Sola scriptura

Sola scriptura

In der evangelischen Kirche ist es selbstverständlich, dass alles, was sie lehrt, aus biblischen Quellen zu schöpfen und am Maßstab der Bibel auch zu prüfen ist. Denn was mit dieser Norm nicht übereinstimmt, ist weder zu predigen noch zu glauben. Und es kann gegen die Norm des göttlichen Worts auch kein Mensch Recht haben, ob er nun Bischof sei, Professor oder Pfarrer. Denn wir entnehmen dem Neuen Testament das, was Jesus Christus seinen Jüngern offenbart hat. Es ist die Niederschrift dessen, was sie mit ihm erlebten und von ihm lernten. Und wer anders lehren wollte, beanspruchte damit, es besser zu wissen als Gottes eigener Sohn. Er würde sich anmaßen, bezüglich Gottes mehr Einsicht zu haben und besser informiert zu sein als Jesus Christus. Und so einer, der dann sicher kein gehorsamer Schüler des Neuen Testaments ist, taugt nicht als Lehrer der Kirche. Denn die verdankt sich nicht irgendeiner menschlichen Weisheit oder Selbstermächtigung, sondern verdankt sich allein dem göttlichen Wort. Und nur soweit sie bei diesem Wort bleibt, verdient sie überhaupt „Kirche“ genannt zu werden. Denn niemand kennt den Vater als nur der, dem es der Sohn offenbart (Mt 11,27). Niemand kommt anders zu Gott als durch Christus (Joh 14,6). Und niemand kennt Christus anders als durch das Neue Testament. So ist Gottes Sohn zwar nicht mehr unter uns in Fleisch und Blut. Er ist aber gegenwärtig in seinem Wort. Und die Kirche bleibt ihrem Herrn genau in dem Maße treu, wie sie seinem Wort treu bleibt. Andere Quellen Gott betreffend hat und braucht sie nicht. Und so ist ihr die Bibel auch nicht eine Autorität unter vielen, so dass Gottes Wort noch mit anderen Instanzen konkurrieren müsste. Sondern Gottes Wort ist die allein verbindliche Autorität der Kirche, die alles enthält, was der Glaube wissen muss. Und wollten sämtliche Bischöfe, Pfarrer und Kirchenvorsteher vereint dagegen stimmen, hätten sie doch niemals Recht gegen die Hl. Schrift. Denn die wurde nicht in einem Ausschuss entworfen und dann durch einen Mehrheitsbeschluss des Kirchenvolkes in Geltung gesetzt. Sondern Gottes Wort ist der Kirche von Anfang an vorgegeben durch den, der es gesprochen und die Kirche durch eben dieses Wort überhaupt erst geschaffen hat. Kirche ist die Gemeinschaft der von Christus in die Nachfolge Berufenen. Wo dieser Ruf nicht ergangen wäre, könnte ihm auch niemand folgen. Und darum geht das berufende Wort Jesu der Gemeinschaft der Berufenen immer voraus. Kirche wird nicht anders als durch Gottes Wort geschaffen – es ist der Boden, aus dem diese Pflanze wächst. Und durch Rückkehr zu ihrem Ursprung, durch Besinnung auf das Wort, kann sich Kirche auch jederzeit erneuern. Weil die Reformatoren das aber nicht nur verstanden, sondern auch ganz wunderbar erfahren haben, gilt seither in der evangelischen Kirche das „Schriftprinzip“, das die Geistlichen verpflichtet, nicht mehr und nicht weniger zu predigen als geschrieben steht. „Allein die Schrift“ hat die Norm ihrer Verkündigung zu sein – und also nicht ihre menschliche Vernunft und nicht ihr subjektives Gefühl, nicht der Geist der Zeit und nicht der Applaus der Hörer, nicht die Mehrheitsmeinung und nicht die Tradition, nicht die Überzeugung der Kirchenleitung oder brillanter Theologen. Das aber immer wieder zu sagen, schafft methodische Klarheit und dient der Transparenz. Denn Kirche legt damit offen, woher sie ihre Weisheit bezieht. Sie will von Gott nichts lehren, als nur das, was er selbst durch sein Wort hat wissen lassen – in trüberen Quellen fischen wir nicht! Und damit ist dann auch jedem Christen die Möglichkeit gegeben, mit dem Neuen Testament in der Hand zu prüfen, ob die Kirche ihrem Anspruch gerecht wird und schriftgemäß lehrt. Wir halten den „Quellcode“ unserer Verkündigung gerade nicht geheim, sondern legen ihn offen! Das ist großartig, weil es der Willkür der Theologen enge Grenzen setzt. Und es hat sich als kritischer Maßstab schon oft bewährt. Denn ohne von Klerikern bevormundet zu werden, kann sich heute jeder Christ am Neuen Testament selbst orientieren. Er kennt die Norm, der seine Kirche untersteht. Er kann sie dran erinnern. Und