Anstoß und Ärgernis
Ärgern sie sich viel? Ärgern sie sich oft? Oder ärgern sie vorwiegend die anderen? Nichts ist alltäglicher als der geregelte Ärger. Und wir kennen ihn von beiden Seiten. Denn wir nehmen Anstoß an dem, was andere tun. Und andere stoßen sich an dem, was wir tun. Eigentlich ist der Ärger nicht willkommen. Denn er verdirbt uns die Laune und stört die Gemeinschaft. Darum sagt man’s schon den Kindern: „Ärgere dich nicht!“ Oder: „Ärgere deine Schwester nicht!“ Aber ließe sich der Ärger wirklich vermeiden? Und ist er immer schädlich? Ist er nicht manchmal auch nötig? Natürlich gibt es Menschen, die immer Ärger machen, weil sie keine Rücksicht nehmen. Und es gibt auch solche, mit denen man nie Ärger hat, weil sie immer gleich nachgeben. Die meisten würden aber wohl sagen, dass man in manchen Fällen (um der Wahrheit oder um einer wichtigen Sache willen) Anstoß erregen muss – dass man es aber dort, wo‘s nicht unbedingt sein muss, eher lassen sollte. Es auf einen Streit ankommen zu lassen, ist nicht immer richtig. Dem Streit aus dem Weg zu gehen, aber auch nicht. Und so stellt sich die Frage, wo zwischen beidem die Linie verläuft, und wie man „vermeidbaren“ und „unvermeidlichen“ Ärger unterscheiden kann. Schon das ist schwer! Und es wird noch schwieriger, wenn wir als Christen für das Evangelium einstehen. Denn da sind wir ja mit einer versöhnlichen Botschaft unterwegs. Wir laden ein zur Gemeinschaft mit Gott – und mit uns. Und wenn wir dabei Anstoß erregen oder untereinander zanken, weil ein Christ auf den andern schimpft, wirkt das abschreckend. So bemühen wir uns sowohl um ein klares Bekenntnis als auch um Harmonie. Als Christen versuchen wir in der Sache deutlich zu reden und im Ton verbindlich. Wir versuchen die Wahrheit stets unmissverständlich und doch auch in Liebe zu sagen. Das ist zumindest der Plan. Und trotzdem hat die Christenheit seit 2000 Jahren sowohl internen Ärger wie auch äußere Feinde, will allen Menschen eine Botschaft des Friedens bringen und gerät darüber doch ständig in Streit, trägt das Evangelium in die Welt hinaus und eckt immer wieder damit an. Ist das vermeidbar – oder ist es vielleicht um der Sache willen unvermeidlich? Wär’s beispielsweise vor 500 Jahren besser gewesen, dem Ärger und den Wirren der Reformation aus dem Weg zu gehen? Wär’s klüger gewesen, die katholischen Irrtümer zu dulden, um einer Spaltung der Kirche vorzubeugen? Die Reformatoren haben darüber nachgedacht, denn sie stritten nicht um des Streites willen. Und natürlich haben sie auch ins Neue Testament geschaut. Dort fanden sie aber, dass schon Jesus und seine Apostel vor demselben Problem standen – und dass sie dann sehr klar zwischen dem notwendigen und dem nicht-notwendigen Ärgernis unterschieden haben. Denn Jesus ist in eigener Person für viele Zeitgenossen ein „Ärgernis“ gewesen. Und er fand es trotzdem richtig, seine Botschaft auch dort zu verkünden, wo sie nicht auf Gegenliebe stieß. Die Pharisäer und Schriftgelehrten haben sich schwarz geärgert, wenn Jesus am Sabbat Kranke heilte und in göttlicher Vollmacht Sünden vergab. Sie fanden es unerträglich, wie frei Jesus mit dem mosaischen Gesetz umging, wie heftig er sie auch kritisierte und „Heuchler“ nannte. Der Provokateur aus Nazareth hat mit diesen Leuten stundenlang Streitgespräche geführt. Er hat sie in beleidigender Weise „Otterngezücht“ genannt. Und dass er dabei so selbstbewusst auftrat, dass er in Wortgefechten immer Recht behielt und vom Volk verehrt wurde, hat sie bis aufs Blut geärgert! Jesus ließ die Geistlichen seiner Zeit schlecht aussehen, weil er den Willen Gottes viel klarer zur Geltung brachte als sie. Seine Forderungen waren radikal. Und der Konflikt eskalierte, als Jesus die Händler aus dem Tempel