II.

DIE SORGE DER NIEDRIGKEIT.

 

„Sorget nicht, was ihr anziehen werdet –

nach solchem allen trachten die Heiden.“

 

Diese Sorge hat der Vogel nicht. Die Sperlinge werden in Grauspatzen und Goldspatzen eingeteilt, aber dieser Unterschied, diese Einteilung, in geringe – vornehme, existiert nicht für sie oder für irgend einen von ihnen. Dem Vogel, der in der Schar voranfliegt oder zur Rechten fliegt, folgen wohl die anderen, darin gibt es einen Unterschied zwischen dem Vordersten und dem Hintersten, zwi-schen „zur Rechten“ oder „zur Linken“; aber der Unterschied: „gering – vornehm“ existiert nicht. Und im kühnen Schwunge des Fluges, wenn die Schar sich lieblich aufschwingt und in die lustigen Gestalten auflöst, wird auch zwischen dem Ersten und Letzten, zwischen zur Rechten und zur Linken, gewechselt. Und wenn die tausend Stimmen im Chor singen, so schlägt wohl einer den Ton an, diesen Unterschied gibt es unter ihnen; aber: „gering – vornehm“, der Unterschied existiert nicht, und frei lebt die Freude im Wechsel der Stimmen. Es freut „den Einzelnen“ so unbeschreiblich im Chor mit den anderen zu singen, und doch singt er nicht, um die anderen zu erfreuen; er freut sich selbst am eigenen Ge-sang und an dem der anderen, bricht darum auch ganz willkürlich ab, hält einen Augenblick inne, bis es ihn wieder gelüstet mit einzustimmen – und sich selbst zu hören! So hat denn der Vogel nicht diese Sorge. Woher kommt das nun? Es kommt davon, daß der Vogel das ist, was er ist, zufrieden damit, er selbst zu sein, mit sich selbst befriedigt. Der Vogel weiß es kaum deutlich oder ist kaum ganz im Reinen mit sich selbst darüber, was er ist, um so weniger weiß er, daß er etwas derartiges von anderen wissen sollte. Aber er ist zufrieden mit sich selbst und mit dem, was er ist – was dies fürs erste auch sei. Denn darüber hat er keine Zeit nachzudenken, oder auch nur damit anzufangen, so vergnügt ist er, das zu sein, was er ist. Um zu sein, um Freude am Dasein zu haben, muß er nicht den langen Umweg machen, daß er zuerst etwas über die anderen erfährt, um da-durch zu erfahren, was er selbst ist. Nein, er hat das Seine aus erster Hand, er gewinnt rasch einen Vorsprung auf dem vergnüglichsten Richtwege, er ist, was er ist. Für ihn gibt es keine Frage über „Sein oder Nichtsein“, mit Hilfe des Richt-weges entgeht er allen diesen Unterschiedssorgen. Ob er ein Vogel ist, wie alle anderen Vögel, oder auch nur wie alle Vögel seiner Gattung, ob er seinesglei-chen hat, an das alles denkt er gar nicht, so ungeduldig ist er in seiner Freude, „zu sein“. Kein junges Mädchen, das auf dem Sprunge steht, wenn es zum Tanz soll, kann so ungeduldig sein, von der Stelle zu kommen, wie der Vogel es ist, mitten im Sein zu stehen, das zu sein, was er ist. Denn er hat keinen Augenblick, auch nicht den kürzesten, wegzugeben, wenn ihn derselbe aufhalten sollte, „zu sein“; der kürzeste Augenblick würde für ihn ein zeittötender, ewiglanger sein, wenn er in demselben nicht sein dürfte, was er ist, er würde vor Ungeduld ster-ben, wenn derselbe ihm gegenüber den geringsten Widerspruch dagegen erhe-ben würde, ohne weiteres das sein zu dürfen, was er ist. Er ist, was er ist, aber er ist; er läßt fünf gerade sein, und so ist er! Das ist doch wohl so! Sahst du auch nicht des königlichen Vogels stolzen Flug, wenn du auch nur den kleinen Vogel auf einer Ähre sitzen und sich schaukeln siehst, indes er sich mit Singen unter-hält: Ist da wohl die geringste Spur von Sorge um der Niedrigkeit, um des Gering-seins willen! Denn du wirst doch nicht dagegen einwenden, was ja gerade das Lehrreiche ist, daß er hoch auf dem Ast, hochgestellt, vornehm ist! Und willst du das, so nimm den Ast näher in Betracht, auf dem er sitzt. Lebhafter als die Lilie, in der Freude „zu sein“, ist der Vogel; doch ganz so wie die Lilie in unschuldiger Selbstzufriedenheit. Sahst du denn nicht die prachtvolle Lilie, die in all ihrer Herrlichkeit demütig emporragt, – indes du daneben die unscheinbare siehst, die in einem Graben steht und mit dem Winde scherzt als wäre er ihresgleichen? Wenn du sie siehst, nachdem ein Unwetter alles getan hat, um sie ihre Unbedeu-tendheit fühlen zu lassen – wenn du sie also betrachtest, im Augenblick, wo sie den Kopf wieder vorstreckt, um zu sehen, ob es denn nicht bald wieder schön Wetter werden will – meinst du, daß die geringste Spur von Sorge um die Niedrigkeit in ihr ist? Oder wenn sie am Fuße des mächtigen Baumes steht und mit Staunen zu ihm emporschaut – meinst du, daß die geringste Spur von Sorge der Niedrigkeit bei dieser, der staunenden Lilie, sich findet? Oder glaubst du, sie würde sich geringer vorkommen, wenn der Baum noch einmal so groß wäre? Ist es nicht vielmehr so, als bildete sie sich in aller Unschuld ein, daß alles um ihret-willen da sei?

