Wort Gottes und Schriftprinzip

Wort Gottes und Schriftprinzip

Wissen sie eigentlich, wo sich ihre Bibel im Moment befindet? Steht sie im Regal? Liegt sie in einer Schublade? Ist sie vielleicht bei den anderen Büchern unterm Stapel? Oder ist sie gar in den Keller geraten? Ich frage das nicht von ungefähr. Denn ich erinnere mich an das Telefonat mit einer jungen Mutter, die ihr Kind zur Taufe anmelden wollte. Ich vereinbarte mit ihr den Termin des Taufgespräches und sagte dann noch: „Es wäre schön, wenn sie bis zu unserem Gespräch einen Taufspruch aus der Bibel herausgesucht hätten. Etwas, was sie dem Kind mit auf den Weg geben wollen.“ Erst war Schweigen am anderen Ende der Leitung. Und dann sagte die junge Frau mit Zögern: „Ich glaube wir haben gar keine Bibel...“

Nach der ersten Verwunderung fragte ich nach, und es stellte sich heraus, dass die beiden jungen Leute sehr wohl zu ihrer Konfirmation Bibeln bekommen hatten. Als sie aber vor einigen Jahren heirateten und zusammenzogen, hatten beide ihre Bibeln im Elternhaus zurückgelassen. Sie gehörten offenbar nicht zu den Dingen, die man unbedingt mitnehmen muss.

Nun – das praktische Problem ließ sich lösen. Man bekommt heute Bibeln ja schon für ein paar Euro auf den Wühltischen der Kaufhäuser angeboten. Doch hat mich die Sache sehr nachdenklich gemacht. Denn das kleine Vorkommnis führt uns ja krass vor Augen, dass die Bibel vielen Menschen nichts mehr bedeutet. Selbst solche, die sich selbst als gläubig bezeichnen, nehmen die Bibel nicht mehr oft in die Hand. Und das ist sehr bedenklich. Denn wo – um alles in der Welt – wollen sie denn etwas über Gott erfahren, wenn nicht aus Gottes Wort? Wo hören wir Gott denn reden? Redet er etwa durch unser Schicksal? Das ist dann aber ein sehr zweideutiges Reden. Redet er etwa in der Natur? Ich höre da nur Bäume rauschen. Redet Gott etwa durch die innere Stimme jedes Einzelnen? Auch da wäre ich sehr vorsichtig. Denn Gott ist ein rätselhafter und verborgener Gott.

Wir haben es zwar ständig und überall mit ihm zu tun. Aber er tritt nicht ständig und überall aus seiner Verborgenheit hervor – sondern nur einmal hat er es getan. Einmal hat er sich in aller Eindeutigkeit, klar und unmissverständlich zu erkennen gegeben. Einmal hat er sich offenbart, einmal sagten die Menschen voller Staunen: Gottes Wort ward Fleisch und wohnte unter uns. Einmal hat sich der unsichtbare Gott sehen lassen - in Jesus Christus. Wüssten wir also nichts von Christus, was wüssten wir dann von Gott? Was aber wüssten wir von Christus, wenn nicht durch das Neue Testament? Wir, die wir nicht Christus leibhaftig auf Erden begegnen können, weil uns 2000 Jahre von ihm trennen – wir hätten keine Chance Gottes Offenbarung in Christus kennen zu lernen, wenn nicht die ersten Zeugen schriftlich niedergelegt hätten, was sie erlebten. Ihr Zeugnis allein ist unser Zugang zur Offenbarung – und ist darum gerade als schriftliches Zeugnis unentbehrlich. Denn stellen sie sich einmal vor, die Evangelien wären nie aufgeschrieben worden. Stellen sie sich vor, man hätte es bei der mündlichen Weitergabe belassen. Wüssten wir dann heute noch, was Christus sagte und tat?