vertrieb. Er hat genau gewusst, wie viele Feinde er sich damit macht. Aber hat er‘s deswegen unterlassen? Nein. Wie die Propheten des Alten Testaments legte Jesus den Finger in die Wunde, weil’s nötig war. Und da er vollmächtig die Wahrheit sprach, hat’s ihn nicht gekümmert, ob jemand an dieser Wahrheit Anstoß nahm. Sondern um Gottes Willen hat Jesus den ganzen Ärger in Kauf genommen – und hat um Gottes Willen nicht gefragt, ob es ihm Sympathien einträgt. Wo Missstände nicht benannt werden, kann sich nichts ändern. Die Wahrheit muss ans Licht, auch wenn sie vielen nicht willkommen sein mag. Denn das wahre Ärgernis ist ja nicht der, der entschlossen zum Glauben ruft, sondern der vom Glauben wegführt (Mt 18,6). Das Böse verdient keine Schonung. Man muss offen aussprechen, dass es hässlich ist. Und so hatte Jesus zwar keine Freude am Streit. Er hielt ihn aber für nötig – und nahm die Irritation seiner Zeitgenossen in Kauf. Für den Willen Gottes einzutreten, war ihm jeden Ärger wert. Und Widerstand zu wecken, gehörte von Anfang an zu seiner Sendung. Denn wir lesen, dass der Stein, den die Bauleute verworfen haben, zum Eckstein wurde. Christus selbst ist dieser Eckstein. Und er sagt: „Wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf wen er aber fällt, den wird er zermalmen“ (Lk 20,17-18). Simeon sagte über Jesus: „Dieser ist gesetzt zum Fall und zum Aufstehen für viele in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird“ (Lk 2,34). Jesus ist keineswegs gekommen, um Frieden zu bringen, sondern Entzweiung, weil man sich quer durch die Familien über seine Botschaft entzweien wird (Mt 10,34-36). Jesus spaltet also. An ihm scheiden sich die Geister. Und das nicht etwa aus Lust an der Provokation, sondern weil der Anstoß mit der Sache Jesu selbst gegeben ist, ja weil eine gottlose Welt sich an Gottes Gegenwart notwendig ärgern muss, und das Wort vom Kreuz niemals ihren Beifall finden kann. Das Wort vom Kreuz ist „den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“ (1. Kor 1,23). Denn nichts Anstößigeres lässt sich denken, als ein Messias, der nicht durch Kraft, sondern durch Schwäche auffällt. Nichts ist ärgerlicher, als ein Sohn Gottes, der am Kreuz schmachvoll getötet wird, während der Himmel dazu schweigt. Dass der höchste Herr für seine Knechte den Kopf hinhält, erscheint der Welt absurd. Und dass sie solch ein Opfer nötig hätte, empfindet sie als Beleidigung. Dass der Allerhöchste gering werden muss, um das Geringe zu erheben, will man nicht verstehen. Und gewöhnlich ist der Mensch auch viel zu stolz, um es auf sich zu beziehen! Doch genau darin besteht das Evangelium, so dass man sagen muss: Wer sich nicht dran ärgert, der hat’s nicht verstanden. Und wer’s versteht, findet es zumindest irritierend. Sich am Evangelium zu stoßen, ist notwendig und heilsam. Denn nur durch die ärgerliche Erfahrung, ein Gegenstand des Erbarmens – und demnach „erbärmlich“ – zu sein, lernen wir, auf fremde Gnade zu setzen. Und die damit verbundenen „Geburtsschmerzen“ will uns Christus nicht ersparen. Denn wo dieser Ärger produktiv wird, geht uns irgendwann ein Licht auf – und wir beginnen zu glauben. An Christus Anstoß zu nehmen, ist demnach unumgänglich. Es ist nicht bei jedem, aber doch bei vielen ein heilsamer Schmerz. Nur gilt das natürlich nicht von allem, was „anstößig“ erscheinen kann. Und so unterscheidet das Neue Testament zwischen einem produktiven und einem unproduktiven Ärger, wobei der Letztere nicht zum Glauben hin-, sondern vom Glauben wegführt. Und diesen Ärger gilt es zu vermeiden. Denn wenn sich einer gar nicht am Evangelium stört, sondern an uns Christen, weil wir’s nicht glaubwürdig vertreten, dann ist das sehr schlecht. Ein hartherziger Christ, der allzu streng über andere