Ein "Zwischenzustand" der Toten?

Ein "Zwischenzustand" der Toten?

Wenn man in der Zeitung die Todesanzeigen durchblättert, stößt man gelegentlich auf Texte, die sich direkt an einen Verstorbenen wenden, und liest zum Beispiel: „Karl-Heinz, wir vermissen dich!“ Das ist dann einerseits rührend – andererseits aber seltsam. Denn irgendwie scheinen die Hinterbliebenen ja anzunehmen, der Verstorbene würde auch im Jenseits noch Zeitung lesen. Es gibt auch Menschen, die auf dem Friedhof die Gräber ihrer Lieben besuchen und sich dort recht hörbar mit ihnen unterhalten. Selbstverständlich versteht man das Bedürfnis, in Kontakt zu bleiben. Aber hören uns die Verstorbenen wirklich zu, wenn sie doch tot sind? Manche sagen nach der Beerdigung zum Enkelkind: „Oma sieht jetzt vom Himmel auf dich herunter!“ Aber kann die Oma das wirklich? Sind die Toten willens und in der Lage, den Lebenden beim Leben zuzusehen? Hinter alledem stehen durchaus schwere Fragen. Denn einerseits gilt es, den Tod als Abbruch aller menschlichen Beziehungen ernst zu nehmen. Und andererseits ist es christliche Überzeugung, dass die Verstorbenen nicht einfach „weg“ oder „verloschen“ sind. Auch wenn der Mensch stirbt, hat er noch eine Zukunft, weil er die Ewigkeit entweder im Himmel oder in der Hölle verbringt. Und während man den Leib begräbt, wird die Seele nicht „getilgt“, sondern ist weiterhin „in Gottes Hand“. Da Gott aber am Ende der Zeit die Toten auferweckt, werden Leib und Seele wieder zusammenfinden, damit der Mensch als ganzer sein Urteil empfangen kann. Wenn die allgemeine Auferstehung der Toten nun aber mit dem Weltende zusammenfällt – wo sind die Seelen bis dahin? Wir wissen, dass Christus am Jüngsten Tag kommt, um „zu richten die Lebenden und die Toten“. Das kann morgen geschehen oder in tausend Jahren! Die aber gestern oder heute schon verstorben sind – wo bleiben die solang? Sind die bis dahin nur auf dem Friedhof, wo ihre Gebeine liegen? Oder sind sie schon unmittelbar am Tag ihres Todes in den Himmel oder in die Hölle gekommen? Als Christen haben wir das biblische Zeugnis, dass der Mensch „mehr“ ist als nur sein Leib. Doch dieses „mehr“, das sich im Tod vom Körper trennt, wo geht das hin? Die sterbliche Hülle bleibt bis auf Weiteres auf dem Friedhof. Aber das, was sie belebt hat, ist gewichen. Es wird zuletzt in die ewige Seligkeit eingehen oder in die ewige Verdammnis. Aber ob die Seele dort gleich im Moment des Todes ankommt, oder sich bis zum Jüngsten Tag in einem Zwischenzustand befindet und warten muss, bis wir alle gemeinsam auferstehen – das ist eine strittige Frage. Denn im Neuen Testament finden sich dazu Aussagen, die nicht ohne Weiteres zusammenpassen. In Lukas 16 wird von einem reichen Mann erzählt, der unmittelbar nach seinem Tod in die Hölle kommt. Und wir hören dort vom armen Lazarus, den die Engel unmittelbar nach seinem Tod in Abrahams Schoß tragen (Lk 16,19-31). Einem der beiden Verbrecher, die mit Jesus gekreuzigt werden, sagt Jesus zu, er werden noch „heute“ mit ihm im Paradiese sein. Also unmittelbar nach seinem Tod (Lk 23,43). Doch an anderen Stellen, wie im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, verbindet Jesus die Entscheidung über das Heil oder Unheil des Menschen ganz klar mit dem Jüngsten Gericht, das erst am Ende der Geschichte stattfindet (Mt 13,36-43). Auch in den Gleichnissen vom Fischnetz und vom Weltgericht finden wir das bestätigt (Mt 13,47-52; 25,31-46). Und wenn Paulus von den Entschlafenen spricht, denen die Lebenden nicht zuvorkommen werden, weil die Toten rechtzeitig bei der Ankunft Christi auferstehen, legt auch er den Akzent in die Zukunft (1 Thess 4,13-18; vgl. 1 Kor 15,22-23). Erst wenn die letzte Posaune erschallt, werden die Toten auferstehen unverweslich (1 Kor 15,52). Wo sie sich vorher befinden, wird nicht gesagt. Und doch, wenn Paulus nicht das Ende der Welt, sondern sein ganz persönliches Ende in den Blick nimmt, hat er durchaus Lust seinen Leib zu verlassen, weil er dann daheim ist beim Herrn (2 Kor 5,6-8). Und von einem Zwischenzustand oder einer Wartezeit ist an diesen Stellen keine Rede. Der Apostel hat Lust aus der Welt zu scheiden, um bei Christus zu sein (Phil 1,23). Und anscheinend rechnet er damit, dass dies unmittelbar nach seinem Tod der Fall ist. Er sagt: „Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel“ (2 Kor 5,1). Das klingt nicht, als müssten die Verstorbenen erst noch lange auf ihr Haus warten, sondern anscheinend wartet das Haus schon auf die Verstorbenen. Denn schließlich geht es beim Tod eines Christen nur darum, dass sich die heilvolle Gemeinschaft mit Christus, die wir diesseits im Glauben schon haben, ins Jenseits hinein verlängert. Und der Tod hat keineswegs die Macht, diese Gemeinschaft aufzuheben oder auch nur in Frage zu stellen. Denn Christus selbst ist das Leben (Joh 11,25; 14,6). Und wer durch seinen Glauben „in Christus“ ist, hat damit auch schon heute das ewige Leben und die volle Seligkeit. Wie Johannes sagt, ist er durch das Gericht hindurchgedrungen (Joh 5,24; 6,47; 3,18; 8,51). Da ist kein „Rückschritt“ denkbar! Warum sollte also die Teilhabe am ewigen Leben durch das zeitliche Sterben nochmal unterbrochen werden? Wenn Stephanus vor seiner Steinigung ruft: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“ (Apg 7,59) – ist dann vorstellbar, dass dem nicht gleich entsprochen wurde? Wäre denkbar, dass Stephanus noch bis heute auf die Erfüllung seines Wunsches wartet, weil ihm der Tod dazwischenkam? Das können wir wohl ausschließen. Und doch sagt das Neue Testament beides zugleich: Das Heil ist im Glauben schon heute gegeben. Es soll aber am Ende der Welt auch noch kommen. Es ist schon „da“ – und doch noch „im Werden“. Was das aber für die Vielen bedeutet, die in den letzten 2000 Jahren als Christen gestorben sind, ist nicht leicht zu sagen. Denn es gibt mindestens vier Möglichkeiten, wie man sich das denken kann: 