So leicht hat es der Vogel und die Lilie, zu existieren, so leicht finden sie sich da hinein, „zu leben“, so natürlich wird ihnen der Anfang oder so leicht fällt es ihnen, zum Anfangen zu kommen. Denn dies ist der Lilie und des Vogels glückliche Vergünstigung, daß es ihnen so leicht gemacht ist, mit dem Existieren anzufan-gen, daß sie, sobald sie geworden sind, auch den Anfang dazu gemacht haben. Sie sind sogleich in voller Fahrt, zu sein, so daß es gar nicht nötig ist, daß etwas dem Anfange vorausgehe, sie gar nicht versucht werden mit jener unter den Menschen so viel besprochenen und so gefahrvoll geschilderten Schwierigkeit, der Schwierigkeit des Anfangs.

Aber wie ist denn hierin der Vogel der Lehrmeister, wo ist der Anknüpfungspunkt für seinen Unterricht? Liegt er nicht darin: den Umweg nach dem Anfangen –

d. h. nachdem man den Anfang gefunden hat – diesen Umweg also, der so sehr lang werden kann, so kurz als möglich zu machen, um so bald als möglich zu sich selbst zu kommen, für sich selbst zu sein?

Diese Sorge hat auch der niedrigstehende Christ nicht! Doch ist er darin vom Vogel verschieden, daß er erst in dieser Schwierigkeit des Anfangens versucht werden muß; denn ihm ist der Unterschied “gering – vornehm“ bekannt! Er weiß, – und er weiß, daß die anderen dasselbe von ihm wissen – daß er ein geringer Mensch ist, und er weiß, was das sagen will. Er weiß auch, was unter des Erden-lebens Vorzügen verstanden wird, wie diese so sehr verschieden sind; ach, und daß sie alle ihm verweigert sind, daß sie, während sie sonst da sind, um auszu-drücken, was die anderen in diesen Vorzügen sind, im Verhältnis zu ihm gleich-sam nur da sind, um zu bezeichnen, wie gering er ist. Denn mit jedem Vorzuge, den der Vornehme sich hinzufügt, wird er um so vornehmer; und mit jedem Vorzuge, von dem der Geringe eingestehen muß, daß ihm derselbe versagt ist, wird er in gewisser Hinsicht um so geringer. Was dazu da ist, um zu bezeichnen, wieviel der Vornehme ist, das scheint auf der anderen Seite dazu da zu sein, um zu bezeichnen, wie wenig der Geringe ist. – O, schwieriger Anfang, um zum „Existieren“ zu kommen: Schon zu existieren, dann aber erst etwas zu werden, um recht zu existieren – welch schlau verborgene Schlinge, die für keinen Vogel gestellt wird! Denn es sieht ja aus, als müßte der Mensch, um anzufangen, er selbst zu sein, erst damit fertig werden, was die anderen sind, und dadurch erst erfahren, was er denn selbst ist – um dann erst auch das zu sein! Doch, wenn er dieser Verblendung in die Falle geht, so kommt er gerade nie dazu, er selbst zu werden. Er geht dann wohl immer vorwärts, wie der, der längs einem Wege geht, von dem die Vorübergehenden sagen, daß er ganz richtig zur Stadt führe, aber ihm zu sagen vergessen, daß er umkehren muß, wenn er „zur“ Stadt will. Denn er geht wohl den Weg, der zur Stadt führt, aber er selbst geht auf diesem Wege von der Stadt weg. Doch der geringe Christ geht nicht in diese Falle, mit Glaubens Augen sieht er darauf, mit des Glaubens Hurtigkeit ist er, der Gott sucht, darin, im Anfangen, ist er vor Gott – er selbst, damit zufrieden, er selbst zu sein! Er hat von der Welt oder von den anderen erfahren, daß er ein geringer Mensch ist, aber er hat sich diesem Wissen nicht hingegeben, er verliert sich nicht weltlich in demselben, geht nicht auf darin. Dadurch, daß er mit der dem Ewigen in uns eigenen Zurückhaltung sich zu Gott hält, ist er „er selbst“ ge-worden. Er ist wie der, welcher zwei Namen hat, den einen für alle anderen, und den anderen für seine Nächsten. In der Welt, im Umgang mit den anderen ist er der geringe Mensch, für etwas anderes gibt er sich nicht aus, und für etwas anderes wird er auch nicht gehalten; aber vor Gott ist er – er selbst. In der Be-rührung des Umganges sieht es stets aus, als würde er jeden Augenblick darauf warten, von den anderen zu erfahren, was er jetzt in diesem Augenblick ist. Aber er wartet nicht; er eilt damit vor Gott zu sein, zufrieden, vor Gott er selbst zu sein. Er ist ein geringer Mensch in der Menschenmenge, und was er auf diese Weise ist, hängt von Verhältnissen ab; aber darin, er selbst zu sein, ist er von der Menge nicht abhängig, er ist vor Gott – er selbst. Denn von „den anderen“ erfährt ein Mensch natürlich doch nur, was die anderen sind – auf diese Weise will die Welt einen Menschen darum betrügen, er selbst zu werden! „Die anderen“ wissen wiederum auch nicht, was sie selbst sind, sondern stets nur, was „die anderen“ sind. Es ist nur einer, der sich selbst ganz kennt, der an und für sich weiß, was er selbst ist, das ist Gott; und er weiß auch, was jeder Mensch in sich selbst ist, denn das ist er gerade einzig und allein dadurch, daß er „vor Gott“ ist. Der Mensch, der nicht vor Gott ist, ist auch nicht er selbst, was man nur sein kann, indem man in demjenigen ist, der an und für sich ist. Man kann, indes man für sich selbst ist – indem man in demjenigen ist, der an und für sich ist – auch in anderen oder für andere sein; aber man kann nicht, indem man nur für andere ist, für sich selbst sein.

