Gottes Gericht am Ende der Zeit

Gottes Gericht am Ende der Zeit

Wer sich viel mit älteren Menschen unterhält, weiß, wie nachhaltig der Krieg diese Generation geprägt hat und wie häufig die Kriegszeit in den Mittelpunkt der Gespräche tritt. Einige denken ganz gern an diese Zeit, denken an ihre Jugend und wie sie es geschafft haben, mit Fleiß und Geschick durch die harte Zeit hindurchzukommen. Da verklärt sich manches im Abstand der vielen Jahre. Doch gibt es auch die anderen, denen es nie gelungen ist, von diesen Ereignissen Abstand zu gewinnen. Es gibt Kriegsteilnehmer, die Nacht für Nacht von Alpträumen heimgesucht werden und schweißgebadet erwachen, weil ihnen das Morden nicht aus dem Kopf geht, weil sie die Schreie verwundeter Kameraden immer noch hören, weil sie die eigene Todesangst und die Angst um die Familie nicht loswerden.

Freilich – diesen Menschen wird gesagt, sie sollten doch endlich die alten Geschichten vergessen. Und sie täten es wohl selbst gern. Aber wenn sie abends im Bett die Augen schließen, sind die Bilder wieder da: Brennende Häuser und sterbende Soldaten, endlose Flüchtlingstrecks und Leichen am Straßenrand. Diese Leute werden nicht gesprächig, wenn es um den Krieg geht, sondern schweigsam. Denn ihre Erfahrungen eignen sich nicht als Anekdoten für die Enkelkinder. Sie waren gewissermaßen Augenzeugen einer biblischen Tragödie. Sie haben erlebt, wie Kain den Abel erschlug. Ja, sie waren selbst Kain oder waren selbst Abel, waren Gewalttäter oder Gewaltopfer oder beides – und sie werden damit nicht fertig. Ihre Erfahrungen rauben ihnen den Schlaf, weil sie spüren, dass Krieg, Mord und Gewalt mehr sind als bloße Zwischenfälle im normalen Betrieb der Weltgeschichte. Sie spüren, dass durch Mord und Gewalt die ganze von Gott gewollte Weltordnung aus den Fugen gerät. Sie spüren, dass der Krieg nicht bloß ein kleiner Riss ist im Gebäude unserer Welt, sondern etwas grundstürzend Falsches, wobei man sich einfach nicht beruhigen kann, etwas, das auch durch tausendfache Wiederholung nicht normal und nicht akzeptabel wird. Es sind dies sensible Menschen, es sind verstörte Menschen – und sie sind gerade durch ihr Verstört-Sein dem christlichen Glauben sehr nahe. Denn ich meine, sie empfinden, was auch Gott empfindet. Die Sache mit Kain und Abel lässt nämlich auch Gott nicht ruhen. Auch er leidet daran, dass jener erste Totschlag eine tiefe Unordnung in die Welt gebracht hat. Etwas, was man nicht auf sich beruhen lassen kann und das auch nicht mal so eben „vergeben und vergessen“ werden darf.

Gewiss, Kain wäre es so am liebsten gewesen. Er hätte die Angelegenheit gern schnell vergessen. Es steht zwar nicht ausdrücklich in der Bibel, aber ich vermute, er hat die Leiche seines Bruders auf dem Acker verscharrt, gleich dort am Ort der Tat. Und er hat wohl gehofft, damit sei die ganze Angelegenheit begraben. Doch dummerweise kommt einer, der sich für die Gewaltopfer dieser Welt interessiert. Gott kommt und fragt Kain: „Wo ist dein Bruder Abel?“. Kain ist dreist genug, Gott zu belügen. Und so antwortet er: „Ich weiß nicht“. Und weil Angriff die beste Verteidigung ist, fügt er noch ein freches Wortspiel an: „Soll ich des Hirten Hirte sein? – Soll ich meines Bruders Hüter sein?“. Ja, so redete Kain damals und so reden Kains Söhne bis heute. Denn die Gewalttäter aller Zeiten folgen seinem Beispiel. Immer wieder kommt es zu Bruderkriegen. Und nicht selten werden die Opfer irgendwo in Massengräbern verscharrt. Man verlässt sich darauf, dass wortwörtlich Gras über die Sache wächst, dass die Überreste der Opfer nicht gefunden und ihre Namen vergessen werden. Überall auf der Welt verfolgen Kains Söhne dieselbe Strategie wie ihr Stammvater. Sie schüchtern Zeugen ein, verwischen Spuren und hoffen, dass kein Richter sie je belangt. Sie rechnen mit der Vergesslichkeit der Weltöffentlichkeit – und diese Rechnung geht oft auf.

