Gotteswort und Menschenwort

Gotteswort und Menschenwort

Es soll hier um die Frage gehen, ob die Bibel „Gottes Wort“ ist oder „Menschenwort“. Ich gebe aber gleich zu, dass dies für Christen eine seltsame Frage ist. Denn wenn Gott nicht durch die Bibel redete, gäbe es gar keine Christen – und auch keine Kirche. Die ist nämlich eine Gemeinschaft von Gläubigen, deren Glaube aus der Predigt kommt (Röm 10,17). Die Predigt aber kommt von Christus her, der nicht nur Gottes Wort verkündigte, sondern selbst Gottes Wort war – und von dem wir ohne die Bibel gar nichts wüssten. Es ist ein und dasselbe Wort Gottes, das in Christus Mensch wurde, das dann durch das Zeugnis der Apostel zum Buch wurde – und heute nur aufgrund dieses Buches verkündigt und gehört werden kann. Als Christ der Gegenwart hat man gar keinen anderen Zugang zu Jesus Christus als durch das Neue Testament! Darum schätzen wir es als das Wort Gottes, „welches auf den Antrieb des heiligen Geistes von den Propheten und Aposteln niedergeschrieben ist und uns von dem Wesen und dem Willen Gottes unterweist“ (L. Hutter). Freilich: An dem Umstand, dass bei der Entstehung der neutestamentlichen Texte menschliche Schriftstellerei beteiligt war, entzünden sich heute Fragen und Zweifel. Denn gewöhnlich ist das, was ein Mensch niederschreibt, das Produkt seines eigenen Geistes – und hat demzufolge auch keine höhere Autorität, als der menschliche Verfasser, der sich irren kann. Wie ist das also? Ist die Bibel das in Gänze vom Heiligen Geist inspirierte Gotteswort – oder in Gänze das Werk menschlicher Autoren? Ist sie teils das eine und teils das andere? Oder kann sie ohne Widerspruch beides zugleich sein? 

 

MAULWURF UND GAZELLE 

Das Problem entsteht dadurch, dass ein und dasselbe Bibelbuch als „Menschenwort“ und zugleich als „Gotteswort“ bezeichnet wird – was zumindest widersprüchlich klingt. Denn eine Frucht, die vor mir liegt, kann ein Apfel oder eine Banane sein – sie kann aber nicht beides sein, weil der Begriff der „Banane“ Merkmale einschließt, die bei einem Apfel nicht gegeben sind. Und nenne ich einen Maulwurf „Maulwurf“, so habe ich damit bestritten, dass dieses Tier eine „Gazelle“ sei. Der Satz vom Widerspruch besagt, dass zwei einander widersprechende Aussagen nicht zugleich wahr sein können. Sind also „Menschenwort“ und „Gotteswort“ solche Begriffe, von denen einer die Bestreitung des anderen einschließt? Sind sie bei gleichzeitiger Anwendung auf den Gegenstand „Bibel“ unvereinbar? In dem Maße, wie man die „irdische“ Herkunft der Bibel nachweist, wäre dann eine „himmlische“ Herkunft ausgeschlossen – und umgekehrt. Man müsste sich für eine Seite entscheiden. Und natürlich hat man das schon versucht. 

 

(A) 

Die erste Möglichkeit besteht darin, in der Bibel nur das Menschwort zu sehen. Und das legte sich nahe, als man im Zuge der Aufklärung immer mehr über die Entstehungsgeschichte der biblischen Bücher erfuhr, die ja durchaus nicht fertig vom Himmel fielen, sondern (genau wie andere literarische Produkte der Antike) viele Stationen der Sammlung und Bearbeitung, Korrektur und Ergänzung durchliefen. Wer sich damit beschäftigt, kann nicht übersehen, dass die Autoren den jeweiligen Schriften ihren ganz persönlichen Stempel aufgedrückt haben. Denn der Evangelist Markus schreibt einen ganz anderen Stil als Johannes. Johannes setzt inhaltlich andere Akzente als Lukas. Lukas wendet sich an einen anderen Leserkreis als Matthäus. Und Matthäus hat einen anderen Wortschatz als Paulus. Die Persönlichkeit der Autoren findet ihren Niederschlag in den von ihnen verfassten Werken. Und manch einer folgert, das Ergebnis ihrer Schriftstellerei sei also nicht „Gotteswort“ sondern nur „Menschenwort“.