Der geringe Christ ist vor Gott er selbst. Auf diese Weise ist der Vogel nicht er selbst; denn der Vogel ist, was er ist. Mit Hilfe dieses Seins ist er in jedem Augen-blick an der Schwierigkeit des Anfangens vorbeigeschlüpft. So erreicht er aber auch nicht des schwierigen Anfanges herrliches Ende, – in innerer Verdoppelung des (Selbstbewußtseins) er selbst zu sein. Der Vogel ist wie ein Einer; der Mensch, der er selbst ist, ist mehr als ein Zehner. Der Vogel entgeht glücklich der Schwierigkeit des Anfangens, er bekommt daher keine Vorstellung davon, wie gering er ist. So ist er ja gerade (in Wahrheit) ohne Vergleich geringer als der-jenige, welcher es weiß, wie gering er ist. Die Vorstellung der Niedrigkeit existiert nicht für den Vogel; aber der geringe Christ existiert nicht mit seinem Wesen für diese Vorstellung; er will nicht wesentlich für dieselbe existieren, denn wesentlich (existentiell, nicht ideell) ist er und will er vor Gott er selbst sein. Der Vogel ist also eigentlich der geringe. Der geringe Christ ist im Gegensatz zu seiner Niedrigkeit „er selbst“, ohne doch deshalb törichter Weise aufhören zu wollen, der geringe Mensch zu sein, der er im Verhältnis zu andern ist; er ist in der Niedrig-keit er selbst! Und auf diese Weise ist der geringe Christ in Niedrigkeit ohne die Sorge der Niedrigkeit. Denn worin besteht die Niedrigkeit? Im Verhältnis zu „den anderen“. Aber worin ist ihre Sorge begründet? Darin, nur im Vergleich zu anderen zu existieren; darin, von nichts anderem zu wissen, als vom Verhältnis zu den anderen. Der Vogel weiß nichts vom Verhältnis zu den anderen, und insofern ist er nicht gering, und wiederum insofern ohne die Sorge der Niedrig-keit; er weiß aber natürlich auch nichts davon, daß er ein höheres Verhältnis haben kann. Und was ist denn der geringe Christ, der vor Gott „er selbst“ ist?

Er ist „Mensch“! Insofern er Mensch ist, ist er in gewissem Sinn wie der Vogel, welcher das ist, was er ist. Doch dabei wollen wir hier nicht länger verweilen.