Gewiss – fürs erste hätte Kommunikation auch ohne Papier und Tinte funktioniert. Es wäre möglich gewesen, die Geschichte Christi von einer Generation auf die andere mündlich weiterzugeben, so wie die Geschichten eines Ortes oder einer Familie von Mund zu Mund und von Generation zu Generation wandern. Aber wie das mit erzählten Geschichten so ist: Da tut immer einer etwas dazu, und der nächste lässt wieder etwas weg – und am Ende sind die Konturen des ursprünglichen Geschehens verschwommen. Wer’s nicht glaubt, frage nur einmal ein altes Ehepaar nach Ereignisse, die 20 oder 30 Jahre zurück liegen: Da hat der Ehemann seine Version der Geschichte, die Frau hat eine etwas andere Version und die Tante, die damals auch dabei war, widerspricht wiederum beiden. Oft lässt sich der wahre Hergang der Ereignisse schon nach Ablauf einer Generation kaum mehr rekonstruieren. Das Leben Jesu Christi aber liegt 80 Generationen zurück!

Gäbe es die Heilige Schrift nicht, hätte 80 mal der Vater dem Sohn das Evangelium weitererzählen müssen. 80 mal hätten die Väter dabei wenigstens Kleinigkeiten vergessen. Und 80 mal hätten die Söhne beim Weitererzählen irgendetwas Passendes hinzugefügt. 80 mal wäre das Evangelium von der Sprache der Väter in die Sprache der Jugend übersetzt worden. Und was wäre danach wohl übrig geblieben von der ursprünglichen Botschaft? Sicherlich wäre es gegangen wie bei jenem Spiel, dass bei Kindern beliebt ist und „Stille Post“ genannt wird.

Kennen sie es? Da sitzen 10 oder 20 Kinder im Kreis. Und das Erste in der Reihe flüstert seinen Nachbarn einen kurzen Satz ins Ohr. Dieser wiederum muss, ohne Rückfragen zu dürfen, das, was es verstanden hat, dem Nächsten zuflüstern. So geht das weiter, die ganze Reihe herum. Weil aber geflüstert wird, kommt es zu Missverständnissen. Da wird dann aus dem „Vater“ der „Kater“ und aus dem „Kater“ der „Krater“. Aus „wohnen“ wird „schonen“ und aus „schonen“ wird „lohnen“. Aus „Sieben“ werden „Ziegen“ und aus „Ziegen“ werden „Stiegen“. Der „Reiter“ wandelt sich zur „Leiter“ und die „Leiter“ zum „Euter“. Am Ende der Reihe muss dann der Letzte laut aussprechen, was ihm zugeflüstert wurde. Und der Erste muss offenbaren, welchen Satz er auf die Reise geschickt hat. Das Gelächter ist dann groß, weil der Anfang mit dem Ende meist nicht mehr viel gemein hat. Zehnmal leise hören und zehnmal leise weitersagen kann den ursprünglichen Sinn einer Botschaft total entstellen.

Für einen Kindergeburtstag ist das eine lustige Sache. Weniger lustige aber wäre es gewesen, wenn es dem Evangelium Jesu Christi auf seinem Wege durch die Zeit ebenso ergangen wäre. Auch da hörte ja einer, was die Altvorderen über ihren Glauben sagten und über Jesus Christus. Und wenn er selbst Kinder hatte, sagt er dasselbe in eigenen Worten diesen Kindern. 80 Generationen lang vollzog sich dieser Dreitakt von Hören, Glauben, Weitersagen – Hören, Glauben, Weitersagen – Hören, Glauben, Weitersagen. Und er vollzieht sich noch heute – Gott sei Dank. Doch wären wir alleine auf diese mündliche Tradition angewiesen, so wären wir schlecht dran. Wir wüssten zwar noch, was unsere Eltern gesagt haben. Und wir hätten sicher Vertrauen, dass sie die Botschaft von ihren Eltern getreu weitergegeben haben. Ob aber nicht 5 oder 10 oder 15 Generationen zuvor jemand die Worte Christi verdreht, verkehrt und entstellt hat – das könnten wir nicht wissen. Darum sind wir, die wir das vorläufige Ende der Kette bilden, darauf angewiesen, überprüfen zu können, ob das, was man uns lehrt, auch wirklich die Botschaft Christi ist. Und um das zu prüfen, gibt es nur eine Möglichkeit:

Wir müssen zurückgehen zu den Zeugnissen der Anfangszeit. Wir müssen zurück an den Beginn der langen Traditionskette. Wir müssen uns an die halten, die zum ersten Mal Hörer des Wortes und Zeugen des Evangeliums waren. An ihrem Bericht, der uns glücklicherweise schriftlich vorliegt, müssen wir alles messen, was zu späterer Zeit als christliche Botschaft ausgegeben wurde und ausgegeben wird. Das, was schon 80 mal von Mund zu Mund gegangen ist, müssen wir kritisch vergleichen mit dem Originalton, der vor zweitausend Jahren zum ersten Mal hörbar wurde. Denn das Neue Testament allein kann der authentische Maßstab sein für das, was in der christlichen Kirche gelehrt und gelebt wird. Nur Gottes Wort kann Gottes Volk leiten.

Was aber, wenn das nicht mehr funktioniert? Was, wenn das Schriftprinzip, das die Reformatoren so mühsam erstritten haben, von der neuzeitlichen Theologie faktisch aufgegeben wird? Was geschieht, wenn wir in der Bibel nicht mehr Gottes Wort, sondern überall nur noch Menschenworte finden wollen? Dann entsteht daraus eine so grundlegende geistliche Krise, wie wir sie heute zu verzeichnen haben. Denn dann löst sich die Autorität der Schrift auf in eine Vielzahl historischer Fragezeichen – und die scharfe Waffe der Reformation wird zum stumpfen Werkzeug. Dann schält man die Bibel wie man eine Zwiebel schält, man löst Schicht um Schicht, trennt Menschenwort von Menschenwort – und findet doch in all den Schalen keinen Kern. Man seziert dann die Schrift, wie ein Arzt einen Leichnam seziert. Doch wie der Arzt, der einen Leib zerschneidet, darin unter all den Organen keine Seele findet – so finden die Theologen dann in der Bibel nur noch Menschenwörter und Menschengedanken, nicht aber mehr Gottes Wort....

O welch eine Tragödie! Was für eine Blindheit! Denn das weiß doch jeder: Es ist ein einseitiger Zugang zum Menschen, wenn man ihn nur als eine Anhäufung von Knochen, Organen, Muskeln und Sehnen betrachtet. Und ebenso ist es ein einseitiger Zugang zur Heiligen Schrift, wenn man sie als eine Sammlung menschlicher Gedanken und Glaubenszeugnisse ansieht. Dass sie dergleichen auch enthält ist unbestritten! Entscheidend aber ist, dass die Schrift in, mit und unter den vielen menschlichen Wörtern das eine große Wort Gottes enthält – und dass man es hören kann, wenn man dazu bereit ist!

Freilich: Wenn ich unterstelle, die Bibel sei ein Kulturdokument vergangener Zeiten und ein Forschungsobjekt wie andere auch – dann wird mich Gott durch die Schrift nicht anreden. Wenn ich aber bereit bin, Gottes Botschaft herauszuhören aus dem irdenen Gefäß menschlicher Schriftstellerei, dann entdecke ich die Bibel als Gottes Wort an mich. Dann beginnen die toten Buchstaben zu leben – und ehe ich mich‘s versehe versetzt das biblische Wort die Saiten meiner Seele in Schwingung. Ich merke dann immer noch, dass Menschenhände jene Texte aufgeschrieben und manche menschliche Spur darin hinterlassen haben. Ich spüre aber zugleich, dass der geistige Vater und eigentliche Autor kein anderer ist als Gott.

Ich beginne dann die Bibel zu achten als einen Brief meines Schöpfers an mich, ich juble über diesen Brief und gebe der Bibel künftig den Platz, der ihr gebührt. Dieser Platz aber, ist nicht ein Ehrenplatz ganz oben im Regal. Sondern der gebührende Platz für die Bibel ist nirgendwo anders, als in unseren Händen…

 

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: The Magdalen Reading

Rogier van der Weyden, Public domain, via Wikimedia Commons