Christus - des Gesetzes Ende?
Wer seine Bibel gründlich liest, stellt bald fest, dass sie nicht nur zehn Gebote enthält, sondern sehr viel mehr. Gerade im Alten Testament stößt man auf Hunderte von Weisungen, von denen einige ziemlich rigoros und kaum praktikabel erscheinen. Und so fragt man sich, ob denn all diese Gebote auch noch für Christen der Gegenwart verbindlich sind – ob sie also weiterhin gelten, weil schließlich auch das Alte Testament Gottes Wort ist – oder ob sich da einige Regelungen erledigt und erübrigt haben. Man liest etwa, dass neugeborene Jungen am achten Tag zu beschneiden sind (1. Mose 17,10-14). Und man wird angewiesen, zu jedem Passahfest ein Lamm zu schlachten (2. Mose 12,1-28). Es ist geregelt, wie man hebräische Sklaven zu behandeln hat (2. Mose 21,2-11). Und über jeden, der seinen Vater oder seine Mutter schlägt, wird die Todesstrafe verhängt (2. Mose 21,15). Auch Zauberinnen soll man nicht am Leben lassen (2. Mose 22,17). Und ein Mann, der eine Jungfrau verführt, muss sie anschließend heiraten (2. Mose 22,15). Wenn man einem Angehörigen des eigenen Volkes Geld leiht, ist es verboten, dafür Zinsen zu nehmen (2. Mose 22,24). Und es gibt ausführliche Anweisungen, wie ein Priester sich zu kleiden hat – und wann er welche Opfer wie darbringen soll (2. Mose 28,1-43; 2. Mose 29ff.; 3. Mose 1ff.). Wir finden im Alten Testament lange Verzeichnisse reiner Tiere, die man essen darf, und unreiner Tiere, die man nicht essen darf. Schweinefleisch ist z.B. verboten, Ziegenfleisch erlaubt (3. Mose 11). Man soll ein Ziegenböcklein aber keinesfalls in der Milch seiner Mutter kochen (2. Mose 34,26). Und es ist strikt verboten, das Blut eines Tieres zu sich zu nehmen (3. Mose 17,10-14). Die Bibel regelt genau, unter welchen Voraussetzungen ein Aussätziger für geheilt erklärt werden kann (3. Mose 13-14). Sie untersagt aber den Geschlechtsverkehr unter Blutsverwandten, mit den eigenen Kindern oder Schwiegerkindern, den sexuellen Verkehr mit Tieren oder mit Frauen, die gerade ihre Regel haben, mit Angehörigen des gleichen Geschlechts oder mit der Schwester der eigenen Ehefrau (3. Mose 18,6-23). Darüber hinaus soll man seinen Nächsten nicht hassen, sondern lieben (3. Mose 19,18). Von Wahrsagerei und Geisterbeschwörung muss man sich fern halten (3. Mose 19,26-31). Und wo falsche Propheten jemand zu fremdem Glauben verführen, sind sie zu steinigen (5. Mose 13). Mittendrin finden wir aber die uns vertrauten Zehn Gebote, die es verbieten anderen Göttern zu huldigen, den Gottesnamen oder den Feiertag zu entheiligen, die Eltern schlecht zu behandeln, jemanden zu töten, die Ehe zu brechen, zu stehlen, zu lügen oder neidisch fremdes Gut zu begehren. Mancher Christ kann sich schon diese 10 Gebote nicht merken. Doch nach jüdischer Zählung enthält das Alten Testament 613 verbindliche Weisungen! Und so fragt man sich, welche einem Christen noch heute zur Befolgung auferlegt sind – und welche nicht. Es können schwerlich alle gelten, denn dann müsste die ganze Christenheit „koscher“ essen und die jüdischen Feiertage feiern. Es können sich aber auch nicht alle erledigt haben, denn dann wären zugleich die Zehn Gebote obsolet, die heute noch jeder Konfirmand auswendig lernt. Anscheinend sind manche Pflichten dauerhaft – und andere nicht. Welche aber der Vergangenheit angehören und welche ewig gültig bleiben: Woran machen wir das fest? Woran erkennt man das? Man darf nicht willkürlich verfahren, das versteht sich! Wir können uns aus Gottes Geboten nicht einfach die „herauspicken“, die uns in den Kram passen. Und wenn Gott darin seinen Willen kundgetan hat, spielt es auch keine Rolle, wie lange die Kundgabe her ist. Sondern entscheidend kann nur sein, ob Gott selbst seither etwas geändert hat. Denn nur er, der die Gebote gab, hat auch die Autorität, sie außer Kraft zu setzen. Nur Gott selbst kann auf den alten Bund einen neuen Bund folgen lassen, der dann evtl. neue Regeln einschließt. Welche das aber sind, ist allein dem Neuen Testament zu entnehmen, weil eine kritische Betrachtung der Hl. Schrift nur von der Schrift selbst ausgehen kann. Christen kennen keine Norm, die über Gottes Wort stünde, und keine Maßstäbe, die man von außen herangetragen dürfte. Man würde diese Maßstäbe sonst Gottes Wort überordnen! Darum kann nur vom Neue Testament her beurteilt werden, welche Teile des Alten Testaments für Christen verbindlich sind.