Er ist aber zugleich Christ, was ja schon in der Frage liegt, was der geringe Christ ist. Insofern ist er nicht wie der Vogel. Denn der Vogel ist, was er ist. So kann man aber nicht Christ sein. Ist man Christ, so muß man es geworden sein. Der geringe Christ ist also in der Welt etwas geworden. Der Vogel kann nicht etwas werden, er ist, was er ist. Der geringe Christ war, wie der Vogel, Mensch, dann wurde er aber Christ. Er wurde etwas in der Welt. Und er kann immer mehr und mehr werden; denn er kann immer mehr und mehr Christ werden. Als Mensch war er nach Gottes Bild geschaffen; aber als Christ hat er Gott zum Vorbilde. Diesen beunruhigenden Gedanken, der einen in einem fort aufruft – ein Vorbild, den kennt der Vogel nicht; er ist, was er ist, nichts, nichts stört ihm dieses sein Sein. Ja, es ist wahr, nichts stört dasselbe, auch nicht der selige Gedanke, Gott zu seinem Vorbilde zu haben. Ein Vorbild ist allerdings eine Aufforderung, aber welche Seligkeit! Wir reden ja schon von Glück, wenn wir sagen, daß im Dichter ein Etwas ist, das ihn zum Singen und Sagen auffordert. Aber das Vorbild fordert noch mächtiger, drängt denjenigen noch stärker, dem es vor die Augen tritt, für den es existiert. Das Vorbild ist eine Verheißung, und keine andere ist so sicher, denn das Vorbild ist ja (auch) die Erfüllung! – Für den Vogel gibt es kein Vorbild, aber für den geringen Christen existiert das Vorbild, und er existiert für sein Vorbild – er kann stets dazu gelangen, demselben mehr und mehr gleich zu werden. Der geringe Christ, der vor Gott „er selbst“ ist, ist als Christ für sein Vorbild da. Er glaubt, daß Gott auf Erden gelebt hat, daß er sich in geringen und armen Verhältnissen, ja in Unehre hat gebären lassen und darnach mit dem einfachen Manne, der sein Vater genannt wurde, und mit der verachteten Jung-frau, die seine Mutter war, gelebt hat. Daß er alsdann in der geringen Gestalt eines Knechtes umherwanderte, von anderen geringen Leuten nicht zu unter-scheiden war, nicht einmal durch seine auffallende Niedrigkeit, bis er im äußer-sten Elend endigte, gekreuzigt wie ein Verbrecher – und dann allerdings sich einen Namen hinterließ! Aber des geringen Christen Begehren ist ja nur, im Leben und im Tode sich seinen Namen aneignen zu dürfen, oder einen Namen nach ihm. Der geringe Christ glaubt, wie es im Evangelium erzählt wird, daß er geringe Menschen zu seinen Jüngern wählte, Menschen von einfachstem Stande, und daß er für seinen Umgang diejenigen aufsuchte, welche die Welt verstieß und verachtete. Er glaubt, daß er unter den verschiedenen Wechsel-fällen seines Lebens, als die Menschen ihn hoch erhöhen wollten, und als sie ihn, wo möglich, noch tiefer erniedrigen wollten, als er sich selbst erniedrigt hatte, – den geringen Menschen treu blieb, an die er mit näheren Banden gebunden war, den geringen Menschen, die er an sich gefesselt hatte, den verachteten Men-schen, die man aus der Synagoge ausstieß, weil er ihnen geholfen hatte. Der geringe Christ glaubt, daß dieser geringe Mensch, oder daß dieses sein Leben