August Friedrich Christian Vilmar (1800-1868):
Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik.
XI. Pastoraltheologie.
Die Anweisung zur Führung des geistlichen Amtes, wie sie auf den Universitäten gegeben zu werden pflegte und noch größtenteils gegeben zu werden pflegt, muss ich schon darum im Ganzen zu der Theologie der Worte und Redensarten rechnen, weil diejenigen, welche dieses „Collegium lesen“ meist von dem Gegenstande selbst äußerst wenig oder gar nichts verstehen, wenn sie gleich mit der „einschlagenden Literatur“ auf das Vollständigste (S.108) und Genaueste bekannt sind. Die beste Pastoraltheologie pflegt noch heut zu Tage darin zu bestehen, dass die äußeren Amtsverrichtungen des Pfarrers, wie dieselben durch die spezielle Kirchengesetzgebung geregelt sind, vollständig und wenn es hoch kommt, mit Beziehung auf das allgemeine oder besondere Kirchenrecht, dargestellt werden, sodann in – Bücherweisheit. Aber es gab auch Collegia über Pastoraltheologie, welche dem Dozenten nur Veranlassung zur Erzählung von Anekdoten, den Zuhörern zum Lachen und zum Spott gaben, und andere voll so überschwänglicher, hohler, törichter Phrasen und überhaupt von so fader, trivialer, ja alberner Beschaffenheit, dass kräftigere Gemüter mit Widerwillen gegen das geistliche Amt erfüllt wurden und dem Anhören solcher Erbärmlichkeiten lieber ganz entsagten. Und ganz sind selbst diese traurigen Erscheinungen heut zu Tage nicht ausgestorben. Nicht einmal Claus Harms, der doch eine drastische Arznei hätte sein können, hat in manchen Kreisen nur eine merkliche Wirkung hervorgebracht. Indes, Bücher können hier überhaupt nicht eigentlich wirken, sondern nur anregen: die Wirkung muss von einer Person und der mündlichen Darstellung der inneren und äußeren Erfahrungen derselben ausgehen – wenn irgendwo in der Theologie, so ist hier Meisterschaft und Jüngerschaft unbedingt notwendig. Ich hebe nur einige wenige, nicht einmal der wichtigsten, sondern der nächstliegenden Punkte und zwar diejenigen hervor, deren Mängel mir teils früher teils später am auffallendsten im wirklichen Leben entgegen getreten sind. Als Grundlage einer wirklich gedeihlichen Pastoraltheologie wäre eine Einrichtung nicht bloß nützlich, sondern nötig, welche sich auf den Universitäten freilich nicht findet noch finden kann, so lange deren jetzige Organisation entweder überhaupt oder für die Theologen nicht geändert wird. Ich meine die, dass die Theologen an der akademischen Freiheit, so weit dieselbe Ungebundenheit ist, Teil zu nehmen verhindert würden. Was kann auch die ernsteste Unterweisung im Gebete und in der Gebetszucht, die eindringlichste Anweisung zur Zurückhaltung, Nüchternheit und Enthaltsamkeit, deren der Pfarrer bedarf, oder zur Meditation usw. helfen, wenn eben an dem Morgen, wo diese Unterweisung oder Anwei- (S.109) sung erteilt wird, die Zuhörer vom Kommers oder vom Duell kommen? wenn sie in ihrem dermaligen Leben das Gegenteil von aller Nüchternheit und Enthaltsamkeit sehen, und zwar so nahe um sich sehen, dass sie diesem Gegenteil in der Tat nicht überall – z. B. nicht dem in unserer Zeit mehr als jemals seelenverderblichen Luxus der Studentenwelt – ausweichen können? Und dass dies Nichtausweichenkönnen volle Wahrheit ist, wird jeder bestätigen müssen, welcher das Leben zumal auf mittleren und kleinen Universitäten kennt. Was hilft es, ihnen das Wesen des kirchlichen Lebens darstellen und an das Herz legen, wenn in ihren Umgebungen ihnen das direkte Widerspiel alles kirchlichen Lebens als berechtigt entgegentritt, und niemand darnach fragt, ob sie nur einmal Sonntags die Kirche besuchen und ob sie das heilige Abendmahl genießen? – Dass, was auf dem Wege einer allgemeinen wohl zu den Hoffnungslosigkeiten gehörenden Einrichtung nicht zu erreichen steht, von den Professoren der Theologie durch eine ihren Studierenden zugewendete geistliche Hut und Pflege