Was steht da aber? Was lesen wir? Keineswegs wird das Alte Testament im Neuen beiseite gewischt. Sondern man stellt fest, dass sich das Neue Testament sehr oft auf das Alte bezieht – und dass es ganz selbstverständlich aus den Mosebüchern und aus den Propheten zitiert. Das zeigt, dass die Autorität des Alten Testaments im Neuen nicht strittig ist. Und sie kann es auch gar nicht sein, weil ja der Vater Jesu Christi kein anderer ist als der Gott Israels. Der hat am Berg Sinai dem Mose seinen Willen kundgetan. Und Jesus will an diesen Satzungen nicht rütteln, sondern sagt: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich“ (Mt 5,17-19). Damit bekennt sich Jesus zu Gottes Geboten. Und in seiner Bergpredigt mildert er sie auch keineswegs ab, sondern gibt ihnen eine bestätigende und sogar verschärfende Auslegung. Als der reiche Jüngling fragt, wie man das ewige Leben erlangt, verweist ihn Jesus ganz selbstverständlich auf die Gebote des Alten Testaments (Mt 19,16-19). Der Mensch soll die Einheit mit seinem Schöpfer wahren, indem er sich den guten Willen Gottes zu Eigen macht. Und so lehrt Jesus seine Jünger, Gott anzurufen und zu beten „Dein Wille geschehe...“ (Mt 6,10). Wir finden nirgends einen Hinweis, dass Jesus sich vom Gesetz als solchem distanzieren wollte. An den scheinheiligen Pharisäern kritisiert er nur, dass sie es rein äußerlich befolgen, ohne mit dem Herzen dabei zu sein (Mt 23,1ff.).
Doch was heißt es dann, wenn wir bei Paulus lesen, Christus sei „des Gesetzes Ende“ (Röm 10,4)? Warum sagt der Apostel, durch den Glauben sei ein Christ nicht mehr „unter dem Gesetz“ (Gal 3,24-25)? Man kommt da leicht durcheinander. Denn wenn das Gesetz Gottes Wille ist, versteht man nicht, wie Gottes Sohn dazu in Gegensatz geraten könnte. Doch so hat es Paulus auch nicht gemeint. Denn die von Christus verkündete und in Christus erschienene Gnade hebt Gottes Gesetz nicht auf, sondern hebt nur die Verdammnis auf, mit der das Gesetz den Sünder bedroht. Das Gesetz selbst ist nicht verkehrt. Es bleibt jederzeit gut (Röm 7,12). Doch für den Sünder, der es übertritt, hat es schlimme Folgen. Als „Strafordnung“ wird ihm das Gesetz zum Stolperstein und zum Verhängnis. Und allein in diesem Sinne – als eine Ordnung, die den Sünder ins Verderben stürzt – findet das Gesetz an Christus sein Ende. Den schweren Fluch, der auf dem Sünder lastete, hat Christus am Kreuz stellvertretend getragen. Und wer um seinetwillen Gnade erfährt, muss darum die Drohung des Gesetz nicht mehr fürchten. Unter der Gnade kann er das Gesetz auch nicht mehr als Heilsweg missverstehen. Doch als Gottes gutes Gebot und als lebensdienliche Weisung steht es trotzdem in Geltung. Denn es war nie Jesu Absicht, den Willen Gottes aufzuheben, sondern ihn durchzusetzen. Darum gewinnt ein Mensch, wenn er durch Christus mit dem Vater versöhnt ist, auch wieder ein positives Verhältnis zu Gottes Weisungen. Der christliche Glaube will sie keineswegs „aufheben“ und verneinen, sondern „aufrichten“ und bejahen (Röm 3,31). Und so wird Gottes Gesetz in der Christenheit geehrt und gebraucht in dreifacher Weise:
1.