in Niedrigkeit, gezeigt hat, was ein „geringer Mensch“ zu bedeuten hat, ach! und was ein, menschlich geredet, vornehmer Mensch doch eigentlich zu bedeuten hat! Wie unendlich viel es bedeuten kann, ein geringer Mensch zu sein, und wie unendlich wenig ein vornehmer Mensch zu sein, wenn man nicht etwas anderes zugleich ist. Der geringe Christ glaubt, daß dieses Vorbild gerade für ihn da ist, für ihn, der ja ein geringer Mensch ist, vielleicht mit Armut und drückenden Verhältnissen kämpfend, oder für ihn, den noch Geringeren, den Verachteten und Verstoßenen. Er gesteht es wohl, daß er sich freilich nicht in dem Falle befindet, diese übersehene oder verachtete Niedrigkeit selbst gewählt zu haben, und insofern dem Vorbilde nicht gleicht. Aber dennoch tröstet er sich damit, daß das Vorbild für ihn da ist, das Vorbild, das mit Hilfe der Niedrigkeit, sich ihm voll Erbarmen gleichsam aufnötigt, als wollte es sagen: “Geringer Mensch, siehst du nicht, daß dieses Vorbild für dich da ist?“ Wohl hat er nicht mit eigenen Augen das Vorbild selbst gesehen, er glaubt aber, daß es doch da gewesen ist. Da hätte es ja in einem gewissen Sinne auch nichts zu sehen gegeben, – außer der Niedrigkeit (denn die Herrlichkeit, die muß geglaubt werden!); und von der Niedrigkeit kann er sich schon eine Vorstellung machen! Er hat das Vorbild nicht mit eigenen Augen gesehen, er macht auch keinen Versuch, sich durch die Sinne ein solches Bild auszumalen. Doch sieht er oft das Vorbild. Denn jedesmal, wenn er in Glaubensfreudigkeit über der Herrlichkeit dieses Vorbildes seine Armut, seine Niedrigkeit, sein Verachtetsein ganz vergißt, dann sieht er das Vorbild – und dann sieht er selbst annähernd aus wie das Vorbild. Wenn nämlich in einem solchen seligen Augenblick, wo er in sein Vorbild verloren ist, ein anderer Mensch auf ihn sieht, da sieht dieser andere Mensch nur einen geringen Mann vor sich – so war es ja auch gerade mit dem Vorbilde, man sah nur den geringen Mann! Er glaubt und hofft, sich mehr und mehr der Ähnlichkeit mit diesem Vorbilde zu nähern, das sich erst jenseits in seiner Herrlichkeit offenbaren wird; denn hier auf Erden kann es nur in Niedrigkeit da sein und wird nur in der Niedrigkeit gesehen. Er glaubt, daß dieses Vorbild, wenn er nur beständig darnach ringt, ihm ähnlich zu werden, ihn zum zweitenmal und in noch nähere Verwandtschaft zu Gott bringt, so daß er Gott nicht nur zum Schöpfer hat, wie alle Geschöpfe, sondern daß er Gott zum Bruder hat. Aber dann ist ja dieser geringe Christ etwas sehr Hohes? Ja, gewiß ist er es, etwas so hoch Erhöhtes, daß man den Vogel gegenüber ihm ganz aus den Augen verliert. Er ist wie der Vogel gering, ohne die Sorge der Niedrigkeit, gedrückt in gewisser Hinsicht, wie der Vogel es nicht ist, mit dem Bewußtsein seiner Niedrigkeit – dennoch aber hoch erhöht. Von der Niedrigkeit redet er niemals, und dann nie in betrübter Weise, dieselbe erinnert ihn ja nur an das Vorbild, während er an des Vorbildes Hoheit denkt – und wenn er das tut, dann erinnert er selbst annähernd an das Vorbild!