ersetzt werden möge, wird gleichfalls wohl zu den frommen Wünschen gehören, so lange die theologischen Fakultäten sich nicht als Kirchenglieder fühlen, so lange deren Professoren lieber Lehrer als Meister sein wollen und deshalb durch jene geistliche Obhut sich ihre „freie Stellung“ zu den Studierenden und, was die Rhetoriker betrifft, zur „Wissenschaft“ zu verderben fürchten. Was in der jetzigen Pastoraltheologie noch in auffallender Weise fehlt, ist die Anweisung zur Gebetszucht, welche der Pfarrer gegen sich selbst und gegen seine Gemeinde zu üben hat. In früheren Zeiten fehlte diese Anweisung in der Pastoraltheologie nicht, wie z. B. aus Rambachs Homiletik zu ersehen ist. Dass der Pfarrer täglich wenigstens einmal eine geistliche Sabbathsfeier, wie Rambach das nennt, halte, ist unerlässlich: täglich einmal muss der Lauf der gewöhnlichen, immerhin auch geistlichen Geschäfte und Gedanken, auf die Dauer von wenigstens einer Stunde gänzlich gehemmt werden; täglich einmal muss die Seele des Hirten, welcher die Seelen der ihm Anvertrauten auf seiner Seele liegen hat, völlig still werden, so dass sie mit Fug sagen kann: Rede, Herr, dein Knecht höret; täglich einmal muss ein Gespräch zwischen der Seele und ihrem Heiland in Frage und Antwort (S.110) Bitte und Erhörung, Klage und Trost, Lob und Friedensgruß hin und her gehen; täglich einmal muss die Seele hören: „Ich komme bald“ und täglich antworten: „Ja komm Herr Jesu“. Dies muss in der Pastoraltheologie gelehrt, es müsste das in derselben aber auch in seinen ersten Anfängen geübt werden, denn ohne zeitige, Übung gelingt es im Amte, unter den oft überwältigend auf den Neuling eindringenden, geschäftlichen Zerstreuungen, nur schwer und spät oder gar nicht, diesen festesten Boden des Amtes zu gewinnen, auf welchem unsere Großväter, ja teilweise unsere Väter noch standen. Das Brevierbeten der katholischen Priester kann totes Lippenwerk sein und ist es oft, aber eine unbezweifelt richtige Grundlage liegt dem Gebote des Brevierbetens unter; greifen wir diese Grundlage auf, wir, die wir die Werkgerechtigkeit überwunden haben: wir besitzen die Fähigkeit, aber auch die Verpflichtung dazu. Eben so soll nun auch eine Anweisung erteilt werden, wie, der Pfarrer in seiner Gemeinde die Gebetszucht üben soll – ein Gegenstand, auf welchen schon in früheren Abschnitten hingedeutet worden ist: wann und wie, und wann nicht „aus dem Herzen“ gebetet werden soll; wann die Psalmen, und welche, wann das Unser Vater und das Credo und der Dekalog gebetet werden sollen: wann besondere Fürbitte und Danksagung, wann das Gebet der Buße eintreten soll; wie das Gebet des Herrn mit Anwendung auf die besonderen Zustände des Betenden anzuwenden, wie die Aufmerksamkeit und Sammlung im Gebete zu erzielen sei und so ferner. „Dass man dies von einem rechten Pfarrer besser lerne als von allen Professoren in der Welt zusammen“ wie mir öfter entgegnet worden ist, gebe ich zwar teilweise zu, nur schließt dies nicht aus, dass es doch auch von den Professoren, freilich im Amt erfahrenen, von Herzen Gläubigen und im Glauben fest stehenden, gelehrt werden könne, wäre es auch nur in den ersten Rudimenten. Ferner ist es in der Pastoraltheologie nötig, eine scharfe Signatur der Zeit sowohl im Allgemeinen als im Besondern mitzuteilen. Wenn unsere theologischen Jünger die Fackeln zu tragen haben, welche dort dem wiederkommenden Herrn Christus voran, hier dem Antichrist ins Angesicht leuchten sollen, so müssen wir ihnen diese Fackeln auch anzünden. Es handelt sich also darum, (S.111) die geistigen Zeitströmungen in ihrem Verhältnisse zum Predigtamte, zur Kirche, zu der Zukunft des Herrn, aber auch zu der äußeren, näheren, weltlichen Zukunft auf das Bestimmteste zu charakterisieren und die Aufgaben, welche der Diener am Worte diesen Strömungen gegenüber zu lösen hat, mit unerbittlicher Schärfe vorzeichnen: Genuss- und