Die Autorität der Bibel

Die Autorität der Bibel

Muss man glauben, bloß weil’s geschrieben steht? 

Wenn man Menschen fragt, welches die höchste Autorität in der Kirche sei, dann bekommt man die seltsamsten Antworten – und muss oft widersprechen. Denn es ist nicht etwa der Bischof, der Kirchenvorstand, die Landessynode oder die Pfarrerschaft, sondern die höchste Autorität in der Evangelischen Kirche – das ist die Heilige Schrift. Gottes Wort ist die oberste Norm. Und das kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass wir die Bibel in unseren Kirchen zentral mitten auf den Altar legen und im Gottesdienst daraus lesen. Wenn man es nicht wüsste, könnte man schon daraus entnehmen, dass Christsein und Bibellesen zusammengehören – geradezu trivial erscheint diese Feststellung. Und doch ist die Autorität der Heiligen Schrift umstritten, und wird von vielen Menschen als problematisch empfunden, weil sie sich über die komplizierte Entstehungsgeschichte und die inneren Vielfalt der Bibel wundern: Wie kann ich der Bibel glauben, sagen sie, wenn sie doch von Menschen geschrieben wurde?

Wie kann ich ihr glauben, wenn sie anscheinend Widersprüche enthält? Wie kann ich der Bibel vertrauen, wenn manche ihrer Angaben historisch fragwürdig sind? Und woher weiß ich, dass die Jünger Jesu Worte nicht verändert haben? Waren es überhaupt die Jünger Jesu, die das Neue Testament schrieben? Waren es nicht Leute der 2. und 3. Generation? Wer sagt denn, dass die sich richtig erinnert haben? Wer kann beweisen, dass sie nicht allerhand zu Jesu Worten dazugedichtet oder Entscheidendes weggelassen haben?

Die historisch–kritische Erforschung der Schrift hat solche Zweifel kräftig genährt, denn sie fand heraus, dass die Bibel keineswegs fertig vom Himmel fiel, sondern über Jahrhunderte hinweg von hunderten menschlicher Hände geschrieben, geformt und verändert wurde. Das irritiert. Das scheint göttliche Herkunft auszuschließen. Und hinzu kommen immer wieder sensationell aufgemachte Medienberichte, die behaupten, das „wahre Leben Jesu“ aufzudecken. Sie berichten über geheime Beziehungen Jesu zu Frauen und zu Sekten, über hinterlistige Fälschungen und Intrigen des Vatikans, über das angeblich gefundene Grab Jesu, über verborgene Codes und unterdrückte Evangelien. Bei Lichte besehen ist an diesen „Enthüllungen“ wenig oder gar nichts dran – und doch nähren sie Zweifel und bereiten manchen Menschen echte Probleme, weil sie ihnen den Zugang zum Glauben verstellen. „Ich würde ja gerne glauben“, sagen diese Leute dann. „Aber wie kann ich wissen, dass die Bibel die Wahrheit sagt? Bloß weil es die Bibel ist, muss doch nicht stimmen, was drin steht! Vielleicht haben sich das alles Menschen ausgedacht!“

Solche Gespräche enden meist damit, dass man von mir als Kirchenvertreter Beweise dafür verlangt, dass die Bibel vertrauenswürdig ist. „Beweise mir erst einmal, dass die Bibel wirklich Gottes Wort ist“ heißt es, „dann will ich ihr auch glauben. Beweise mir historisch–wissenschaftlich, dass Jesus genau diese Sätze gesagt hat. Widerlege alle meine Zweifel an der übernatürlichen Autorität dieses Buches. Denn erst dann kann ich glauben, was drinsteht.“

Dass ein solcher Beweis (schon aus ganz prinzipiellen Gründen) nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Man müsste ja eine Zeitmaschine haben, um ihn zu erbringen. Und so kann der, der Ansatzpunkte für seine Zweifel sucht, immer welche finden. Er meint dann vielleicht, die Bibel habe seiner kritischen Begutachtung nicht standgehalten. Doch in Wahrheit ist dieser Mensch nur einem großes Missverständnis aufgesessen. Denn wenn man diesen Zugang wählt – über eine äußere Beglaubigung den Wahrheitsgehalt der Bibel zu erweisen –, dann kann das zu nichts führen. Denn die Bibel leiht sich ihre Autorität weder von der Vernunft noch von der Wissenschaft, sondern ist selbst in der Lage, ihre Botschaft Geltung zu verschaffen durch das, was sie im Leser auslöst.