 

(1) SCHLAFENDER ZWISCHENZUSTAND

Die erste Möglichkeit vertritt Martin Luther. Er weiß, dass die Verstorbenen in der Bibel oft als „Entschlafene“ bezeichnet werden. Und so lehrt er, dass ihre Seelen einen traumlosen Schlaf schlafen – und somit für die verstreichende Zeit kein Empfinden haben, bis die Posaunen des Jüngsten Gerichts sie auferwecken. Sie haben dann von der Zwischenzeit nichts mitbekommen, sondern fühlen sich, als wären sie gerade erst gestorben. Sie schliefen ohne Bewusstsein. Und so haben sie nicht den Eindruck, sie hätten auf irgendetwas warten müssen. Sondern ihrem Erleben nach haben sie gerade erst die Augen zugetan und finden sich sogleich am Weltende wieder. Luther schreibt: „Alsbald die Augen zugehen, wirst du auferweckt werden. Tausend Jahre werden sein gleich als wenn du ein halbes Stündlein geschlafen hättest. Gleich wie wir nachts den Stundenschlag nicht hören, nicht wissen, wie lange Zeit wir geschlafen haben, also noch viel mehr im Tode sind tausend Jahre hinweg; ehe sich einer umsieht, ist er ein schöner Engel.“ Nun hat man eingewandt, der bewusstloser Schlaf sei doch ein Rückschritt gegenüber der bewussten Gemeinschaft mit Gott, die ein Lebender hat – der schläfrige Zustand beeinträchtige die Erkenntnis Christi, ja er trenne die Verstorbenen von Christus! Doch ein schlagendes Argument ist das nicht. Denn wenn ein Christ nachts schläft, wird seine Gemeinschaft mit Gott dadurch weder eingeschränkt noch gefährdet. Und wenn ein Säugling auf dem Arm seiner Mutter einschläft, kommt auch niemand auf die Idee, Mutter und Kind seien nun durch den Schlaf „getrennt“. 