richtet und auf ihre Schwächen keine Rücksicht nimmt, ist kein gutes Aushängeschild. Der steht als Überbringer seiner Botschaft im Weg! Und wenn er selbst nicht lebt, was er fordert, kann das andere von genau dem Glauben abschrecken, den der Christ eigentlich verbreiten soll. Sein schlechtes Beispiel fällt dann auf Christus zurück. Und er richtet Verwirrung an, wo’s nicht sein müsste. Darum sagt Paulus (in dem Streit darüber, ob Christen Fleisch essen dürfen, das bei heidnischen Gottesdiensten rituell geschlachtet wurde), er fühle sich zwar durchaus frei, davon zu essen. Doch wenn er dadurch andere Christen verunsicherte und ihr Gewissen belastete, wolle er lieber nie mehr Fleisch essen, als dass ein nicht gefestigter Bruder seinetwegen zu Fall käme (1. Kor 8,1-13). Das leuchtet ein. Denn genau wie Christus will auch Paulus, dass möglichst viele gerettet werden. Und so möchte er in belanglosen Dingen, die man tun oder auch lassen kann, keinesfalls Anstoß erregen, damit nicht etwa ein negativer Eindruck auf Christus zurückfällt, oder jemand vom Glauben abgeschreckt wird (vgl. Röm 14,13; 1. Kor 10,31-33; 2. Kor 6,3-4; 1. Joh 2,10). Es gibt genug nötigen Ärger, der von selbst kommt, darum ist der unnötige zu vermeiden! Was heißt das aber konkret? Theologen der Reformationszeit haben versucht, eine Regel draus zu machen und kamen zu dem Schluss, dass es tatsächlich ein zweifaches Ärgernis gibt, nämlich ein „genommenes“ – und ein „gegebenes“. Was ist das genommene Ärgernis?„Wenn die Heuchler und Weisen dieser Welt oder die Gottlosen sich an der reinen und himmlischen Lehre Gottes und der Frommen, an guten Werken, oder ehrbaren und notwendigen oder gleichgiltigen – indifferenten – Handlungen, stoßen und ärgern. Das nennt man Ärgernis oder genommenen Anstoß“ (Jakob Heerbrand). Was ist dann aber ein gegebenes Ärgernis? „Es besteht darin, dass man durch falsche Lehre oder böses Exempel, entweder durch eine gottlose oder unnötige oder gleichgültige – indifferente – Tat, ohne Rücksicht auf die Schwachen zu nehmen, andern Anstoß gibt und ihnen schadet“ (Jakob Heerbrand). Mit anderen Worten: Redet und handelt einer recht und gut, und andere nehmen trotzdem Anstoß daran, sind sie selbst schuld. Und man darf das Gute und Wahre dann nicht etwa zurückhalten, nur damit sie sich nicht ärgern. Denn die Wahrheit ist wichtiger als die Narren, die sie nicht hören wollen. In dem anderen Fall aber redet und handelt einer schlecht, gibt schlechtes Beispiel und falsche Lehre. Und durch den so verursachten Ärger steht er dem Glauben anderer im Weg und bringt die zu Fall, die er eigentlich fördern, stützen und durch sein gutes Beispiel zu Christus führen sollte. Worin das erstgenannte, das unvermeidliche Ärgernis besteht, sehen wir an Jesus selbst: Als er kundtat, er sei „das Brot des Lebens“ und wer davon esse, werde leben in Ewigkeit, da hielten es viele der Hörer für eine „harte Rede“. Sie murrten darüber, ärgerten sich – und viele Jünger wandten sich von Jesus ab. Doch ist es ja nichts als die Wahrheit gewesen und musste so deutlich gesagt werden, damit die Übrigen begriffen, wer Jesus wirklich ist (Joh 6,48-59.66-69). Als Jesus vor dem Hohenpriester Kaiphas stand und gefragt wurde, ob er der Christus und Gottes Sohn sei, bejahte er das. Kaiphas zerriss vor lauter Empörung über diese „Lästerung“ seine Kleider und ärgerte sich maßlos. Aber hätte Jesus etwa lügen sollen, nur damit Kaiphas sich nicht aufregt (Mt 26,57-66)? Als Paulus nach Ephesus kam, wo man im Tempel Diana verehrte und mit den silbernen Bildnissen der Göttin gute Geschäfte machte – hat Paulus da nicht zurecht gesagt, was ein Mensch mit Händen hergestellt habe, könne keine Gottheit sein? Die Silberschmiede der Stadt wollten ihm dafür den