Mit anderen Worten: Die Bibel hat gar nicht die Absicht, durch Echtheitsbeweise zu imponieren, durch wissenschaftliche Expertisen, historische Zeugnisse oder päpstliche Dekrete. Sondern wenn, dann möchte die Bibel durch ihren Inhalt imponieren, der den Leser im Innersten berührt, der den Leser wandelt, ihn zum Glauben überführt, ihm die Wahrheit über sich selbst enthüllt, ihn niederschmettert und tröstet, ihn erschüttert und fesselt und zugleich befreit. Millionenfach ist es geschehen, dass die Schrift diese erstaunliche Wirkung entfaltet hat! Wo immer es aber geschieht, da braucht der Mensch keinen weiteren Beweis der Autorität, als eben den, den die Schrift selbst liefert, indem sie das Herz des Menschen trifft und darin den Glauben hervorbringt, den er vorher nicht hatte. Gottes Wort will also und braucht keine andere Autorität, als die, die ihm selbst innewohnt. Es bedarf keiner Beglaubigung durch fremde Instanzen, sondern hat die Macht, sich selbst durch seinen Inhalt – in einem Erweis „des Geistes und der Kraft“ – alle nötige Autorität zu verschaffen. Denn Gottes Wort vermag ein hartes Herz weich zu machen und ein trauriges Herz fröhlich. Gottes Wort kann Ängstlichen Mut verleihen und Törichten Weisheit. Es kann Hochmut in Demut verwandeln und Verwirrung in Klarheit.

Wer das aber am eigenen Leib erfahren hat, der weiß hinterher um die Autorität der Schrift – und niemand muss sie ihm mehr beweisen. Denn wenn Gott mich durch die Bibel berührt und getroffen hat, wie könnte ich dann noch daran zweifeln, dass sie sein Werkzeug ist? Habe ich diese Erfahrung erst einmal gemacht, dass Gott mich durch das biblische Wort im Herzen trifft und mich dabei zu sich neu in Beziehung setzt – wie könnte ich dann noch zweifeln, dass dies Buch sein Buch und diese Worte seine Worte sind? Es verhält sich darum mit der Bibel einfacher, als viele Menschen meinen: Sie ist kein Medikament, das man dem Apotheker zu liebe schlucken müsste, sondern man schluckt es, spürt die Wirkung und ist überzeugt aus Erfahrung.

Oder geht man ins Restaurant und fragt den Kellner, ob er im Voraus beweisen kann, dass es mir schmecken wird? Nein! Sondern man isst – und wenn es schmeckt, ist man überzeugt. Wenn’s aber nicht schmeckte, was würde es dann nützen, dass der Koch drei Sterne hat? Was würde es nützen, dass es den anderen Gästen schmeckt? Nichts! Da kann das Restaurant im Gourmet–Reiseführer noch so sehr gelobt werden: Solange mein eigener Gaumen anders urteilt, ist das ganz gleich. Denn überzeugen können mich nicht andere Feinschmecker, überzeugen können mich nicht der Koch oder der Kellner, sondern überzeugen kann mich nur die Speise selbst. Und – wenn sie den banalen Vergleich entschuldigen: Mit der Bibel ist es genauso. Man kann niemandem im Vorhinein beweisen, dass sie Gottes Wort ist. Und es wird auch von niemandem verlangt, dass er den Glauben schon mitbringen müsste, wenn er an die Bibel herantritt. Vielmehr darf jeder misstrauisch an die Bibel herangehen, darf abwarten, ob ihr Inhalt selbst zum Argument wird – und so Gott will, wird er durch diesen Inhalt den Glauben empfangen, den er vorher nicht hatte. Denn der Glaube kommt aus dem Wort der Schrift, das sich durch seine Wirkung selbst beglaubigt. Und eine andere als diese Beglaubigung sollte man auch gar nicht behaupten. Denn in Wahrheit glaubt keiner dem biblischen Wort, weil man ihm vorher die göttliche Herkunft der Texte bewiesen hätte. Sondern gerade umgekehrt wird ein Schuh draus: Weil die Schrift uns zu Gott neu in Beziehung gesetzt hat, darum glauben wir ihr. Und eben darum, weil die Schrift sich an uns als Gottes Werkzeug erwiesen hat, darum behaupten wir ihre göttlichen Herkunft und Autorität.