 

(2) WACHER ZWISCHENZUSTAND

Trotzdem ist die Theologie nach Luther andere Wege gegangen, hat sich die Seelen der Verstorbenen nicht schlafend, sondern wach vorgestellt, und hat angenommen, dass schon im Moment des Todes eine vorläufige Zuordnung zum Himmel oder zur Hölle erfolgt. Leonhard Hutter fragt: „In welchem Zustande aber befinden sich die Seelen, wenn sie von dem Leibe durch den Tod getrennt sind?“ Und er antwortet: „Die Seelen der Frommen, welche an Christum glauben, sind in der Hand Gottes, und erwarten da die herrliche Auferstehung ihrer Leiber, und den vollen Genuss der ewigen Seligkeit (…). Der Gottlosen oder Ungläubigen Seelen aber sind am Orte der Qual, und erwarten da unter Schrecken und Angst die schmachvolle Auferstehung ihrer Leiber, und das vollkommene Gefühl der ewigen Verdammnis.“ Demzufolge sind die Verstorbenen wach – und sind sich auch ihres Ortes bewusst. Die einen haben schon Anteil an der Seligkeit im Himmel, die anderen an den Qualen der Hölle. Ein „Zwischenzustand“ ist es aber trotzdem, weil diese Seelen ja noch ohne ihre Leiber sind und dem Jüngsten Tag entgegenharren, der sie durch die Auferstehung wieder mit ihren Leibern vereint und ihre „vorläufige“ Zuordnung zum Himmel oder zur Hölle verewigt. Offenkundig will man beidem gerecht werden: Das Heil ist schon Gegenwart und wird durch den Tod weder aufgelöst noch getrübt. Das volle Heil bleibt aber mit dem Weltende und der Auferstehung verknüpft. Man will beides sagen. Doch mit dem „Zwischenzustand“ entsteht einerseits der Eindruck einer etwas peinlichen, leiblosen Wartezeit. Und andererseits fragt man sich, was eigentlich am Ende im Jüngsten Gericht noch passieren soll, wenn die Entscheidung über das Heil oder Unheil der Person bereits im Moment ihres Todes vorweggenommen wurde. Je mehr man die im Sterben bewahrte Gemeinschaft mit Christus als „vollendet“ begreift, desto fraglicher wird, was das Endgericht noch bringen soll. Und je mehr man dem Endgericht und der Auferstehung vorbehält, desto defizitärer erscheint der vorausgehende „Wartestand“ der Seelen. Eins konkurriert mit dem anderen. Und zudem lassen sich im Neue Testament keine konkreten Hinweise auf diesen Zwischenzustand finden. 

 

(3) UNMITTELBARE ZUORDNUNG

Das ist unbefriedigend. Und so vertreten manche eine dritte Möglichkeit, die den Knoten noch anders löst, und lehren, dass der Mensch schon unmittelbar im Moment seines Todes vollends ins Paradies oder in die Verdammnis versetzt wird. Adolf Hoenecke sagt: „Die durch den Tod vom Körper geschiedenen Seelen befinden sich in der Zeit zwischen dem Tod und Jüngstem Gericht nicht in einem Zwischenzustand (…); die gläubigen Seelen sind nicht in einem schlafenden oder halb-seligen Zustand, und die gottlosen Seelen nicht in einem noch zwischen Rettung und Verdammnis schwebenden Zustand, sondern die gläubigen Seelen kommen sofort zur seligen Anschauung Gottes und die gottlosen Seelen sofort in die ewige Verdammnis.“ Das ist eine befriedigende Lösung für alle, die ihre Verstorbenen schon heute wach und munter im Himmel wissen wollen! Doch verschärft sich die Frage, was der Jüngste Tag unter diesen Umständen noch bringen soll. Führt es nicht zu einer nutzlosen Verdopplung, wenn dem Jüngsten Gericht gar nichts mehr zu entscheiden bleibt, weil ja zum Zeitpunkt des Todes schon alles entschieden wurde? Die Würfel sind bereits gefallen. Der Jüngste Tag aber klappert hinterher und hat nur noch die Funktion, ein Urteil zu veröffentlichen, das im Verborgenen schon vor langer Zeit gefällt und seitdem auch schon vollstreckt wurde. Die Seligkeit, die der Verstorbene genießt, tritt dann offen zu Tage. Aber mehr ist es auch nicht. Und das widerspricht nicht allein dem großen Gewicht, das die Bibel dem Jüngsten Gericht beimisst, sondern auch dem üblichen Sinn des Wortes „Gericht“, weil hier der Vollzug des Urteils der Gerichtsverhandlung vorausgeht. 