Nun kann man die Texte auch unter dieser Voraussetzung hoch schätzen und in ihnen einen lesenswerten Ausdruck religiösen Empfindens und religiöser Erfahrung sehen. Doch ist das Neue Testament dann nicht Gottes Wort an den Menschen, sondern menschliches Wort über Gott. Und es verdient dann auch nur das bedingte Vertrauen, das Menschen verdienen. Denn wenn nicht Gott durch sie redet, dann sind Paulus, Johannes und Petrus „auch nur Theologen“ – und das Neue Testament ist lediglich ein Spiegelbild ihrer Ansichten. Wer aber wollte auf die „Ansichten“ fehlbarer Menschen sein Leben gründen und sich im Tod mit ihnen trösten? Ist die Bibel nur menschliches Wort, so enthält sie keine Zusagen, die Gott binden könnten, und ihre Autorität ist so begrenzt wie der Horizont der Verfasser. Es gibt dann gar kein Wort Gottes. Gott hat dann nicht geredet! Wenn Gott aber nicht geredet hat – wer kann ihn dann kennen oder ihm vertrauen? Nur Gott selbst kann wissen, was wirklich in Gott vorgeht (1. Kor 2,11)! Wenn er sich aber nicht mitteilt, bleibt Gott verborgen, die Theologen stochern im Nebel und Glaube wird unmöglich... 

 

(B) 

Fromme Männer, die das erkannten, haben daraufhin versucht, den Knoten anders zu lösen. Denn es gibt ja auch die entgegengesetzte Möglichkeit, die Bibel strikt als Gotteswort zu verstehen und die menschliche Mitwirkung so gering wie möglich zu veranschlagen. Sie lehrten also, die Heilige Schrift sei den Autoren auf übernatürliche Weise eingegeben worden, so dass der Heilige Geist ihnen zur Niederschrift nicht allein den Impuls verlieh (impulsus ad scribendum), sondern ihnen auch den niederzuschreibenden Inhalt (suggestio rerum) und die zu gebrauchenden Worte eingab (suggestio verborum). Man nahm an, die Inspiration sei „eine Handlung, durch die Gott nicht nur die gegenstandsgemäße Abfassung aller zu beschreibenden Sachen, sondern auch die Abfassung der Wörter und Ausdrücke auf übernatürliche Weise dem Intellekt der Schreiber mitteilte und ihren Willen zum Akt des Schreibens aufreizte“ (W. Baier). Die neutestamentlichen Autoren sind nur insofern am Zustandekommen ihrer Werke beteiligt, als sie treulich notieren, was der Heilige Geist ihnen in die Feder diktiert. Der Urheber ihrer Schriften ist aber Gott selbst, dem die Evangelisten und Apostel nur als „Sekretäre“ dienen. Und niemand muss fürchten, dass dabei Fehler unterlaufen wären, denn die Verschriftlichung des Gotteswortes stand lückenlos unter der Kontrolle des Heiligen Geistes. 