Der geringe Heide dagegen hat diese Sorge. Der geringe Heide ist ohne Gott in der Welt, und folglich nie wesentlich er selbst, was man nur ist, wenn man „vor Gott“ ist, folglich auch nie damit zufrieden, er selbst zu sein, (was man doch wohl nicht ist, wenn man nicht für sich selbst ist). Er ist nicht er selbst, nicht zufrieden, er selbst zu sein, wie der Vogel mit dem, was er ist; er ist unzufrieden mit dem, was er ist – sich selbst eine Plage, seufzt er darüber und klagt sein Schicksal an!

Was ist er denn? Er ist bloß der Geringe, gar nichts anderes; d. h. er ist, wozu „die anderen“ ihn machen, und wozu er sich selbst macht, indem er nur „für andere“ da ist. Seine Sorge ist: Nichts (Wahres, Ewiges) zu sein, ja (im vollen ewigen Sinne) gar nicht zu „sein“! So weit entfernt ist er davon, zu sein wie der Vogel, welcher das ist, was er ist. Und daher ist seine Sorge wiederum: Etwas in der Welt zu werden. Für Gott da zu sein, das ist nichts, meint er – das nimmt sich auch nicht aus in der Welt, weder im Gegensatz noch im Vergleich mit anderen. Mensch sein, das ist nicht etwas sein, meint er – das ist ja nichts sein; denn darin ist ja gar kein Unterschied oder Vorzug vor allen anderen Menschen. Christ sein, das ist nicht „etwas“ sein, meint er – das sind wir ja alle. Aber Justizrat werden – das wäre etwas werden! Und etwas muß er doch um alles werden, es ist rein zum verzweifeln, gar nichts zu sein!