Zum ersten hat es eine „politische“ Funktion, denn es legitimiert jede öffentliche Ordnung, die das Gute fördert und das Böse hemmt. Das Gesetz (nach diesem „usus politicus“) hält die Unbekehrten in der Welt im Zaum und ist darum ein „RIEGEL“ (Röm 13,1-7; 1. Tim 1,9-10).
2.
Zum zweiten hat das Gesetz eine geistlich „überführende“ Funktion, weil es dem Sünder seine Sünde immer wieder bewusst macht und ihn so zu Christus treibt. Das Gesetz (nach diesem „usus elenchticus“) ist also ein „SPIEGEL“, in dem wir unser Elend erkennen (Gal 3,24-25; Röm 3,20; 7,7).
3.
Und zum dritten gibt das Gesetz den Christen ethische Orientierung. Es leitet unser Handeln, während wir uns um ein gottgefälliges, geheiligtes Leben bemühen. Das Gesetz (nach diesem „usus didacticus“) belehrt uns darüber, was wahrhaft gute Werke sind, und ist insofern eine „REGEL“ (1. Thess 4,1-7; Ps 119,105).
Somit ist klar, dass Jesu Evangelium das Gesetz keineswegs aufhebt, sondern es voraussetzt und bestätigt. Und man kann das Evangelium gar nicht schlimmer missverstehen, als wenn man meint, es „widerrufe“ das Gesetz in dem Sinne, wie man einen Irrtum widerruft oder ein Gerücht dementiert. Denn das Evangelium verkündet Gnade. Und begnadigen kann man keinen Unschuldigen (der hat Anspruch darauf, freigesprochen zu werden!), sondern begnadigen kann man nur jemand, der sich wirklich an geltender Ordnung vergangen hat. Generell besteht Vergebung nicht darin, dass der Regelverstoß bestritten, sondern dass er vom Täter eingestanden und vom Opfer verziehen wird! Gnade ist überhaupt nur nötig, weil Gottes Gesetz gilt – ohne Gesetz bräuchte man sie nicht! Und so empfängt ein Christ auch nicht Vergebung, damit er hinterher auf den Willen Gottes pfeifen und weiter sündigen kann, sondern damit er sich den Weisungen Gottes künftig umso williger, einsichtiger und freudiger beugt. Gottes Sohn will die Gebote des Vaters nicht aufheben, sondern auf diese schöne Weise durchsetzen. Und wer das versteht, wird umso dringlicher fragen, was in der durch Christus veränderten Lage vom mosaischen Gesetz noch gilt – und was nicht. Dabei sind vier Kategorien zu unterscheiden, von denen die ersten drei einen Christen nichts mehr angehen, die vierte aber umso mehr:
Die erste Kategorie kann man als „Zeremonial- und Ritualgesetz“ bezeichnen, weil darin alles eingeschlossen ist, was mit dem Gottesdienst und dem Opferdienst im Jerusalemer Tempel zu tun hat, mit dem Berufsstand der Priester, den jahreszeitlichen Festen Israels und den „Sakramenten“ des Alten Bundes. Für Christen sind diese kultischen Bestimmungen nicht bloß deshalb obsolet, weil es den Tempel nicht mehr gibt, sondern vor allem, weil sich der Gottesdienst dort auf die täglichen Tier- und Speiseopfer konzentriert hat. Diese Opfer dienten letztlich alle der Versöhnung des Volkes mit Gott. Sie sollten das gestörte Gottesverhältnis heilen und den durch Sünde immer neu entstehenden Konflikt immer neu befrieden. Doch eben darum – weil das ihre Funktion war –, hat sie das Opfer, das Christus am Kreuz brachte, sowohl überboten als auch überflüssig gemacht. Wir finden in christlichen Kirchen zwar noch einen Altar. Doch wird auf diesem „Opfertisch“ nichts mehr geopfert, sondern es wird dort im Zeichen des Kreuzes des Opfers Christi gedacht. Wie der Hebräerbrief sagt, hat sich Christus als unser Hohepriester selbst geopfert und hat mit diesem einen Opfer alle vollendet, die geheiligt werden (Hebr 9,1-10,18). Das geschah bei der Kreuzigung ein- für allemal und bedarf seither keiner Ergänzung mehr – eine Wiederholung ist überflüssig, eine Steigerung gar nicht denkbar. Und so entfallen im Christentum mit dem Opferdienst auch alle darauf bezogenen kultischen Vorschriften und gottesdienstlichen Bräuche. An die Stelle der Beschneidung ist im Christentum die Taufe getreten. An die Stelle des Passahfestes trat das Heilige Abendmahl. Und statt des Sabbats feiern Christen den Sonntag als den Tag der Auferstehung Christi. So hat der Neue Bund neue, ihm eigene Sakramente und Feiertage. Und wir widersprächen der durch Christus veränderten Situation, wenn wir jetzt noch am alten Zeremonialgesetz festhalten wollten (vgl. Kol 2,16ff.; Gal 5,1-6).
Eine zweite Gruppe von Gesetzen bilden die vielen „Reinheits- und Speisegebote“ des Alten Testaments. Und auch die dürfen wir als überholt ansehen, weil Christus seine Jünger einen anderen, nicht äußerlichen, sondern innerlichen Begriff von Reinheit gelehrt hat. Im Alten Bund galt als unrein, wer mit einem Leichnam oder mit Aas in Berührung kam, wer einen körperlichen Ausfluss hatte, wer mit Heiden Kontakt pflegte, wer etwas Unreines gegessen hatte oder unter Hautkrankheiten litt. Jesus aber sagt: „Was zum Mund hineingeht, das macht den Menschen nicht unrein; sondern was aus dem Mund herauskommt, das macht den Menschen unrein (...). Merkt ihr nicht, dass alles, was zum Mund hineingeht, das geht in den Bauch und wird danach in die Grube ausgeleert? Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen, und das macht den Menschen unrein. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung. Das sind die Dinge, die den Menschen unrein machen. Aber mit ungewaschenen Händen essen macht den Menschen nicht unrein“ (Mt 15,11.17-20). Christen, die im Judentum aufgewachsen waren, hatten mit dieser Sicht der Dinge oft Probleme. Und das Neue Testament berichtet von Konflikten, die entstanden, weil einige noch fürchteten, sich durch bestimmte Speisen oder durch den Umgang mit Heiden zu verunreinigen (Apg 15,1-29; Gal 2,11-14; 1. Kor 10,23-33). Doch am Ende setzte sich durch, was Jesus seine Jünger gelehrt hatte: Nicht das, was der Mensch isst oder mit den Händen berührt, macht ihm unrein, sondern das Unreine, das aus seinem Herzen hervorgeht. Reinheit ist kein leiblicher, sondern ein geistlicher Zustand. Und so kann ein Christ durchaus Blutwurst und Schweineschnitzel essen, kann auch unbesorgt einen Leichnam berühren und mit Ungläubigen Kontakt haben, wenn er dabei „reinen Herzens“ bleibt. Denn den Reinen ist tatsächlich alles rein (vgl. Mt 5,8; Tit 1,15). Und die Vorschriften diesbezüglich sind hinfällig. Denn Jesus ist zwar daran gelegen, seine Jünger „reinzuwaschen“ und rein zu machen. Doch bewerkstelligt er das heute auf ganz andere Weise durch den Heiligen Geist (vgl. Joh 13,8-11; 15,3; 1. Kor 6,11; Tit 2,14; 1. Joh 1,9).