So stimmt es zwar, dass die historische Quellenlage das Leben Jesu betreffend sehr gut, und die Zeugen sehr glaubwürdig sind. Es stimmt auch, dass wir dank intensiver Forschungsarbeit den Urtext der Bibel zuverlässig rekonstruieren können. Man könnte ganz viele solche Argumente anführen. Aber wegen alledem glauben wir der Bibel nicht – und könnten auch nicht glauben, wenn ihre Botschaft uns nicht im Innersten berührt hätte.

Denn, um es noch einmal zu sagen: Die Autorität der Schrift liegt nicht in ihrem Alter, ihrer historischen Beglaubigung, ihrer kirchlichen Geltung oder ihrer übernatürlichen Entstehung, sondern schlicht in der Wirkmacht und Dynamik ihres Inhaltes. Dieser Inhalt, das Evangelium von Jesus Christus, verschafft sich selbst Geltung, indem er störrische und selbstverliebte Menschen zum Glauben überführt. Und wer das an sich erfährt, der braucht dann keinen weiteren Beweis. Denn wenn die Bibel bloß Menschenwort wäre, Erfindung der Jünger, Täuschung und Irrtum, wie könnte sie mich dann mit Gott in Beziehung bringen? Bringt sie mich aber in Beziehung mit ihm, und spüre ich das, so ist sie offenkundig mehr als Menschenwort – ist nämlich Gottes Werkzeug und verdient entsprechendes Vertrauen.

Was folgt aus alledem? Nun, es folgt einfach, dass wir uns mit den Zeitgenossen, die Beweise verlangen, nicht auf Scheingefechte einlassen und ihren verkehrten Ansatz nicht übernehmen sollten. Denn sowohl die Anhänger als auch die Kritiker der Bibel irren sich, wenn sie meinen, historisch–wissenschaftliche Erkenntnisse müssten der Bibel Glaubwürdigkeit verleihen. Nein, das müssen sie nicht! Denn die Bibel erweist ihre Autorität nicht irgendwo in der fernen Vergangenheit, sondern hier und heute. Hier und heute deckt die Bibel mein Elend auf. Hier und heute tröstet sie mich. Hier und heute erfahre ich, dass Gottes Wort Felsen zerschmeißt und Leben gebiert – einfach weil’s in mir selbst geschieht. Geschähe es aber nicht, so würden mir auch noch so gute historische Argument nicht helfen. Denn kein archäologischer Fund wird mir je die Glaubensentscheidung abnehmen.

Es gibt hier keine Fakten, hinter denen man sich verstecken und durch die man sich absichern könnte, sondern es gibt nur das Wort selbst, das uns zur inneren Erfahrung werden kann. Haben wir diese Erfahrung, so brauchen wir keinen weiteren Beweis. Haben wir sie aber nicht, so nützen auch Beweis nichts. Darum kann es Christen auch kalt lassen, wenn die Medien über angeblich glaubensstürzende „Enthüllungen“ berichten. Denn das Evangelium geht nicht auf geliehenen Krücken durch diese Welt. Nein. Gottes Wort hat die Macht, sich selbst als Gottes Wort zu erweisen, indem es den Hörer packt, wie Menschenworte ihn niemals packen könnten. Darum bedarf die Bibel auch nicht unserer Argumente, sondern ist selbst das beste Argument – durch den Erweis „des Geistes und der Kraft“.

 

 

 

 

 

Bild am Seitenanfang: St Luke writing

Master with the Parrot, Public domain, via Wikimedia Commons