„Das ist zum verzweifeln“, er redet, als wäre er nicht schon verzweifelt. Der ge-ringe Heide ist verzweifelt, und die Verzweiflung ist seine Sorge. Man nimmt an, daß der Geringe in jedem Staat gewöhnlich von den Lasten befreit ist, die die Bevorzugteren tragen müssen. Aber der verzweifelte Geringe, der Heide, will nicht, selbst wenn er es ist, (innerlich) befreit sein, er trägt die schwerste von allen Lasten. Man sagt, der König trage die Last der Krone, der Hochgestellte die Verantwortung der Regierung, derjenige, dem viele anvertraut sind, der Fürsorge Last. Aber dafür ist dann der König auch König, der Hochgestellte auch der Hochgestellte, der betraute Mann auch der Betraute. Aber der verzweifelte geringe Mann, der Heide, er schleppt sich tot an der Last dessen, was er nicht ist, er – ja das ist Wahnsinn – er überhebt sich an dem, was er nicht trägt. Ob dem so ist, daß der König, als das Fundament, alle die anderen trägt, oder ob es alle die anderen sind, die den König, als den Obersten tragen, wollen wir hier nicht untersuchen – aber der verzweifelte geringe Mann, der Heide, er trägt alle die anderen. Die ungeheure Last „,alle die anderen“, drückt auf ihn, und zwar mit dem doppelten Gewicht der Verzweiflung. Denn nicht durch die Vorstellung, daß er etwas ist, drückt sie ihn, nein, sie drückt ihn durch die Vorstellung, daß er nichts ist. Wahrlich, so unmenschlich hat kein Staat und kein Verein gegen irgend einen Menschen gehandelt, daß er verlangte, einer sollte unter der Bedingung, nichts zu sein, aller Last tragen. So unmenschlich handelt nur der verzweifelte geringe Mensch, der Heide, gegen sich selbst. Tiefer und tiefer versinkt er in die verzweifelte Sorge, aber er findet dabei keinen Halt für den Fuß, um dies zu tragen – er ist ja nichts, worüber er sich zu seiner eigenen Qual durch die Vor-stellung, was „die anderen“ sind, bewußt wird. Lächerlicher und lächerlicher, ach nein, jämmerlicher und jämmerlicher, oder richtiger gottloser und gottloser, mehr und mehr Unmensch, wird er in seinem törichten Streben, doch „etwas“ zu werden; etwas, wenn es auch noch so wenig wäre, aber doch etwas, was nach seiner Vorstellung wert wäre, zu sein.

So bricht der verzweifelte geringe Mann, der Heide, unter der ungeheuren Last des Vergleichens, die er sich selbst auflegt, zusammen. Das, ein geringer Mann zu sein, was für den geringen Christen mit zum Christsein gehört, wie die kaum hörbare schwache Anhauchung vor dem Buchstaben mit zum Buchstaben ge-hört, welcher eigentlich allein gehört wird – und in dieser Weise redet der geringe Christ von seiner irdischen Niedrigkeit, er redet nur darüber, indem er ausspricht, daß er Christ ist – dieses ist für den Heiden Tag und Nacht seine Sorge, damit beschäftigt sich all sein Dichten und Trachten! Ohne Ewigkeitsaussicht, nie von des Himmels Hoffnung gestärkt, nie er selbst – weil von Gott verlassen, lebt er verzweifelt, als wäre er zur Strafe verurteilt, diese 70 Jahre zu leben, gemartert von dem Gedanken, nichts zu sein, gemartert von der Erfolglosigkeit seines Strebens, etwas zu werden. Für ihn hat der Vogel nichts Tröstendes, der Himmel keinen Trost – und das versteht sich, das Erdenleben hat dann für ihn auch keinen Trost! Von ihm kann man nicht sagen, daß er an die Erde gefesselt bleibt, von der Herrlichkeit des Erdenlebens überredet, das ihn dazu brachte, den Himmel zu vergessen. Nein, es ist eher so, als täte die Zeitlichkeit alles, um ihn von sich zu stoßen dadurch, daß sie ihn zu nichts macht. Und doch will er der Zeitlichkeit angehören, unter den elendesten Bedingungen; er will sie nicht fahren lassen, er klammert sich an sie fest durch das Nichtssein, fester und fester, weil er vergeblich sucht, weltlich etwas zu werden; er klammert sich mit Verzweifelung fester und fester an das – was er bis zur Verzweifeltheit nicht sein wird! Und so lebt er, nicht auf der Erde, sondern als ob er in die Unterwelt hinuntergestoßen wäre. Sieh, jener König, den die Götter straften, er litt die entsetzliche Qual, daß sich ihm jedesmal, wenn ihn hungerte, die lieblichsten Früchte zeigten, wenn er aber nach ihnen griff, so verschwanden sie. Der verzweifelte geringe Mann, der Heide, leidet noch qualvoller am Selbstwiderspruch. Denn während er dadurch gemartert, nichts zu sein, vergeblich sucht etwas zu werden, ist er eigentlich nicht bloß etwas, sondern viel. Es sind nicht die Früchte, die sich ihm entziehen, er ist es selbst, der sich auch der Möglichkeit entzieht, das zu sein, was er ist. Dann ist er nicht Mensch – und kann nicht Christ werden!