Ist das nicht unerträglich? Ich denke, es müsste uns allen mehr als eine schlaflose Nacht bereiten, dass die Frechheit der Täter so oft das letzte Wort behält und die Tränen der Opfer so oft ungesühnt bleiben. Oder können sie sich daran gewöhnen, dass die Mörder und Vergewaltiger, die Kinderschänder und Folterer dieser Welt so oft ungeschoren davonkommen? Können sie sich daran gewöhnen, dass so viele Opfer nicht rehabilitiert werden und keine Gelegenheit haben, als Ankläger gegen die Täter aufzutreten? Mir jedenfalls gelingt es nicht, darüber zur Ruhe zu kommen. Und darum bin ich froh, dass es da einen gibt, der nicht vergesslich und nicht gleichgültig ist, einen Richter, der nicht getäuscht und nicht umgangen werden kann. Und das ist Gott. Denn so lesen wir es im biblischen Text: Abel selbst war mundtot gemacht und verscharrt. Aber das Blut Abels schrie zu Gott von der Erde. Dieses eindrückliche Bild vom vergossenen Blut, das zum Himmel schrie, verweist uns auf den Umstand, mit dem Kain nicht gerechnet hatte: Mag man auch Menschen täuschen können, so kann man doch nichts verbergen vor Gott. Kein Grab ist so tief, dass Gott die Ermordeten darin nicht fände. Keine Gefängnismauer ist so dick, dass Gott die Schreie der Gefangenen nicht hörte. Keine Nacht ist so dunkel, dass sie die Täter vor Gottes Auge verbergen könnte. Gott zählt jede Träne, die eine Mutter um ihre Kinder weint. Er zählt jeden Schlag, der einen Unschuldigen trifft. Und das ist gut so. Denn das Leid, das Menschen Menschen antun, schreit zum Himmel wie Abels Blut zum Himmel schrie. Gott hört dieses Schreien – und das ist gut. Denn wer immer der irdischen Gerechtigkeit entgeht, wird doch von der himmlischen eingeholt. Mag sich einer auch dem internationalen Gerichtshof in Den Haag entziehen können, so wird er doch am Ende vor Gottes Richterstuhl landen. Und das ist gut so. Denn ohne Sühne kommt diese Welt nie wieder ins Lot. Darum bin ich ein Freund und Fürsprecher des Jüngsten Gerichts – auch wenn das seltsam klingt. Ich sehne den Tag des Gerichtes herbei, wenn Gott Kain und Abel aus der Erde erweckt, wenn er alle Täter und alle Opfer einander gegenüberstellt und durch seinen Richterspruch beiden Seiten Gerechtigkeit widerfahren lässt. Ich freue mich auf diesen Tag, denn den Tätern darf die Konfrontation mit ihrer Schuld nicht erspart bleiben, und die Opfer müssen wiederhergestellt werden durch Gottes Hand. Erst dann werden sich die Wunden schließen, erst dann finden die ruhelosen Geister Ruhe und die letzten offenen Rechnungen werden geschlossen.