 

(4) AUFHEBUNG ZEITLICHER ABLÄUFE 

Schließlich gibt es noch eine vierte Möglichkeit, die Dinge zu betrachten, wenn man sich nämlich vor Augen hält, dass Gott uns durch den Tod aus dem Lauf der Zeit herausnimmt – und es somit falsch ist, den Zustand der Verstorbenen weiterhin in den Kategorien der Zeit beschreiben zu wollen. Die Seelen der Verstorbenen sind „in Gottes Hand“. Sie werden nicht anderswo „bewahrt“ als bei ihm und durch ihn. Er aber – als der Ewige – steht nicht irgendwo „in“ der Zeit, sondern steht „jenseits“ aller Zeit, so dass weder Gott selbst noch das in ihm Bewahrte in zeitlichen Kategorien wie „schon“, „noch-nicht“, „davor“, „danach“, „früher“, „später“ oder „zwischen“ beschrieben werden kann. Gottes Ewigkeit ist keine endlos gedehnte Zeit, sondern eine der Zeit enthobene Freiheit gegenüber aller Zeit. Und so sagt Luther: „Hier muss man die Zeit aus dem Sinne tun und wissen, dass in jener Welt nicht Zeit noch Stunden sind, sondern alles ein ewiger Augenblick“ (Walch 2. Ausg. Bd 11, Sp. 1205). Mit einem Zirkel kann man veranschaulichen, was das bedeutet. Denkt man sich die ablaufende Zeit als eine mit dem Zirkel gezogene Kreisbahn, so sind die vielen Punkte auf dieser Kreisbahn einander näher oder ferner. Alle Punkte der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen zueinander in mehr oder weniger großem zeitlichen Abstand. Und den in der Zeit Lebenden ist immer nur der eine Zeitpunkt „präsent“, an dem sie sich gerade befinden. Doch der Mittelpunkt des Kreises (der Punkt an dem der Dorn des Zirkels eingestochen wurde) liegt nicht irgendwo auf der Kreisbahn, sondern liegt mittendrin. Und als Mittelpunkt hat er zu jedem Punkt der Kreisbahn denselben Abstand. Der Mittelpunkt selbst kann nirgends auf der Kreisbahn verortet werden. Er ist aber jedem ihrer Punkte gleich nah. Und wenn wir uns Gott so als den Mittelpunkt aller Zeit denken, dann steht er in seiner Ewigkeit zwar jenseits der einzelnen Zeitmomente. Es ist ihm dann aber jeder Tag der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft gleich nah und präsent – und jeder dieser Tage ist für Gott „jetzt“. Für uns gibt es ein Nacheinander einzelner Momente, für Gott aber ist alles gleichzeitig. Für ihn ist nichts „vorbei“ oder „künftig“, sondern alles gleichermaßen „aktuell“. Und sind die Verstorbenen nicht anders aufgehoben als in diesem ewigen Gott, so dürfte für sie das gleiche gelten. Unsere Ausgangsfrage (wo sich die Toten in der Zeit befinden), ist dann einfach falsch gestellt, weil sich ihre Seelen gar nicht mehr in der Zeit, sondern in Gottes Hand befinden. Dort gibt es kein „davor“, „danach“ oder „zwischendrin“. Und folglich gibt es dort auch keine Wartezeit, in der leiblose Seelen die Spanne von ihrem Todestag zur Auferstehung überbrücken müssten, sondern der Tag der Auferstehung und des Gerichts fällt für die Verstorbenen mit ihrem Todestag zusammen. Sobald sie sterben, entnimmt Gott ihre Seele dem Fluss der Zeit. Er versetzt sie in die Ewigkeit, wo der Jüngste Tag schon „heute“ ist. Und so beruht es auf einem Missverständnis, wenn wir die Verstorbenen weiterhin im zeitlichen Koordinatensystem von „schon“ und „noch-nicht“ verorten wollen. Denn in Gottes Ewigkeit ist alles gleichzeitig – alles ist „jetzt“. Und weil zwischen „jetzt“ und „jetzt“ keine Lücke zu überbrücken bleibt, gibt es auch keinen „Wartestand“ der Toten. Das in Gott Aufgehobene geht keiner Vollendung entgegen, sondern ist vollendet. Und der Eindruck, dass den Verstorbenen vor der Auferstehung noch etwas fehlen müsste, beruht nur auf der Perspektive des irdischen Betrachters, der im Zeitenlauf gefangen ist und irrtümlich von sich selbst auf die Verfassung derer schließt, die dem Zeitenlauf bereits entnommen wurden. So sagt Heinrich Ott: „Es gibt gar keine zeitliche Distanz zwischen dem Tod des Einzelnen und dem Jüngsten Tag. Denn im Tode fällt der Mensch aus der Zeit heraus; er stürzt in Gottes Ewigkeit. Und Gottes Ewigkeit bedeutet, dass alle Dinge gleichzeitig sind (…). In der Ewigkeit gibt es kein Nacheinander, keinen Zeitablauf, und so ist auch der Tod jedes einzelnen Menschen mit dem Ende der Welt gleichzeitig.“