Laßt uns nun zum Schluß an den Vogel denken; er ist mit im Evangelium, und soll auch mit in der Rede sein. Der geringe Vogel ist überhaupt ohne die Sorge der Niedrigkeit; der geringe Christ ist in Niedrigkeit ohne die Sorge der Niedrig-keit, und so – hoch erhöht über alle irdische Hoheit. Der geringe Heide ist in der Sorge tief unter sich selbst, wäre er auch der Geringste. Der Vogel sieht nicht genau was er ist, der geringe Christ sieht genau was er ist als Christ, der geringe Heide starrt bis zur Verzweifelung darauf, daß er gering ist. „Was! – gering!“ sagt der Vogel, “laß uns nie an so etwas denken, vor dem fliegt man davon.“ „Was! – gering!“ sagt der Christ, „ich bin Christ!“ „Ach! – gering!“ sagt der Heide. – „Ich bin was ich bin“, sagt der Vogel; „was ich werden soll, ist noch nicht offenbar“, sagt der geringe Christ; „ich bin nichts, und ich werde nichts“, sagt der geringe Heide! „Ich bin“, sagt der Vogel; „im Tode beginnt das Leben“, sagt der geringe Christ; „ich bin nichts, und ich werde im Tode zu nichts“, sagt der geringe Heide. Im Vergleich mit den geringen Christen ist der Vogel ein Kind; im Vergleich mit dem geringen Heiden ist er ein glückliches Kind. Wie der freie Vogel, wenn er sich am höchsten aufschwingt in der Freude, da zu sein, so hebt sich der geringe Christ noch höher. Wie der gefangene Vogel, wenn er mutlos und voller Angst sich im Netze zu Tode zappelt, so entseelte sich der geringe Heide selbst, noch elender, in der Gefangenschaft des Nichts. Es gibt nach der Lehre des Christentums nur eine Erhöhung, die, Christ zu sein; alles andere ist gering, Niedrigkeit und Hoheit. Es gibt, wenn man gering ist, nur einen Weg zur Hoheit, Christ zu werden. Den Weg kennt der Vogel nicht, er bleibt, was er ist. Dann gibt es aber noch einen anderen Weg, den kennt der Vogel aber auch nicht, den geht der Heide. Des Vogels Weg zu sein ist rätselhaft, er fand sich nie; des Christen Weg ist von ihm gefunden, der der Weg ist, und den ist’s selig zu finden; des Heiden Weg endigt in Finsternis, keiner fand den Rückweg auf demselben. Der Vogel entgeht glück-lich jenem Umwege und aller Gefahr; der geringe Christ geht nicht auf dem Umwege und wird selig in die Herrlichkeit gerettet; der geringe Heide wählt den Umweg und geht so „seinen eigenen Weg“ zum Verderben! 

 

- Fortsetzung -