wenn diese „Qualitätskontrolle“ praktiziert wird, werden Prediger gehindert, vom Thema abzukommen. Das Wort der Schrift ist dann nicht nur das berufende Wort, das immer neue Generationen zur Kirche hinzufügt. Sondern das Wort ist dann zugleich das orientierende Mittel, durch das der Heilige Geist Gottes Volk in der Spur hält. Freilich, die Urgemeinde vor 2000 Jahren wusste noch nicht, wie wichtig das geschriebene Wort einmal werden würde. Damals ahnte man nicht, welch langer Weg der Christenheit bevorstand. Und so hat sich auch niemand verabredet, um ein Neues Testament zu schaffen. Sondern das entstand erst nach und nach auf wenig planmäßige Weise. Denn Jesu erste Jünger hatten keine literarischen Ambitionen. Sie schrieben schon deshalb nichts auf, weil sie jedem selbst von ihren Erlebnissen erzählen konnten. Und erst als die Apostel älter wurden, so dass einer nach dem anderen starb, musste an die Stelle ihrer persönliche Autorität etwas anderes treten. So las man dann ersatzweise die Briefe, die Paulus, Petrus und Johannes an die Gemeinden geschrieben hatten. Man sammelte die Sprüche und Gleichnisse Jesu und las sie im Gottesdienst vor. Markus schrieb einen ersten Lebensbericht Jesu. Und weil Matthäus Erinnerungen kannte, die bei Markus fehlten, schuf er eine ergänzte und erweiterte Fassung des Evangeliums. Lukas wiederum komplettierte das Vorhandene durch die Apostelgeschichte, die ihren Bericht dort fortsetzt, wo die Evangelien enden. Mit der Zeit kam noch allerhand hinzu. Und die zwischen Rom und Jerusalem verstreuten Gemeinden tauschten fleißig untereinander die Schriften, die ihren Glauben förderten. Zwar liefen auch andere Texte um, von denen manche tendenziös und von Irrlehren beeinflusst waren. Weil man die guten Sachen aber eifrig abschrieb und kopierte, während man die schlechteren mied, setzten sich mit der Zeit bestimmte Schriften durch, die bald in allen Christengemeinden geschätzt und als echt apostolisch anerkannt wurden. Das war kein planmäßiger Prozess. Aber der Heilige Geist war doch im Spiel. Und als immer wieder Spaltungen drohten, weil selbsternannte Propheten von der gesunden Lehre abwichen und die Gemeinden verwirrten, bedurfte es einer verbindlichen Ordnung. Die junge Kirche musste nach innen wie nach außen Auskunft darüber geben, was ihre Grundlagen sind. Und da die Apostel nicht mehr lebten, ging ihre Autorität nach und nach auf die Schriften über, die anerkanntermaßen im Geiste Jesu verfasst waren. Um 200 n. Chr. war der Grundbestand des Neuen Testaments schon nicht mehr strittig. Und auf Konzilien im 4. Jahrhundert benannte man endgültig die Schriften mit normativer Geltung, die seither „kanonisch“ heißen. Doch hat die Kirche damit nicht etwa selbst die Grundlagen ihrer Lehre „geschaffen“, sondern sie hat bloß die Evangelien und Briefe aufgezählt, die aufgrund ihres Inhalts bereits höchstes Ansehen genossen. Bevor irgendwelche Bischöfe sie „amtlich“ anerkannten, hatten diese Schriften ihre Autorität schon selbst unter Beweis gestellt. Sie setzten sich einfach durch, weil der Heilige Geist sich ihrer bediente. Zweifelhaftes und Tendenziöses blieb außen vor. Die Kirche aber gewann im Neuen Testament eine feste Basis, auf die sie sich später in allen strittigen Fragen beziehen konnte. Jesu Apostel waren zwar gestorben. Aber die apostolische Lehre war deshalb nicht verschwunden. Sondern sie lag nun schriftlich vor. Und konnte man auch Petrus, Paulus und Johannes nicht mehr persönlich um Rat fragen, besaß man doch im Neuen Testament den originalen Ausdruck ihrer Lehre. Das war sicher nicht ohne die Mitwirkung des Heiligen Geistes geschehen. Denn schließlich hatte Jesus vor der Himmelfahrt versprochen, seine Gemeinde nicht orientierungslos zurücklassen. Er hatte zugesagt, bei ihr gegenwärtig zu sein durch sein Wort und seinen Geist. Und mit dem Neuen Testament schuf er dafür ein herrlich geeignetes Werkzeug. Ja, das Wort Gottes wurde nicht bloß Fleisch, es wurde von den Aposteln nicht bloß mündlich gepredigt, sondern ging sogar in die Literatur ein! Konnte also nichts mehr schief gehen in den folgenden 2000 Jahren der Kirchengeschichte? Doch. Natürlich