Nun klingt diese „Inspirationslehre“ erst einmal einleuchtend. Denn wenn Gott seinen Sohn in den Tod gibt, um die Sünder zu retten (und dies nur gelingen kann, wenn sie auch davon erfahren), dann ist zu erwarten, dass der Allmächtige den Prozess der Übermittlung nicht dem Zufall überlässt, sondern ihn steuert. Das Werk Christi kommt nicht anders zum Ziel als durch das Zeugnis von diesem Werk und die darauf basierende Verkündigung. Also ist anzunehmen, dass Gottes Geist die Verschriftlichung des Evangeliums sorgsam begleitet hat und nicht zuließ, dass ihm Menschen dabei ins Handwerk pfuschen. Die Inspirationslehre will diesem berechtigten Vertrauen Ausdruck verleihen – schießt aber sichtlich über das Ziel hinaus. Denn faktisch hebt sie die neutestamentlichen Schriften so aus dem geschichtlichen Zusammenhang heraus, als wären sie gar nicht ein Niederschlag des vorangegangenen Wirkens Jesu, sondern ein „Diktat von oben“, das dieser Vorgeschichte im Grunde nicht bedürfte. Was Lukas, Johannes und Matthäus gehört, erlebt und geglaubt haben, wird durch die Inspirationslehre irrelevant. Denn an die Stelle ihrer persönlichen Erfahrung tritt im entscheidenden Moment der Heilige Geist, der den Geist der Autoren nicht etwa nutzt, sondern beiseite schiebt und durch sein Diktat ersetzt. Statt von der Offenbarung Gottes in Christus zu zeugen, werden die Schriften selbst zu einer weiteren „übernatürlichen Offenbarung“. Und da sie trotzdem wie Menschenwort klingen, kommt man zu der absurden Konsequenz, dass der Heilige Geist bei seinem Diktat einmal den persönlichen Stil des Markus nachgeahmt haben müsste, einmal den Satzbau des Johannes – und dann wieder die Ausdrucksweise des Paulus! Das Neue Testament würde nur den Anschein erwecken, dass sich hier Menschen anderen Menschen mitteilen. In Wahrheit resultierte es gar nicht aus dem Traditionsfluss, der von Christus ausging, sondern unterbräche ihn. Und so etwas ist nicht Gottes Art. Wenn der Allmächtige in geschichtliche Zusammenhänge hinein wirken will, hat er es nicht nötig diese Zusammenhänge zu zerreißen. Und zudem widerspricht es dem Selbstverständnis der neutestamentlichen Autoren, die sich für ihre Texte ja nicht auf „höhere Eingebungen“ berufen, sondern auf das Zeugnis Jesu Christi, das in der Regel auf dem ganz normalen Wege des Hörens, Fragens und Weitersagens zu ihnen gelangt ist. Diesen natürlichen Lauf der Dinge zu bestreiten, ist kein geeignetes Mittel, um die Autorität der Schrift zu sichern. Und sie hat das auch gar nicht nötig. Denn für die Autorität der Schrift ist zwar wichtig, dass ihre Botschaft von Gott kommt, nicht aber, dass sie unter Umgehung menschlicher Mittel von Gott kommt!

 

DIE GELB-BLAU-BUNTE KISTE 

Wir haben damit zwei untaugliche Versuche kennengelernt, entweder das Menschenwort gegen das Gotteswort auszuspielen – oder das Gotteswort gegen das Menschenwort. Wenn die Bibel aber anscheinend beides ist: widerspricht sich das dann? Ein dritter Weg, die Lage zu klären, besteht darin, an beiden Aussagen festzuhalten, dabei aber ihren Geltungsbereich einzuschränken und offen zu legen, inwiefern die Bibel „teils dies“ und „teils das“ sei. Denn es ist zwar widersprüchlich, wenn jemand behauptet, eine Kiste sei in Gänze blau – und sie sei zugleich in Gänze gelb. Es widerspricht sich aber nicht, wenn er sagt, die Kiste sei von innen blau und nur von außen gelb – oder sie sei auf der Vorderseite blau und nur auf der Rückseite gelb. Ganz entsprechend kann ein historischer Roman viele geschichtliche Fakten enthalten – und kann dieses Gerüst doch zusätzlich mit den fiktiven Erlebnissen fiktiver Personen anreichern. Wenn dann jemand erklärt, der Roman sei hinsichtlich der Ortsangaben und der Chronologie „historisch genau“, hinsichtlich des Romanhelden und seines Schicksals aber „frei erfunden“, entsteht kein Widerspruch, weil die Reichweite des ersten Urteils und die des zweiten Urteils deutlich abgegrenzt werden. Könnte also die Aufgabe der Theologie darin bestehen, mit der Bibel genauso zu verfahren, das Menschenwort darin vom Gotteswort zu trennen, jeden Bibelvers einer Seite zuzuordnen und nach dem Aschenputtel-Prinzip „die Guten ins Töpfchen“ und „die Schlechten ins Kröpfchen“ zu sortieren? Die Bibel wäre dann teils „menschlich“ und teils „göttlich“. Und die Kunst der Auslegung bestünde darin, zwischen beidem die Grenze zu ziehen! 