Als dritte Gruppe der Gesetze sind die „bürgerlichen Rechtssatzungen“ zu nennen, nämlich Vorschriften der öffentlichen Ordnung, die ihrer Natur nach mehr zum „weltlichen Regiment“ gehören, zum Gerichtswesen und aufs Rathaus. Denn die rechtlichen und finanziellen Fragen (wie z.B. jemand für einen verunfallten Esel zu entschädigen ist, wie es um das Erbrecht der Töchter steht, wie man den Verkauf eines Hauses rückgängig machen kann und was bei Veruntreuung das angemessene Strafmaß ist) müssen zwar in jedem Gemeinwesen geklärt werden. Doch deutet Jesus nirgends an, dass die in Israel geltenden Ordnungen auf alle anderen Völker übertragen werden müssten. Er ist durchaus der Meinung, dass man dem Kaiser geben soll, was des Kaisers ist (Mt 22,21; vgl. Joh 18,36). Aber schon als zwei Brüder ihn bitten, in ihrem Streit um das Erbe der Richter zu sein, weist Jesus das von sich (Lk 12,13-15). An Ordnungen der Rechtspflege ist ihm viel weniger gelegen als an der geistlichen Ordnung Gott gegenüber. Und ganz allgemein interessiert ihn nicht das partikular Gültige, das den Juden zum Juden macht, sondern das universal Gültige, das den Menschen menschlich macht.
Eben das findet Jesus aber konzentriert in der vierten Kategorie, die man das „Moral- oder Sittengesetz“ nennen kann. Das ist der Kern des mosaischen Gesetzes, den Jesus nicht aufheben, sondern erfüllen, nicht relativieren, sondern einschärfen will. Und so bestätigt er die Geltung der Zehn Gebote, die bestimmen, wie Gottes Geschöpfe miteinander und mit ihrem Schöpfer in guter Gemeinschaft stehen sollen. Wer Jesu Jünger sein will, muss der Gottesbeziehung Vorrang einräumen vor allem anderen. Denn niemand kann zwei Herren dienen (1. Gebot / Mt 6,24). Und als Jünger Jesu soll man auch täglich darum bitten, dass der Name Gottes geheiligt werde (2. Gebot / Mt 6,9). Bei aller Kritik an missverstandenen Sabbat-Regeln ist es doch Jesu feste Gewohnheit, den Feiertag zu heiligen durch den Besuch eines Gottesdienstes (3. Gebot / Lk 4,16). Und das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, verteidigt er gegen alle, die es scheinheilig umgehen möchten (4. Gebot / Mk 7,9-13). Das Gebot, nicht zu töten, bestätigt und verschärft er, indem er schon das Zürnen mit hinzurechnet (5. Gebot / Mt 5,21-26). Und er missbilligt nicht allein das Rauben und Stehlen, sondern schon den törichten Wunsch, sich materielle Schätze zu sammeln auf Erden (6. Gebot / Mk 10,19; Mt 6,19-21). Als „Ehebruch“ wertet Jesus nicht erst den leiblichen Vollzug, sondern schon das begehrliche Ansehen einer Frau (7. Gebot / Mt 5,27-32). Das wahrhaftige Reden soll seinen Jüngern so selbstverständlich sein, dass es keines Schwures bedarf, sondern ein „ja“ oder „nein“ vollkommen genügt (8. Gebot / Mt 5,33-37). Und statt einem anderen zu neiden, was er hat, sollen Jesus Jüngern bereit sein, um Gottes und des Nächsten willen Besitzstände abzugeben (9. u. 10. Gebot / Mk 10,28-30; Mt 10,38-39).