ist unglaublich vieles ganz schrecklich schief gegangen, dessen sich die Christenheit bis heute schämt. Es lag aber nicht daran, dass man kein Neues Testament gehabt hätte, sondern daran, dass man ihm nicht folgte – dass man vieles, was drin stand, nicht lehrte, und dafür wiederum anderes lehrte, was nicht drin stand. Denn so kam die katholische Kirche des Mittelalters weit vom Kurs ab und begrub das Evangelium unter einem Berg menschlicher Satzungen, Lehren und Traditionen. Man quälte die Gläubigen mit angeblich verdienstlichen Werken und Pflichten, ließ sie pilgern, fasten und zwangsweise beichten. Man monopolisierte Gottes Gnade in der Hand des Papstes, häufte Reichtümer an und führte verderbliche Kriege im Namen Gottes. Man verbot den Priestern die Ehe, vergötterte die arme Maria, verkündete absurde Dogmen, betete Reliquien und Bilder an und huldigte vielfachem Aberglauben. Zugleich beschwerte man aber die Gewissen, indem man dem Kirchenvolk das Evangelium von der freien Gnade Gottes vorenthielt – und mit der geschürten Angst einträgliche Geschäfte machte. Nichts von alledem hatte Jesu gewollt! Aber man ehrte damals die päpstliche Lehrautorität mehr als das Neue Testament, dem man den Willen Jesu hätte entnehmen können. Und dieser Spuk endete erst, als Luther „sola scriptura“ rief. Erst als er das wahre Evangelium wieder ans Licht zog, fiel das katholische Kartenhaus in sich zusammen. Doch geschah das natürlich nicht, weil der unbedeutende Mönch Luther irgendeine persönliche Autorität besessen hätte, sondern weil die Autorität des Neuen Testaments neue Geltung erlangte. Gottes eigenes Wort war das Mittel, das Gottes Kirche reinigte! Der Katholizismus stolperte nicht über Luther, sondern über das Neue Testament! Und seither hat uns das evangelische Schriftprinzip vor tausend alten und neuen Irrtümern geschützt. Ja, wie oft auch die Theologen auf Abwege gerieten, ließ sich der Schaden doch immer wieder beheben, wenn die Kirche zum Neuen Testament zurückkehrte. Natürlich sind trotzdem Schwärmer aufgetreten und haben voller Enthusiasmus behauptet, sie hätten von Gott neue Offenbarungen empfangen. Selbsternannte „Propheten“ schrieben krude Bücher, und angeblich „neue Apostel“ verwirrten die Christenheit. Doch das Schriftprinzip schützte jede Gemeinde, die beim Neuen Testament und damit auf dem Teppich blieb. Apostel der aufgeklärten Vernunft ergriffen das Wort und reklamierten für den ach so vernünftigen Menschengeist ebenso große Autorität wie für den Heiligen Geist. Die Gemeinden sollten nur noch glauben, was den Aufklärern „fortschrittlich“ und „rational“ erschien – und den Rest ihres Christentums über Bord werfen. Doch wo man das Schriftprinzip beherzigte, fand man von solch einem Kult der Vernunft nichts im Neuen Testament und entging der rationalistischen Mode. Bald erzählten Nationalisten allerhand große Dinge von einer Offenbarung Gottes im deutschen Wesen und in der Person des Führers, dem als Werkzeug der göttlichen Vorsehung bedingungslos zu folgen sei. Aber das Schriftprinzip half allen, die sich dran gebunden wussten, weil sie im Evangelium nur von einem Herrn und von einem Hirten lasen, der keineswegs Hitler, sondern Christus hieß. Heute haben wir wieder neue Trends. Man hört nun, der Mensch solle nur kräftig an sich selbst glauben und – seiner inneren Stimme folgend – seine ganz eigene Wahrheit finden. Er dürfe auch alles tun, was sich für ihn „richtig“ anfühlt, weil er als autonomes Subjekt schließlich selbst die „höchste Instanz“ und das Maß der Dinge sei. Doch dieser Kult des egozentrischen Subjekts, diese relativistische Ersatz-Religion ist ebenso großer Mist wie all das andere. Und wer beim Schriftprinzip bleibt, verfügt über das nötige Gegengift auch gegen diesen modernen Schwindel. Ja, das Feld der Irrlehren ist weit. Und einige sind in der Kirche schon mehrheitsfähig geworden. Doch gegen sie alle ist jenes Kraut gewachsen, das sich „sola scriptura“ nennt. Und wenn man davon konsequent Gebrauch machte, ließe sich der Kurs jederzeit korrigieren. Denn anders als der Zeitgeist, bleibt der Herr der Kirche immer derselbe. Nur dass eben, wer seinem Wort nicht