Die Bibel als Norm
Kritisieren wir die Bibel – oder kritisiert sie uns?
Der christliche Glaube ähnelt in vielen Dingen einer Philosophie oder Weltanschauung. Er vertritt bestimmte Ansichten über Ursprung, Sinn und Ziel der Welt. Er reflektiert das menschliche Leben in seiner Vielfalt und Problematik. Und er empfiehlt einen bestimmten Weg, wie dieses Leben zu bewältigen ist. Das tun viele andere Weltanschauungen auch.
In einem Punkt aber ist der Glaube von ihnen ganz verschieden. Denn er verdankt sich nicht dem Nachdenken des Menschen. Sondern er verdankt sich dem Wort Gottes. Der christliche Glaube wurde nicht von Menschen „ergrübelt“ oder „erfunden“. Sondern seine wesentlichen Inhalte wurden von Gott offenbart. Und darum ist der Glaube auch an das Dokument dieser Offenbarung – an die Heilige Schrift – bleibend gebunden. Ein Philosoph kennt solche Bindungen nicht. Er ist nur sich selbst und seiner Erkenntnis verpflichtet. Er kann sein Gedankengebäude heute einreißen und morgen aus den Trümmern ein neues bauen, das ihm besser gefällt. Dem Christen aber ist das Evangelium vorgegeben. Denn es besteht nicht aus seinen, sondern aus Gottes Gedanken.
Natürlich darf und soll der Christ diesen Gedanken „nach-denken“. Und auch dieser verstehende Nachvollzug ist eine intellektuelle Herausforderung. Doch Gottes Gedanken nachzubuchstabieren heißt eben nicht, frei über sie zu verfügen. Wer sich bemüht, kann tiefer und tiefer in sie eindringen. Aber ändern kann er sie nie. Denn Gottes Gedanken sind höher als unsere. Und sie sind darum auch nicht unserem Urteil unterworfen. Vielmehr gilt das Umgekehrte: Nicht wir richten über Gottes Wort, sondern Gottes Wort richtet über uns. Es ist der kritische Maßstab, an dem unser Leben und Denken gemessen wird. Denn nicht dazu ist uns die Bibel gegeben, damit wir sie in Frage stellen, sondern damit wir von ihr in Frage gestellt werden.
Freilich: Lassen wir das zu? Sind wir bereit, unsere eigenen Gedanken dem Wort Gottes unterzuordnen? Gehen wir als wissbegierige Schüler an die Bibel heran? Oder benehmen wir uns eher wie Lehrer, die den biblischen Text kritisch begutachten, jenes loben, dieses tadeln und alles nach Gutdünken deuten? Hat man so eine Haltung erst einmal eingenommen, ergibt sich der Rest von selbst. Man betrachtet dann das von Gott an den Menschen gerichtete Wort als eine Sammlung menschlicher Worte über Gott. Man unterstellt, die Bibel bedürfe der Auslegung, weil sie „historisch bedingt“, „schwer verständlich“ und „vieldeutig“ sei. Dann erhebt man die eigenen weltanschaulichen Vorurteile zum Maßstab dieser „Auslegung“. Und schon kann man nach Herzenslust an der Schrift heruminterpretieren. Denn es besteht dann keine Gefahr, dass man in der Bibel je etwas anderes findet, als die eigenen Lieblingsgedanken. Mag die Bibel sagen, was sie will: Solange der Mensch sich das Recht der kritischen „Interpretation“ und „Deutung“ vorbehält, ist er davor sicher, selbst gedeutet zu werden. Solange er die Bibel hinterfragt, wird sie ihn nicht hinterfragen. Und solange die „Auslegung“ strittig bleibt, muss er auch keine Konsequenzen ziehen. Denn solange Gottes Wort „vieldeutig“ erscheint, bleibt alles in der Schwebe – und jeder kann weitermachen wie zuvor. Freilich: Das Ganze ist ein großer Selbstbetrug. Denn in Wahrheit ist die Bibel gar nicht so schwer zu verstehen. Sie ist in allem Wesentlichen eindeutig. Und sie ist auch durchaus in der Lage sich selbst auszulegen, wenn jemand zu hören gewillt ist.
Oder glaubt jemand im Ernst, dass Gott, wenn er uns etwas zu sagen hat, flüstert, stottert, stammelt oder lallt? Keineswegs. Gott hat sich durchaus klar ausgedrückt. Und wer zu hören bereit ist, der erfährt ganz genau, was Gott von ihm will. Aber eben darin liegt das Problem. Denn aus der großen Klarheit des biblischen Wortes erwächst die Versuchung, die die folgende Geschichte beschreibt:
Es war einmal eine russische Prinzessin, die unternahm eine Reise nach Paris. Und natürlich sah sie dort viel Schönes. Am besten aber gefiel ihr eine kleine blaue Vase, die sie in einem Geschäft entdeckte. Denn die blaue Farbe dieser Vase war so leuchtend und so intensiv, sie war so kräftig und so fein zugleich, sie hatte solche Tiefe und einen solch samtenen Glanz, dass die Prinzessin sich nicht daran sattsehen konnte. Das ganze Blau des Himmels und das ganze Blau des Meeres schienen in diesem einzigartigen Farbton eingefangen zu sein. Und darum zögerte die Prinzessin nicht lange: Sie kaufte die Vase und nahm sie als Andenken mit nach Hause.