Luxuswelt, Industrie (die s. g. „Intelligenz“), Materialismus, Pauperismus und Kommunismus, Revolution und „Omnipotenz des Staates“, Literatur, Geniekultus, Kunst und Wissenschaft, dazu die (überall nur aus Vernachlässigung des geistlichen Amtes auf der einen, durch Verkennung und Nichtachtung desselben auf der anderen Seite entstandenen) Bestrebungen der inneren Mission, müssen in unsern Tagen Gegenstände der akkuratesten Darstellung der Pastoraltheologie sein. Hier gilt es nun, nachzuweisen und mit nachdrücklicher Gewissensschärfung zu lehren, dass das Wort Gottes bisher mit Eingehen in alle jene weltlichen Bestrebungen, mit weltlicher Weisheit und im Vertrauen auf weltliche Stützen sei verkündigt worden; dass die Hände, welche Tag und Nacht hätten arbeiten sollen, um die Seelen aus der Tiefe zu ziehen, sich dem zeitlichen Erwerb, dem Spiel und Zeitvertreib zugewendet und jene Mächte der Welt hereingezogen haben in die Kirche; dass die Herzen, welche in heißer Liebe und herzlichem Erbarmen hätten brennen sollen, von dem Feuer irdischer Leidenschaft und dem Rauch irdischer Gedanken sind erfüllt, oder dass sie kalt gewesen sind wie Steine, und haben die Scharen der weltlichen Versuchungen und Lüste, welche in die Gemeinde einbrachen, gleichgültig und empfindungslos über sich hingehen lassen ohne ein Wort, geschweige denn eine Tat der Gegenwehr. Hier gilt es nun, zu zeigen, dass und wie jeder dieser Richtungen der Welt begegnet und wie sie – nicht durch Andere, nach welchen auszuschauen eine Schande für das geistliche Amt wäre, sondern durch die Träger dieses geistlichen Amtes selbst bekämpft und besiegt, die gottgegebenen Elemente derselben aber zum Dienste der Kirche verwendet werden können. Hier gilt es, zu zeigen, welche unablässige und welche schwere Arbeit an den Seelen einem Seelsorger obliegt, und dass er nicht mit wohlmeinendem Predigen, geschweige denn mit weltlichem (S.112) Zureden, auch nicht durch das Beispiel, wohl aber durch die Kraft des heiligen Geistes welche in seinem Amte und durch dieses in seiner Person ruht, durch den Geruch des Lebens zum Leben und des Todes zum Tode der von ihm ausgeht, die rettende Tat der Scheidung zu bewirken, auf der einen Seite die Gemeinde mitten aus der Welt zu sammeln und auf der andern die Verstockung zu bewirken habe. Hier gilt es endlich, zu zeigen, welche lange und schwere Arbeit darauf verwendet werden muss, wenige Dinge des Glaubens und der Zucht, einfache Institutionen, diese aber mit solchem Nachdruck in die Gemüter und in das Leben der Mitwelt einzuprägen, dass die nächsten Generationen mit Notwendigkeit an dieselben gebunden bleiben und, statt wieder zurückzusinken und somit das Vorbild des Reiches Juda als schlimmeres Nachbild mit schlimmerem Untergang zu wiederholen, auf diesen Institutionen fußend neue, weiter gehende Institute schaffen können und müssen. Aber von der rhetorischen Theologie muss man freilich das alles nicht verlangen. Sie weiß nichts von Arbeit an den Seelen, sondern hält nur die Bücherarbeit für Arbeit, nur den literarischen Verkehr für Tätigkeit, das bequeme Stubenleben für Beschäftigung – das Leben unter Papieren die nicht widersprechen und unter Büchern, die keinen Trost wider den ewigen Tod mit lauten Schmerzensschreien fordern – und vollständige Literaturkenntnis für Erfahrung. Hier jedoch kann nur die eigene, mit Schmerzen gemachte Lebenserfahrung in Anschlag kommen, die vollausgereifte, an den unzähligen Ecken und Spitzen des wirklichen Lebens vielfach geprüfte Erfahrung. Und diese Erfahrung muss wiederum geprüft worden sein an der Erfahrung aller Erfahrungen und der Tatsache aller Tatsachen: dass Christus Jesus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen, unter welchen ich der vornehmste bin. Das muss das Anfangswort und das Endwort aller Pastoraltheologie sein; es sei auch als mein Bekenntnis das Endwort dieser Blätter.