Tatsächlich sind entsprechende Versuche in der Theologiegeschichte immer wieder unternommen worden. Man unterschied den allzu einfältigen Wortlaut der Bibel von einem dahinter liegenden „allegorischen Sinn“, den erst die gelehrte Interpretation erschließt. Oder man überlies es dem päpstlichen Lehramt, aus der angeblich „dunklen“ Schrift jene Glaubenssätze auszuwählen, die den Laien verständlich und zuträglich sind. Man sonderte die bloß „zeitbedingten“ Aussagen der Schrift von den „ewigen Wahrheiten“ oder man unterschied die entbehrliche „Schale“ des buchstäblich Gesagten von dem unentbehrlichen „Kern“ des eigentlich Gemeinten. Man wollte die überholte Ausdrucksweise vom noch aktuellen Inhalt trennen, das Unwesentliche vom Wesentlichen, die späte, dogmatische Übermalung vom ursprünglichen Evangelium oder auch das biblische Bild Christi vom historischen Jesus (der angeblich ganz anders war). Mit großer Kunst trennte man „Legendarisches“ und „Redaktionelles“ vom „Echten“ und separierte das „mythologische Weltbild“ vom darin transportierten „Kerygma“. Als sich das Weltbild braun färbte, wollte man alles jüdische Gedankengut eliminieren. Und als der Zeitgeist Richtung und Farbe gewechselt hatte, fand man wieder andere Teile der Schrift „nicht zeitgemäß“. Die neueste Sprachregelung lautet nun aber, Gottes Wort sei keinesfalls mit der Bibel gleichzusetzen, sondern es sei nur (irgendwo und irgendwie) darin „enthalten“. Bei dieser Unterscheidung fragt sich der Laie natürlich, wo Gottes Wort geblieben sein mag, wenn’s in seiner Bibel nicht „da steht“ – und dennoch „drin enthalten“ sein soll. Vielleicht versucht er vergeblich, es „zwischen den Zeilen“ seiner Bibel zu lesen, und ärgert sich. Denn wenn jene These stimmt, hat Gott anscheinend die nahrhaften Brocken seines Wortes unter einem Berg wertloser Sägespäne versteckt, um den Leser zum Narren zu halten! Die Gelehrten hingegen lächeln – und bieten sich als theologische Trüffelschweine an, denn nur sie können dem Laien zeigen, wo die schmackhaften Knollen im Boden liegen! Mit geübter Hand prüfen sie alles und verwerfen das Sperrige, um dann mit dem gefälligen Rest hausieren zu gehen. Sie fahren mit dem Seziermesser kreuz und quer durch die Bibel und entfernen „unnötigen Ballast“, legen aber den Maßstab ihrer Auswahl selten offen. Denn das ist der methodische Schwachpunkt aller derartigen Unterscheidungskunst: Damit einer wirklich beurteilen könnte, was in den Schrift „menschlich“ und was darin „göttlich“ ist, müsste er Gott schon „von anderswo her“ kennen. Doch woher sollte er Gott kennen, wenn nicht aus der Heiligen Schrift, die er gerade zu prüfen gedenkt? Ein Ausleger, der hier urteilen könnte, weil er aus anderer Quelle ein Vorwissen von Gott besitzt, bräuchte gar keine Bibel mehr – er wüsste ja schon mehr als sie! Hat der Ausleger aber kein derartiges „Vorwissen“ und urteilt dennoch über die Bibel, so tut er‘s offenbar im Namen einer Autorität, die er der Bibel überordnet. Im Zweifelsfall wird es wohl seine eigene Vernunft sein! Macht die ihn aber in göttlichen Dingen derart klug, dass er „Überholtes“ und „Ewiggültiges“ in der Schrift zu unterscheiden vermag – warum befasst er sich dann überhaupt noch mit der Bibel? Anscheinend weiß er  ja schon mehr von Gott, als Gott durch sein Wort von sich hat wissen lassen! Sollte er aber nicht mehr wissen, als die Bibel ihn lehren kann – warum sitzt er dann nicht als bescheidener Schüler zu ihren Füßen, sondern gebärdet sich als fachkundiger Richter, der diese Schriftaussage lobt und jene verwirft? A. Hoenecke brachte es auf den Punkt als er schrieb:

„Wenn … in der Schrift Gottes Wort nur enthalten sein soll, wenn es aus der Schrift wie der Weizen aus der Spreu herauszusieben ist, so müsste uns von Gott in einer unmittelbaren zweiten Offenbarung, welche zur Offenbarung der Schrift hinzukäme, ein Maßstab gegeben sein, nach welchem wir das, was Wort Gottes in der Schrift wäre, von dem, was es nicht wäre, zu scheiden hätten; denn die Vernunft kann der Maßstab nicht sein. Sollte es die Vernunft wirklich sein, so stände die Schrift unter der Vernunft und wir bedürften einer besonderen Offenbarung, wie sie in der Schrift gegeben, überhaupt nicht. Bedürfen wir aber einer Offenbarung, weil die Vernunft die zur Seligkeit nötige Erkenntnis nicht aus sich selbst schöpfen kann, so kann auch die Vernunft nicht Richterin sein darüber, was Gottes Wort sei oder nicht.“ (Dogmatik, Band 1, S. 333) 

Anders gesagt: Die so beliebten Versuche, Göttliches und Menschliches in der Schrift zu trennen, leiden allesamt an dem methodischen Fehler, dass sie weltanschauliche Vorurteile der Ausleger von außen an die Schrift herantragen und sie zum Maßstab dessen erheben, was die Schrift noch mit Autorität sagen darf – und was demgegenüber als „überholt“ aus der Verkündigung auszuscheiden ist. Man nutzt ein wenig transparentes Verfahren, um sich unliebsame Aussagen der Schrift vom Halse zu schaffen. Doch führt dieser Weg in die Irre. Denn eine legitime Kritik an der Hl. Schrift kann es nur im Namen der Hl. Schrift geben – so nämlich, dass Jesus Christus als deren klare Mitte identifiziert, und alles eventuell Unklare entschlossen auf ihn bezogen wird. Christus allein darf als kritischer Maßstab herangezogen werden. Er aber ist kein sachfremder Maßstab, den man von außen heranträgt, sondern einer, den man der Schrift selbst entnimmt. 

 