Auch daheim in Russland wurde es ihr nicht langweilig, die Vase immer wieder zu betrachten: Mal hielt sie sie in das Licht des Mondes, mal in die strahlende Morgensonne und mal in den Schein des Kaminfeuers. Und bald träumte die Prinzessin davon, die ganze Welt um sie herum wäre von diesem herrlichen Blau erfüllt. Gesagt, getan: Sie beschloss, ihren ganzen Palast in exakt der gleichen Farbe anstreichen zu lassen, damit alles um die Vase herum genauso blau leuchten sollte wie die Vase selbst. Schnell waren Maler herbeigerufen, die den Wunsch der Prinzessin in die Tat umsetzen sollten. Und fleißig begannen sie in ihren Farbtöpfen zu rühren und zu mischen. Immer wieder nahmen sie Proben, änderten die Beimischungen und die variierten die Tönung. Aber zum großen Schrecken der höfischen Gesellschaft gelang es keinem, den Blauton der Pariser Vase genau zu treffen. Alle Muster die sie lieferten, waren entweder zu hell oder zu dunkel, sie erschienen im Vergleich mit der Vase matt und stumpf. Es fehlte jenes besondere Leuchten – es fehlte diese besondere Tiefe. Und wenn auch einige der herbeigerufenen Künstler ziemlich nah herankamen an den gewünschten Farbton, so war es doch nie ganz derselbe.
Man kann sich vorstellen, dass die Prinzessin enttäuscht und zornig war, nachdem die berühmtesten Kunstmaler Russlands einige Wochen vergeblich herumprobiert hatten. Doch just in diesem Moment tauchte am Hofe ein gänzlich unbekannter Maler auf. Er stellte sich vor als der Maler Mischkin. Und er versprach, den Wunsch der Prinzessin umgehend zu erfüllen. Niemand setzte große Hoffnungen auf diesen Mischkin. Aber man ließ ihn gewähren. Wie alle seine Vorgänger mischte er seine Farben und begann das Zimmer auszumalen, in dem die Vase stand. Als er aber nach drei Tagen sein Werk vollendet hatte, da brach die Prinzessin in Schreie des Entzückens aus. Denn alle Sachverständigen kamen mit ihr zu dem Urteil, dass der Blauton des Zimmers nun endlich ganz und gar dem Blau der Vase entsprach.
Natürlich wurde Mischkin für diesen Erfolg reich belohnt – er war ein gemachter Mann. Als aber viele Jahre vergangen waren, da fragte ihn ein Freund ganz im Vertrauen, wie er denn das geschafft habe, woran vorher so viele große Künstler gescheitert waren. Und da gab Mischkin zur Antwort: „Weißt du, ich habe nicht nur das Zimmer – ich habe auch die Vase bemalt!“
Es ist ein verblüffend einfacher Trick, mit dem Mischkin das Problem löst. Und ist es auch ein Betrug, so ist es doch ein ziemlich genialer. Denn Mischkin erkennt, dass es zwei Wege gibt, Original und Kopie zur Übereinstimmung zu bringen: Man kann versuchen die Kopie auf das Niveau des Originals hinaufzusteigern. Oder man kann das Original auf das Niveau der Kopie herunterziehen. Man kann die eigenen Möglichkeiten dem Ideal angleichen. Oder das Ideal den Möglichkeiten. Und da das Erste nicht gelingt, tut Mischkin das Zweite: Da er dem Zimmer nicht die Farbe der Vase zu geben vermag, gibt er der Vase die Farbe des Zimmers. Und schon stimmen beide überein.....
Was aber hat das mit dem Glauben und der Heiligen Schrift zu tun? Nun, ganz einfach: Mischkins Beispiel zeigt, in welche Versuchung der Christ gerät, wenn er mit Gottes Wort umgeht. Denn auch das Leben des Christen ist so etwas wie ein Zimmer, in dem eine einzigartige Vase steht. Unser Leben ist der Raum, in dessen Zentrum das Evangelium Jesu Christi steht. Und wie in jener Geschichte, so soll auch hier Übereinstimmung herrschen zwischen dem Evangelium, das den Maßstab abgibt, und dem Gläubigen, der sich daran orientiert.
Doch wenn das nicht gelingt? Wenn man es nicht schafft, das eigene Christenleben nach Jesu Wort und Wille zu gestalten? Wenn es uns geht, wie jenen russischen Malern, die einfach nie den Farbton trafen? Dann kommen wir in Versuchung, es mit der Bibel zu machen wie Mischkin mit der Vase: Da man die eigene, allzu menschliche Wirklichkeit nicht dem Ideal angleichen kann, gleicht man das Ideal der Wirklichkeit an. Da man dem Zimmer nicht die Farbe der Vase geben kann, gibt man der Vase die Farbe des Zimmers.
Und das heißt: Man biegt sich Gottes Wort so zurecht, man verkürzt und ergänzt, interpretiert und relativiert es, bis es der eigenen Wirklichkeit entspricht. Man gleicht das Evangelium den eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen an. Man bringt die störende Stimme zum Schweigen, indem man sie – „übersetzend“ und „interpretierend“ – den eigenen Denkgewohnheiten anpasst. Und doch ist man am Ende nur ein betrogener Betrüger. Denn wer vor Gottes Wort die Ohren verschließt, schadet ja nicht ihm, sondern nur sich selbst. Darum: Begehen wir nicht diesen Fehler. Benehmen wir uns nicht wie Lehrer, die über Gottes Wort richten, sondern wie Schüler, die wissbegierig lauschen. Denken wir Gottes Gedanken nach. Und erinnern wir gelegentlich auch die Theologen an das, was ihnen die Reformatoren ins Stammbuch geschrieben haben:
„...es bleibt allein die heilige Schrift der einzige Richter, die einzige Regel und Richtschnur, nach der, als dem einzigen Probierstein, alle Lehren erkannt und beurteilt werden sollen und müssen, ob sie gut oder böse, recht oder unrecht sind.“ (FC Ep. Summ. Begr. §7)
Bild am Seitenanfang: Christus en de schriftgeleerden
Leonaert Bramer, Rijksmuseum, CC0, via Wikimedia Commons