 

Das klingt, als hätten wir das Problem gelöst. Doch muss man zugeben, dass diese Lösung den Rahmen unseres Vorstellungsvermögens sprengt. Uns wird zugemutet, vor den Gebeinen eines Verstorbenen zu stehen und doch anzunehmen, dass diese Gebeine auf Gottes „überzeitlicher“ Ebene schon auferstanden sind. Diese Gebeine sind dann im gleichen Moment als „tot“ und doch nicht „tot“ zu denken. Und gegen diesen Widerspruch sperrt sich unser Verstand recht heftig. Lassen wir‘s aber gelten, können wir den Gedanken eines Zwischenzustands ganz fallen lassen. Denn aus der Perspektive der diesseits Lebenden gibt es dann zwar einen zeitlichen Abstand zwischen dem individuellen Tod und dem Jüngsten Tag. Doch aus der Perspektive der Verstorbenen gibt es diesen Abstand keineswegs, sondern Tod, Auferstehung und Gericht werden gleichzeitig erlebt. Die problematische Vorstellung eines himmlischen Wartesaals hat sich dann erledigt. Und während die Uhren für die Hinterbliebenen weiter ticken, tun sie‘s für die Verstorbenen nicht. Aus der Zeit genommen und in die Ewigkeit versetzt ist ihnen der Jüngste Tag schon Gegenwart, die Auferstehung ist passiert, das Urteil gesprochen und irreversibel vollstreckt. Die Toten sind dann im Guten wie im Bösen „vollendet“. Und nur für uns bleibt es in irdischer Perspektive richtig, dass der Weltenlauf noch nicht an seinem Endpunkt angelangt ist, solange der Kalender weiterläuft. Gott nimmt die Verstorbenen aus der Zeit in seine Ewigkeit hinein. Und folglich gibt es für die Verstorbenen keinen „Zwischenzustand“ (weder schlafend noch wachend), sondern es gibt ihn nur für die Lebenden. Denn auf Gottes überzeitlicher Ebene, wo das irdische Nacheinander in einem einzigen Punkt simultaner Aktualität zusammentrifft, sind die Verstorbenen bereits auferstanden. Erscheint das aber jemandem allzu seltsam, weil wir‘s im Kopf ja wirklich nicht „zusammenbringen“, dann ist das nicht schlimm. Und da uns die Schrift keine konkrete Vorstellungen vorgibt, ist auch keines der beschriebenen Modelle verbindlich. Sondern festhalten müssen wir nur, was aus Glaubensgründen unumstößlich ist. Nämlich einerseits, dass der Tod unsere Gemeinschaft mit Gott nicht aufheben kann. Und andererseits, dass wir nicht einzeln, sondern gemeinsam ans Ziel gelangen, wenn sich bei der Neuschöpfung von Himmel und Erde alle Wege treffen. Die Seelen, die Christus für sich gewonnen hat, lässt er sich nicht wieder nehmen. Und keiner von uns wird den Tag der Auferstehung verpassen. Wenn wir aber nicht ganz begreifen, wie sich die Übergänge gestalten, ändert das wenig. Denn die Vollendung des Einzelnen und die Vollendung der Welt gehören so oder so zusammen. Das eine wird nicht ohne das andere sein. Was aber „dazwischen“ liegt – wenn überhaupt von einem „dazwischen“ die Rede sein kann – muss uns nicht zu sehr beschäftigen. Denn wäre es notwendig, dass wir‘s im Einzelnen verstehen, stünde es mit klaren Worten im Neuen Testament. Stehen die Einzelheiten dort aber nicht, dann weil wir sie nicht kennen müssen. Bald genug erfahren wir es ja selbst. Denn das Reich Gottes ist nie weiter entfernt als unser irdisches Ende. Entweder kommt Christus zu uns, oder wir kommen zu ihm. Doch so oder so ist Gott nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden (Mt 22,32). Und wenn uns die Welt vergisst, ist unser Leben „verborgen mit Christus in Gott“ (Kol 3,3-4). Ja – ehe sich einer versieht, ist er ein schöner Engel! Und wenn er dann noch Fragen hat, kann er sie dem stellen, der darüber nicht nur mehr, sondern über alles alles weiß. 

 

 

Bild am Seitenanfang:

Der Flug zum Himmel (Ausschnitt von 'Vision vom Jenseits')

Hieronymus Bosch, Public domain, via Wikimedia Commons