Hals umdrehen. Aber war es des Apostels Schuld, dass sie die Wahrheit nicht vertrugen (Apg 19,23-40)? Als Jesus am Sabbat Kranke heilte, fanden die Pharisäer das skandalös und meinten, er entweihe den Feiertag. Jesus aber nimmt die Provokation in Kauf. Er zeigt ihnen, dass Gottes Güte Vorrang hat. Und das wäre nie so deutlich geworden, wenn Jesus sich aus Rücksicht auf die Pharisäer den Kranken entzogen oder sie auf den nächsten Werktag vertröstet hätte (Mt 12,9-14; Lk 13,10-17). Nach einem ähnlichen Konflikt kommen besorgte Jünger zu Jesus und sagen: „Weißt du auch, dass die Pharisäer an dem Wort Anstoß nahmen, als sie es hörten?“ Jesus aber ist wenig beeindruckt und antwortet: „Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, die werden ausgerissen“ (Mt 15,12-13). Wäre der Skandal noch größer geworden, wär’s Jesus auch egal gewesen. Denn er war nicht gekommen, um sich bei irgendwem beliebt zu machen, sondern um dem Willen Gottes Geltung zu verschaffen. Und wenn das zu Ärger und Aufsehen führt, zeigt es nur, wie sehr man sich schon vom Willen Gottes entfernt hat. Ein Ärger, der das sichtbar macht, ist gut und nötig! Und er kann nicht vermieden werden, weil‘s in der Natur der Sache liegt. Die Weisheit Gottes und die Torheit der Menschen können nicht geräuschlos zusammenfinden. Es muss da zu Reibungen kommen. Und man darf nicht alles beim Alten lassen, nur um das Geschrei zu vermeiden. Darum sollen wir heute auch genauso verfahren wie Jesus, dass wir seine Lehre ohne Scheu vortragen und wahrheitsgemäß vom Willen Gottes Zeugnis geben – mag sich darüber aufregen, wer will. Denn sollte das schon zu viel sein, dass wir Sünde „Sünde“ nennen und Irrglauben „Irrglauben“ – was für ein fauler Frieden wäre das? Riskieren wir aber den Streit mit den vielen, die Gottes Wort fälschen oder es gar nicht erst hören wollen, so klärt das die Fronten und jeder merkt, dass er sich entscheiden muss. Tun und reden wir also recht, und jemand nimmt Anstoß daran, so kommt das von ihm und ist nicht unsre Schuld. Denn er müsste ja an dem, was recht ist, nicht Anstoß nehmen. Einem anderen Anstoß zu geben, indem wir Unrecht tun, ist aber ein ganz andres Ding. Und das ist dringend zu vermeiden. Denn in dem Fall offenbart der Skandal ja wirklich dies Ärgerliche, dass wir lieblos und hart vorgehen, mit falscher Lehre oder schlechtem Beispiel. Und wenn wir das als Christen auch noch im Namen Christi tun, machen wir unsrem Herrn keine Ehre und tun ihm einen schlechten Dienst, denn statt Menschen zu ihm einzuladen, schrecken wir sie dann ab. Die Anfänger im Glauben und die Angefochtenen werden dadurch verunsichert, während die Feinde der Kirche umso leichteres Spiel haben, über unseren Glauben zu lästern. Der Prophet Nathan wirft das dem König David vor, nachdem er Ehebruch begangen hat. Er sagt: „Du hast die Feinde des Herrn durch diese Sache zum Lästern gebracht“ (2. Sam 12,13-14). Und auch Jesus findet drastische Worte, als er den Jüngern ein Kind zeigt und sie warnt: „Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist“ (Mt 18,6). Jesus versteht da keinen Spaß, denn er sammelt Seelen für das Himmelreich. Und wenn wir sie durch leichtfertiges Gerede oder mangelnde Liebe abschrecken, liefern wir dem Teufel eine herrliche Vorlage. Denn die Außenstehenden versuchen an uns abzulesen, ob unser Glaube etwas taugt. Und sind wir dann ebenso kleinlich und hartherzig, gierig, eitel und albern wie der Rest der Welt, haben unsere Gegner leichtes Spiel. Mit anderen Worten: So wenig es uns Sorgen machen muss, wenn wir jemand durch das Evangelium irritieren, so sehr sollten wir uns scheuen, es durch unser schlechtes Beispiel zu tun. „Bringe nicht … den ins Verderben, für den Christus gestorben ist“ sagt Paulus, „Es