So lässt Jesu Verkündigung keinen Zweifel daran, welcher Teil des mosaischen Gesetzes auch im Neuen Bund seine Geltung behält. Es ist nicht das Zeremonialgesetz, denn Jesu Opfer am Kreuz macht jedes weitere Opfer überflüssig. Es sind nicht die Reinheits- und Speisegesetze, denn unrein macht nicht, was in den Körper hineingeht, sondern was aus dem Herzen herauskommt. Und maßgeblich ist auch nicht das bürgerliche Recht als „Strafgesetzbuch Israels“. Sondern entscheidend ist jenes Moral- und Sittengesetz, das Jesus als ewig gültig bestätigt, weil es der gute Wille des Ewigen ist. Der Schöpfer will, dass seine Geschöpfe weder ihm noch einander Liebe und Respekt schuldig bleiben. Und dieser Anspruch Gottes auf unser Leben wird niemals obsolet. Denn schließlich will uns Jesu Evangelium nicht zur Sünde befreien, sondern von der Sünde befreien. Wohl rettet er uns aus dem Verhängnis, zu dem das Gesetz durch unsre Schuld geworden ist. Doch als Gerettete, Erlöste und mit Gott Versöhnte will er uns in den Konsens mit dem himmlischen Vater zurückführen. Unser Fazit hat darum zwei Seiten: Einerseits muss ein Mensch, um Christ zu sein, nicht erst Jude werden. Er muss sich nicht mit Beschneidung, Festkalender und Speisegeboten in den alten Bund eingliedern. Denn mit Christus hat ein neuer Bund begonnen, zu dem wir direkten Zugang haben, ohne erst jene Vorstufe zu durchlaufen. Andererseits kann aber, wer zum Neuen Bund und zu Christus gehören will, das Moral- und Sittengesetz nicht ignorieren, das der Schöpfer nicht speziell den Juden, sondern allen Menschen gegeben hat. Denn dass man sich des Viehs erbarmen soll und Witwen und Waisen nicht bedrücken darf, dass man seine Zunge vor bösem Geschwätz hüten und dafür Weisheit und Gottesfurcht suchen soll (Spr 12,10; 2. Mose 22,21; Ps 34,14; Spr 3,1ff.) – das fordert Gott nicht bloß vom Volk des Alten Bundes oder für gewisse Zeit, sondern fordert es von jedem Volk zu jeder Zeit. Was Gott bei den Juden ein „Gräuel“ ist, kann ihm bei Griechen und Römern kaum gefallen (3. Mose 18). Was ihm zuwider ist in Jerusalem, wird er auch nicht tolerieren, wenn’s in Las Vegas oder Paris geschieht. Und was Gott damals am Sinai verfluchte, wird er heute schwerlich segnen (5. Mose 27,11-26). Denn Gottes Weisungen sind immer auch Selbstkundgabe – seine Gebote offenbaren, was Gott liebt und was er hasst. Und da der Ewige in seinem Urteil weder schwankt noch irrt, ist zu unterstellen, dass alles verbindlich bleibt, was Gott nicht selbst durch sein Handeln in Christus überholt hat. Nur das neue Wort Gottes kann gegen sein altes Wort ins Feld geführt werden – nicht etwa der „Geschmack“ unserer Zeit! Und so ist der Nachweis, dass ein Gebot des Alten Testaments dem Christen nicht gelte, aus keiner anderen Quelle zu erbringen als aus dem Neuen Testament. Dort finden wir, dass ein Christ zur Versöhnung mit Gott keines kultischen Opfers bedarf und um seiner Reinheit willen keine Speisegebote befolgen muss. Es ist auch ersichtlich, dass ein Christ in Fragen des weltlichen Rechts getrost der öffentlichen Ordnung seines eigenen Landes folgen darf (Paulus nimmt z.B. römisches Recht in Anspruch, Apg 25,9-12). Doch bei den ethisch-religiösen Pflichten im engeren Sinne, wo es um die persönliche Beziehung zu Gott und zu den Mitmenschen geht, dort wo Wahrhaftigkeit und Glaubenstreue, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit auf dem Spiel stehen – da hat Gottes Sohn die Gebote seines Vaters nicht „gelockert“, sondern ausdrücklich bestätigt. Darum kann als Faustregel nur gelten, dass nicht etwa das Befolgen einer alttestamentlichen Weisung der Begründung bedarf, sondern das Abweichen von ihr (1). Und dass solches Abweichen nur dort zureichend begründet ist, wo man sich auf Christus und sein Evangelium berufen kann (2). Denn wovon er uns nicht befreit, davon sind wir nicht befreit.
Bild am Seitenanfang: Christ in the Synagogue
Nikolai Nikolajewitsch Ge, Public domain, via Wikimedia Commons