DIMENSIONEN EINER SKULPTUR 

Wir haben nun schon drei untaugliche Versuche unternommen, Gotteswort und Menschenwort in Beziehung zu setzen. Doch gibt es noch ein viertes Denkmodell, das ich für richtig halte. Denn unterschiedliche Bestimmungen, die man auf denselben Gegenstand anwendet, treten nicht zueinander in Konkurrenz, wenn sie erkennbar auf verschiedenen Ebenen liegen. So kann man eine antike Skulptur unter physikalischem Aspekt als „Marmor“ beschreiben, unter kunstgeschichtlichem Aspekt als „Meilenstein“, unter finanziellem Aspekt als „Wertgegenstand“ und unter juristischem Aspekt als „Raubkunst“ – und niemand würde einwenden, weil die Skulptur das eine sei, könne sie das andere nicht sein! Aussagen über die Temperatur eines Gegenstandes konkurrieren ja auch nicht mit Aussagen über sein Gewicht, seinen Wert oder seine Lage im Raum. Sie beschreiben einfach eine andere Dimension derselben Sache. Verhält es sich aber so auch mit den Bezeichnungen „Menschenwort“ und „Gotteswort“, so haben wir es mit einem Scheinproblem zu tun. Denn was der erste Begriff sagt, wird vom zweiten nicht bestritten. Und was der zweite behauptet, tangiert nicht den Wahrheitsgehalt des ersten. Konkret bedeutet es, dass jeder biblische Vers und jede biblische Aussage „zeitbedingtes Menschenwort“ ist (weil es ein konkreter Mensch in seine konkrete Zeit hinein gesprochen hat), dass zugleich aber jeder biblische Vers und jede biblische Aussage auch „ewiggültiges Gotteswort“ ist (weil Gott die Verschriftlichung seiner geschichtlichen Selbstkundgabe nicht dem Zufall überlies). Die Hl. Schrift ist also nicht „von hier bis da“ menschlich und „von da bis dort“ göttlich, sondern sie ist überall beides. Und sie ist beides „ganz und gar“, wie auch Jesus Christus nicht teils Mensch und teils Gott war, sondern beides „ganz und gar“ und mit jeder Faser seines Seins. Gotteswort und Menschenwort sind nicht „partielle“, sondern „totale“ Bestimmungen, die beide den gesamten Gegenstand meinen, der aber in einer Dimension „dies“ und in einer anderen Dimension „das“ ist, ohne dass die Aussagen miteinander konkurrierten. Denn mit der Bezeichnung „Menschenwort“ wird nicht bestritten, was die Bezeichnung „Gotteswort“ sagen will – oder umgekehrt –, sondern wie Jesus Christus eine menschliche und eine göttliche Natur hat, die ungetrennt und unvermischt in seiner Person beisammen sind, so hat auch die Bibel diese beiden Dimensionen. Wie ist aber zu denken, dass eins das andere nicht einschränkt oder relativiert? Ich meine wir können hier auf ein Wahrheitsmoment zurückgreifen, das die alte Inspirationslehre nur unglücklich ausgedrückt hat. Die Hl. Schrift ist nicht in dem Sinne „Gotteswort“, dass Gott als Urheber der Botschaft auch die gesamte Übermittlung übernehmen wollte, sondern es ist von Anfang an klar, dass er sich dazu menschlicher Boten bedient, die sein Wort hören und es mit menschlichen Mitteln verbreiten (zu „ihrem“ Wort wird es dabei in dem Sinne, dass sie Gottes Wort in sich aufnehmen, es weitertragen und wiedergeben). Die Schrift ist aber nicht in dem Sinne „Menschenwort“, dass die Autoren beanspruchten, Urheber des Inhaltes zu sein, sondern sie erstatten nur Bericht von dem, was Gott in Christus geredet und getan hat. Die Apostel und Evangelisten sehen ihre eigene Bedeutung allein darin, dass sie bezeugen und weitergeben, was sie empfangen haben. Meint „Gotteswort“ aber die Urheberschaft, und „Menschenwort“ die Berichterstattung – wo wäre dann ein Widerspruch? Ein und dasselbe Wort wird nicht in derselben Hinsicht Gott und dem Menschen zugeordnet, sondern Gott als dem sich darin mitteilenden Subjekt und dem Menschen als dem Medium der Weitergabe. Ein logisches Problem ergibt sich aber nicht. Denn wenn das Wasser einer Quelle durch Leitungen transportiert wird, darf man es mit demselben Recht „Quellwasser“ nennen, wie man es auch „Leitungswasser“ nennt. Trage ich ein Gedicht von Schiller vor, bleibt es durchaus „sein“ Gedicht. Es wird durch den Vortrag nicht zu meinem „Werk“. Und auch eine Wahrheit wird nicht weniger „wahr“, wenn es ein Narr ist, der sie ausspricht. Erfahre ich also von Petrus oder Paulus, was Gott mir sagen will – wieso sollen dann nicht „Gotteswort“ und „Menschenwort“ gleichermaßen zutreffende Bezeichnungen ihrer Schriften sein? 