soll doch nicht verlästert werden, was ihr Gutes habt“ (Röm 14,15-16). Und so ist tunlichst zu vermeiden, dass ein Mensch, den Christus zu sich zieht, sich von uns zurückgestoßen fühlt, so dass er, während er Christus sucht, über das Ungeschick seiner Jünger stolpert und zu Fall kommt. Was heißt das aber konkret? Die Reformatoren haben gefolgert, dass man jeden Streit vermeiden soll, der nicht um des Evangeliums willen nötig ist. Und infolgedessen haben sie den Gemeinden vor Ort große Freiheit eingeräumt. Die schriftgemäße Lehre muss überall gewährleistet sein – wie auch die rechte Verwaltung der Sakramente. Denn da geht es um das Heil. Aber „mehr“ ist zur Einheit der Kirche nicht nötig, sondern eben dies ist „genug“ (CA VII: „satis est“). Und über den Rest soll man tunlichst nicht streiten. Denn ob man lieber alte oder neue Lieder singt, ob die Pfarrer schwarze oder bunte Gewänder tragen, ob ganz viele Kerzen auf den Altar stehen oder gar keine – das kann jede Gemeinde halten, wie sie will. Was den Glauben betrifft, erlauben wir uns keine Scherze. Da müssen wir hellwach und streng sein. Das Heilige ist heilig zu halten. Und für das klare Bekenntnis riskiere man jederzeit einen Streit. Aber unnötiger Ärger darüber hinaus, der vielleicht nur Geschmacksfragen betrifft und trotzdem Menschen verschrecken kann, für die Christus gestorben ist, der ist von Übel. Und so müssen wir, wo es nicht um das Evangelium selbst geht, unsere angeborene Neigung zum Rechthaben gewaltig zügeln. An unsrer Botschaft sollen sich die Menschen ruhig stoßen, denn die kommt von Gott – aber bitte nicht an uns, die wir sie überbringen. Wenn das Evangelium Widerstand auslöst, liegt das in der Natur der Sache, ist unumgänglich und heilsam. Doch wenn die Irritation von unsrem Verhalten ausgeht, haben wir etwas falsch gemacht. Nun klärt diese „Faustregel“ nicht jeden Einzelfall – das ist mir sehr bewusst. Denn manchmal nimmt einer an der rechten Lehre nur darum Anstoß, weil man sie ihm wie einen nassen Lappen um die Ohren gehauen hat, in unverständlicher Form oder zur falschen Zeit. Und manchmal vermeidet man einen Anstoß, der nötig gewesen wäre, nicht aus Rücksicht auf die Schwachen, sondern aus Rücksicht auf sich selbst, weil man sich’s mit niemandem verderben will. Mancher verschweig die Wahrheit und meint damit ungeübte Hörer zu schonen, während er doch nur sich selbst schont und den Konflikt scheut, den er um des Evangeliums willen aushalten sollte. Und manchmal darf man selbst in gleichgültigen Fragen nicht nachgeben, damit nicht eine unbillige Forderung den Anschein des Rechts erhält (vgl. Gal 2,3-5). Manch einer tarnt seinen Widerstand in der Sache als Empörung gegen die angeblich unpassende Form der Mitteilung. Und manchmal bleibt offen, ob jemand, der kräftig und richtig predigt, mehr an der Durchsetzung der Wahrheit oder am Rechthaben interessiert ist. Wer die Wahrheit scheut, gibt auch gern dem Überbringer die Schuld! Doch obwohl diese Komplikationen nicht zu leugnen sind, bleibt der Grundsatz richtig, dass wir das Gute nicht verbergen dürfen, nur weil die Bösen sich drüber ärgern und aus Ärger über das Gute immer noch böser werden. Sie stoßen sich den Kopf an dem Fels, der Christus heißt, und behaupten anschließend, der Fels habe sie angesprungen! Doch das liegt an ihnen. Und wir sind nicht berufen, ihnen diese Krise zu ersparen. Sich an Christus zu reiben ist besser als jeder faule Frieden. Und darum sagt es Augustinus ganz zu Recht: „Wenn an einer Wahrheit Ärgernis genommen wird, ist es nützlicher, das Ärgernis entstehen zu lassen, als auf die Wahrheit zu verzichten.“
Bild am Seitenanfang:
Christus vertreibt die Wechsler aus dem Tempel (Ausschnitt)
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