folgen mag, nicht für kirchliche Ämter taugt: Wenn uns jemand auffordert, etwas weniger zu glauben, als im Evangelium steht, hat er sich verraten. Und wenn er behauptet, man müsse noch etwas darüber hinaus glauben, ist er auch schon entlarvt. Doch wollen wir nicht von anderen reden, sondern lieber von uns selbst. Denn ein Christ ist gut beraten, das Schriftprinzip auch auf sich selbst anzuwenden – und auf seine eigenen Glaubensgedanken. Oder wäre da immer ganz klar, von wem oder was wir uns bestimmen lassen und welcher Autorität wir trauen? Als gebildeter Mensch benutzt man z.B. gern seine Vernunft und schätzt sie nicht gering – natürlich will sie niemand missen! Doch weiß die menschliche Vernunft gerade von Gott herzlich wenig. Und jede Gewissheit, die man auf Vernunft gründet, kann dieselbe Vernunft auch wieder zerlegen! Darum sollte sich der Mensch nicht allzu schlau vorkommen, sondern dem Wort Gottes im Zweifel mehr vertrauen als dem eigenen Verstand. Auch Gefühle sind schön – und natürlich wäre Glaube ohne Gefühl eine blasse Angelegenheit! Doch glaubt ein Christ besser nicht an seine frommen Gefühle und vertraut besser auch nicht auf seine religiösen Stimmungen. Denn die können sich schneller ändern als das Wetter, während Gottes Wort sich ewig gleich bleibt. Gern vertraut der Mensch auch dem Augenschein – und bestimmt ist uns eine lebendige Erfahrung lieber als die „graue Theorie“. Der Augenschein kann aber gerade in Glaubensdingen sehr trügen, weil etwa Gottes Liebe sehr oft gegen allen Augenschein geglaubt werden muss. Und wie anders sollte man das machen, wenn nicht unter beharrlichem Rückgriff auf das biblische Wort? Zurecht geben wir auch viel auf christliche Vordenker, Glaubenszeugen, Kirchenführer und theologische Gelehrte, die uns weise erscheinen. Doch auch bei denen ist mancher Heiligenschein nur äußerlich vergoldet. Und wie die Kirchengeschichte zeigt, haben oft gerade die klügsten Köpfe und die charismatischsten Leitfiguren das größte Unheil angerichtet. Sollte man ihrem Urteil also die eigene Seele anvertrauen? Das wäre kein guter Rat. Vielmehr lasse man sie alle gerne reden. Man lasse die Vernunft reden und das eigene Herz, man höre, was die Tradition sagt und was der allerneueste Trend ist. Man frage auch andere Christen um Rat und spüre seinen Gefühlen nach. Am Ende aber rufe man „sola scriptura“ und prüfe das Ganze an Gottes Wort. Denn wer könnte wohl in Glaubensdingen Bescheid wissen, wenn nicht Gott selbst, um den es da geht? Und wenn er in der Bibel bereitwillig über sich selbst Auskunft gibt – soll man sich dann anderswo Informationen aus zweiter Hand besorgen? Gott wollte nicht abwarten, ob wir von selbst schlau werden. Sondern um allen Missverständnissen vorzubeugen, offenbarte er sich in seinem Sohn. Christus allein ist autorisiert, verbindlich zu sagen, wie Gott zu uns steht. Und von ihm haben wir nun mal nicht anders Kenntnis als durch das Neue Testament. So muss niemand raten, was Gott ihm wohl zu sagen hat. Jeder kann es auf wenigen Seiten nachlesen, kann seinen Glauben „sola scriptura“ allein durch die Schrift gewinnen – und dabei aus der allerreinsten Quelle schöpfen. Aber geschieht das auch? Nein, ich fürchte ich komme da zu keinem positiven Schluss. Denn die meisten Laien basteln sich heute eine Religion zurecht, ohne ins Neue Testament auch nur hineinzuschauen. Und selbst die Pfarrer sind mit biblischen Argumenten nicht mehr zu beeindrucken. Man hat scheinbar andere Sorgen, als bei Gottes Wort zu bleiben. Und so wird das kostbare Schriftprinzip, das ich hier beschrieben habe, mehr behauptet als beherzigt. Es ist heute mehr Theorie als Praxis, mehr Anspruch als Wirklichkeit. Es wird belächelt und zerredet. Und das erklärt die geistliche Krise, in der wir stecken. Aber davon will niemand etwas hören. Die es am meisten angeht, wollen am wenigsten davon wissen. Und so erfüllt sich an ihnen – ohne dass sie es begreifen – was Luther sagte: „Das ist der größte Zorn Gottes, wenn er das Wort wegnimmt und zulässt, dass die Menschen es verachten.“

 

 

 

Bild am Seitenanfang: Girl Reading in a Landscape

Ada Thilén, Public domain, via Wikimedia Commons