aber wirklich kam, störte er sie so gewaltig, dass sie ihn mithilfe des Kreuzes bald wieder aus der Welt schaffen wollten. Gott kam in sein Eigentum, sagt das Neue Testament, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf (Joh 1,11). Und wie steht es diesbezüglich mit uns? Könnten wir Christus spontan und freudig aufnehmen? Sind wir sehnsüchtig Wartende? Sitzen wir auf gepackten Koffern und haben keinen heißeren Wunsch, als das Christus zu uns käme – oder wir zu Christus? Ist bei uns „Raum in der Herberge“ – oder wär’s uns im Grunde lieber, keinen Retter zu brauchen, keine Vergebung und keine Gnade? Warten wir auf Gottes Reich – oder klammern wir uns verzweifelt an diese Erde? Laufen wir Gott freudig entgegen – oder verstecken wir uns vor ihm? Dürfte Christus heute kommen? Und würde er uns bei der Arbeit antreffen? Öffnen wir ihm unsere Tür – oder sind wir lieber selbst „Herr im Haus“? Das sind keine leichten Fragen. Doch Christus kommt auf jeden Fall. Er kommt, wenn keiner mit ihm rechnet. Und er kommt nicht allen zur Freude. Manche werden ihre Türen freudig aufreißen, weil sie längst einen Stuhl für ihn bereitgestellt haben. Und andere werden sich fluchend im Keller verstecken. Doch Christus kommt auf jeden Fall. Er kommt, um zu bleiben. Und so sollten wir uns im Advent darin üben, ihn auf innige, tiefe und weitsichtige Weise zu erwarten – mit Entschlossenheit und brennender Geduld!
Gebet zum Advent
Allmächtiger Gott, barmherziger Vater,
du hast deinen Sohn in die Welt gesandt zu unser aller Erlösung. Aber als er in sein Eigentum kam, da nahmen wir ihn nicht auf. Er war uns lästig, darum sagten wir, es sei kein Raum in der Herberge. Er stellte unsere Herrschaft in Frage, darum wollten wir ihm nicht glauben. Er deckte unsere Schuld auf, darum schlugen wir ihn ans Kreuz. Ach, himmlischer Vater, wegen alledem sind wir nicht wert, dass er noch einmal zu uns kommt. Aber im Advent klopft dein Sohn wieder an unsere Türen. Und mit deiner Hilfe wollen wir es diesmal besser machen. Christus weiß was zu tun ist, wir wissen es nicht. Darum lehre uns, von uns selbst nur noch wenig zu erwarten, von deinem Sohn aber ganz viel. Öffne unsere Augen, damit wir nicht bloß das Kind in der Krippe sehen, sondern in dem Kind deine Herrlichkeit. Und hilf, dass wir dann zum Christfest nicht bloß uns selbst und unsere Familien feiern, sondern wirklich deine Liebe. Herr, lass es nicht nur im Kalender Weihnachten werden, sondern in unseren Herzen. Und wenn da noch kein Platz ist, um deinen Sohn zu empfangen, dann wirf alles Störende hinaus und schaffe ihm freie Bahn. Wo dir unsere Dummheit den Weg verstellt, da räume sie beiseite. Wo unsere Trägheit dich hindert, da mache uns Beine. Und wo wir in die Irre gehen, da nimm uns bei der Hand. Ja, komm du Glanz der göttlichen Herrlichkeit! Klopfe laut an unsere Türen und gib uns Ohren, die es auch hören. Amen.
Bild am Seitenanfang: Sailor med kikkert
Martin Aagaard, Public domain, via Wikimedia Commons