Freilich, ich weiß, dass mancher sich wundert über meine Freude am Jüngsten Gericht. Denn wo bleibt da die Gnade Gottes, wo bleibt die Vergebung und die Barmherzigkeit, von der Jesus sprach? Doch irritiert mich der Einwand nicht. Ich meine nämlich, dass Jesu Verkündigung von der Vergebungsbereitschaft Gottes immer den Horizont des Gerichtes hatte – und ihn auch unbedingt brauchte, weil sie anderenfalls zynisch wirken würde. Wäre Gottes Gnade nicht Gnade im Gericht, sondern Gnade ohne Gericht, so bliebe den Tätern die Konfrontation mit ihrer Schuld erspart. Vergebung hieße dann, dass die Leiden der Opfer ignoriert, großzügig übergangen und dem Vergessen preisgegeben würden – Jesu Botschaft von der Vergebung wäre ohne den Horizont des Gerichtes eine zynische Botschaft. Denn man bedenke: Das Evangelium, das wir zu verkündigen haben, stellt auch dem größten Sünder die Möglichkeit der Begnadigung in Aussicht. Gottes Gnade ist groß genug sogar für einen Adolf Hitler oder einen Josef Stalin. Niemand ist so schuldig, dass ihm nicht um Christi willen vergeben werden könnte, wenn er sich im Glauben nach dieser Vergebung ausstreckt. Doch was wäre das für eine Vergebung, wenn sie über die Opfer einfach hinwegginge? Was wäre das für ein Gott, der angesichts von Millionen ermordeter Juden bloß sagen würde „Schwamm drüber, ich vergebe den Tätern“? Es wäre kein barmherziger Gott, es wäre bloß ein zynischer, mit den Mördern kollaborierender Gott. Denn das ist ja das Kalkül so vieler Täter, dass ihre Opfer, die irgendwo verschwinden, vergessen werden. Die Täter verlassen sich auf die Vergesslichkeit der Weltgeschichte, sie verlassen sich auf das Schweigen eingeschüchterter Zeugen, sie verlassen sich darauf, dass kein Richter je ihre Taten ans Licht bringen wird. Und nun sollte gerade Gott dafür sorgen, dass ihre Rechnung aufgeht? Gerade er sollte durch eine schnelle himmlische Amnestie einen Federstrich durch die Leiden der Vergangenheit machen und damit erlittene Schmerzen bagatellisieren? Gott sollte einfach so Fünfe gerade sein lassen und sich damit auf die Seite der Täter und gegen die Opfer stellen?

Nein – weil das nicht sein kann, darum liegt mir Gottes Gericht am Herzen. Denn das heißt ja Gericht, dass den Opfern Recht widerfährt, dass die Toten als Ankläger aufstehen und dass die namenlosen Gequälten und Geschundenen Rehabilitation erfahren. Den Schuldigen aber darf das Geständnis ihrer Schuld nicht erspart bleiben, denn anderenfalls beruhte ihre Seligkeit nur auf der Verharmlosung der Not, die sie angerichtet haben. Der Gott, der ihnen leichtfertig vergäbe, demonstrierte damit, dass ihn das Leid der Unterdrückten nur oberflächlich berührt hat, seine Vergebung erschiene mehr als Ausdruck von Gleichgültigkeit denn von Liebe. Weil das aber nicht dem biblischen Zeugnis von Gott entspricht, darum bin ich ein Freund und Fürsprecher des Jüngsten Gerichtes. Und ich meine, wir sollten mehr davon reden und öfter daran denken, als wir es tun. Nicht um Menschen damit zu belasten und ihnen Angst zu machen, sondern um sie zu entlasten. Denn stellen sie sich einmal vor, es gäbe Gottes Gericht nicht – was wäre die Folge? Wir könnten nicht etwa aufatmen, sondern wir bekämen eine drückende Verantwortung aufgelegt. Denn dann müssten wir Menschen selbst versuchen, die aus den Fugen geratene Weltordnung wiederherzustellen. Der Mensch müsste selbst auf Gottes verwaisten Richterstuhl klettern. Denn gäbe es kein jenseitiges Gericht Gottes, so gäbe es auch keine Gerechtigkeit außer der, die Menschen selbst in dieser Weltgeschichte herstellen. Könnten wir uns nicht auf Gottes Gericht verlassen, trügen wir alle Verantwortung für die sittliche Weltordnung auf den eigenen Schultern. Wir müssten dann wohl oder übel die Exekutive in die Hand nehmen, müssten strafen, was zu strafen ist, und belohnen, was zu belohnen ist. Wir müssten mit dem Jüngsten Gericht schon zu Lebzeiten der Täter beginnen, weil ja zu fürchten wäre, dass die Toten nicht mehr belangt werden.

Was das aber für den Frieden in der Welt bedeutete, kann sich jeder ausmalen: Einer würde sich zum Richter des anderen aufschwingen, einer würde zum Racheengel und zum Henker des anderen. Und das Ergebnis wäre nicht Gerechtigkeit, sondern weiteres schreckliches Blutvergießen. Denn die Menschheit zerfällt in Täter und Opfer und solche, die beides sind – aber als Richter in letzter Instanz eignet sich keiner von uns. Sollten wir Gottes Rolle als Richter übernehmen, wären wir überfordert. Und auch darum ist es gut, dass wir ihm das Gericht überlassen können, wie es Paulus im Römerbrief empfiehlt: „Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«„ (Röm 12,19)

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Sodom and Gomorrha

Henry Ossawa Tanner, Public domain, via Wikimedia Commons