 

EISEN UND HITZE 

Diese Sichtweise entspricht offenkundig dem Selbstverständnis der biblischen Autoren. Denn Paulus sieht sich als „Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns“ (2. Kor 5,20). Und er bezeugt, dass er „weitergibt“, was er seinerseits „empfangen“ hat (1. Kor 15,3). Der Evangelist Lukas will „in guter Ordnung aufschreiben“, was von den Augenzeugen überliefert wurde und was er sorgfältig erkundet hat (Lk 1,1-4). Und der Verfasser der Johannesoffenbarung schreibt bloß nieder, was Gott ihn hat „sehen“ lassen (Offb 1,1-2). Sie alle wollen Jesu Zeugen sein „in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde“ (Apg 1,8). Was sie verbreiten, ist nicht ihre eigene Idee, sondern das, was Christus sie zu predigen gesandt hat (Mt 28,18-20; Mt 10,5ff.; Lk 10,1ff.). Und ihr Wort verdient nicht Gehör, weil die Boten große Autorität hätten, sondern weil ihre Nachricht von höchster Stelle kommt. Eben der hat ihre Nachricht recht verstanden, der sich beim Hören nicht von den Boten, sondern von Gott angeredet weiß! Denn Menschliches und Göttliches durchdringen sich in der Hl. Schrift, wie sich in einem glühenden Eisen das Eisen und die Hitze durchdringen. Wenn der Schmied das Werkstück aus dem Feuer zieht, ist die Hitze überall da, wo auch das Eisen ist, und das Eisen ist überall voller Hitze. Und doch wird die Hitze nicht etwa zum Eisen, und das Eisen wird nicht zur Hitze, sondern beide bleiben ganz, was sie sind – obwohl ihre wechselseitige Durchdringung keine Trennung zulässt. Das rotglühende Ding ist nicht teils Eisen und teils Hitze, sondern ist beides ganz und gar. Und etwa so darf man sich auch die Verbindung vorstellen, die Gottes Geist mit dem menschlichen Geist der biblischen Autoren einging. 

So ist zwar im Apfel-Sein Einiges enthalten, das ein gleichzeitiges Banane-Sein ausschließt. Und nenne ich ein Tier „Maulwurf“, so bestreite ich damit, dass es eine „Gazelle“ sei. Aber spreche ich das Evangelium des Matthäus dem Matthäus zu, so spreche ich es damit Gott nicht ab. Ich kann durchaus daran festhalten, dass die Bibel Gottes Wort ist. Und was die historisch-kritische Exegese an Einsichten zu Tage fördert, muss mich davon nicht abbringen, weil sie nur findet, was aufgrund ihrer Methode und des geschichtlichen Charakters der biblischen Schriften zu erwarten ist. Sie enthüllt ein Stück antiker Literaturgeschichte, zwingt mich aber nicht, diese Dimension der Bibel für die einzige oder auch nur für die entscheidende zu halten. Denn außer dem, dass die Bibel Literatur ist, ist sie auch noch Gottes Wort. Und allein wegen dieser mehr als nur „menschlichen“ Dimension wird sie heute noch gelesen. Das Gotteswort durchdringt das Menschenwort wie die Hitze das Eisen durchdringt. Und mag das Eisen auch noch so gewöhnliches Eisen sein, so ist diese spezielle Hitze doch sehr besonders. Danken wir also Gott, dass er nicht geschwiegen, sondern geredet hat und uns die Ohren zu öffnen verstand. Er schenke uns allezeit ein Herz für sein Wort und ein Wort für unser Herz! 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Die vier Evangelisten

 

Pieter Aertsen, Public domain, via Wikimedia Commons