August Friedrich Christian Vilmar (1800-1868):

Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik.


IV. Systematische Theologie.

 

Schon diese Überschrift ist ein Rhetorismus, wenigstens wenn System in dem jetzt üblichen Sinne (als Entwicklung sämtlicher Sätze einer Disziplin aus deren autonomisch gefundenem Prinzip und Anordnung derselben vermöge der Autonomie des Gedankens), nicht in der eigentlichen und alten Bedeutung von systema braucht wird. Dogmatik und Ethik, nur willkürlich „aus wissenschaftlichem Bedürfnis“ getrennt und gegen diese Trennung noch immer nicht etwa nur im Leben, sondern sogar in den Büchern sich sträubend, sind nichts anderes, als eine Zusammenstellung der bisherigen Erfahrungen der Kirche von den Taten Gottes in Jesu Christo. Die Lehre, als der Ausdruck der Tatsachen der Erlösung ist nur in so fern gesund, als sie ein wahrhafter Ausdruck dieser Tatsachen ist, und gehört dem Leben der Kirche an; durch ihre Lehre antwortet die Kirche dem Herrn auf seine Taten, oder vielmehr auf seine Fragen an die Kirche, ob sie diese seine Erweisungen ewiger Erbarmung verstanden, angenommen, in das eigene Leben verwebt, und somit das Wort seiner Geduld bewahrt habe. An und für sich sind deshalb Dogmatik und Ethik nichts anderes als Bekenntnisse der Kirche, nicht Ergebnisse der Erfahrungen, geschweige denn der Spekulation eines Einzelnen in der Kirche. Dieser Standpunkt ist indes schon seit einem Jahrhundert und länger verlassen worden; unter dem Einflusse der allgemeinen Zerrüttung des menschlichen Geistes, welcher von dem wirklichen Leben sich ab und einem Scheinleben der Gelehrsamkeit sich zuwendete, sind auch die bezeichneten theologischen Disziplinen aus Zeugnissen von den Erlebnissen und Erfahrungen der Kirche zu “Wissenschaften“, aus (S.37) Bekenntnissen zu Büchern, aus Resultaten des kirchlichen Lebens zu den Darstellungen von Einfällen eines Einzelnen geworden, und haben sich von dem kirchlichen Leben gänzlich zurückgezogen, ja demselben sogar mit Absicht und teilweise nicht ohne Gereiztheit entgegengesetzt. Dieser Zustand kann ohne die schwerste Versündigung an dem Leben der Kirche von den akademischen Theologen nicht aufrecht erhalten werden, und wenn auch in den beiden letzten Jahrzehnten Manches geschehen ist, was eine Verbesserung dieser heillosen Verwüstung in der Kirche hoffen lässt, so fehlt doch an einer wirklichen Verbesserung noch sehr viel. Die wichtigsten Lehren, vielmehr Tatsachen, sind, auf ein Minimum zusammengeschrumpft, in dieser kläglichen Krüppelgestalt, die sie aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts davongetragen haben, noch immer vorhanden; andere sind in der bedenklichsten Weise verzerrt, und über alles das wehet durch beide Disziplinen namentlich durch die Dogmatik, der fröstelnde Hauch des Zweifels. Es ist eben alles zur sogenannten „Lehre“ d. h. zu menschlicher Ansicht von den Tatsachen der Offenbarung geworden, und diese „Lehre“, weit verschieden von dem logos tes hypomones christou, ja gerade das Gegenteil von aller hypomone, kann ihrer Natur nach nicht anders als variabel, kann nur wesentlich zweifelmütig sein. Wer diesen Zustand der noch immer andauernden Krüppelhaftigkeit unserer systematischen Theologie, ihre Abwendung vom wirklichen Leben, ihre noch immer vorwaltende Subjektivität und ihren Charakter des Zweifelmuts leugnet, den betrachte ich als in diesen Gebrechen selbst befangen. Ihn meine ich, wenn ich hier und in der Folge von einem Dogmatiker oder Ethiker der Rhetorik spreche, denn ihm gelten die Worte mehr als die Sachen, vielleicht alles. Wer die heilige Schrift an und in sich, zugleich aber auch an der Welt, zumal den inneren und äußeren Begebenheiten und Zuständen der Welt seit den letzten 60 – 70 Jahren erlebt und erfahren hat, der staunt billig, in so mancher dogmatischen Vorlesung, ja in manchem dogmatischen Lehrbuch, noch immer die dürftige Behandlung zu finden, welche der Lehre von der Schöpfung, (S.38) von dem Ebenbilde Gottes, von der Erbsünde, von dem Ursprung des Bösen, von dem Teufel, von den Gnadenwirkungen, von der Kirche, von den Sakramenten, von den letzten Dingen in der Blütezeit des Rationalismus, in der Glorienperiode der Vokabulisten und Grammatisten, zu Teil wurde. Auch Vorgänger wie Martensen, dessen Sprache eine gewisse Verwandtschaft mit der Sprache der Rhetoriker hat, so dass sich dieselben nicht mit deren „Unverständlichkeit“ entschuldigen können, in dessen Vortrage aber endlich einmal die verschrumpften Glieder sich gleichmäßig auszudehnen angefangen haben und der kranke Leib der Lehre wenigstens den Anschein der Gesundheit, gewiss die beginnende Genesung, zeigt, haben noch keine Änderung auf dem Gebiete der dogmatischen Rhetorik hervorgebracht. Es ist allerdings von jenen Dingen nichts zu sagen, wenn man nichts davon erlebt hat, und dessen wehrt sich eben die Rhetorik auf das Äußerste; sie möchte wohl von diesen Dingen wissen und lehren, aber unter der Voraussetzung, dass ihr dieselben fern bleiben, dass sie nur aus der Vogelperspektive oder wenigstens aus einem gesicherten Versteck sich diese Sachen betrachten kann; hinten in der Türkei können die Völker auf einander schlagen, nur nicht in nächster Nähe; der Lärm verwirrt dem Rhetoriker seine Konstruktionen und übertäubt seine schönen Reden. Am auffallendsten zeigt sich dies in der Lehre von der Kirche und von den Sakramenten nebst dem geistlichen Amt, wovon ich nachher noch besonders zu sprechen habe. Aber auch in den andern vorher genannten Lehrstücken ist die der lebendigen Erfahrung abgeneigte, zu dürftiger, dünner, zweifelnder Darstellung führende und die Seelen der Hörer verwirrende wo nicht vergiftende Haltung der rhetorischen Dogmatik auffallend genug. Wenn z. B. in der Schöpfungslehre auch die Lehrsätze des Glaubens mitgeteilt werden, so werden sie doch nur mitgeteilt, nicht bekannt, und an den unsicheren, unter Umständen verlegenen, Mienen und Worten des Dozenten sieht und hört man deutlich genug: „es ist doch noch zu bedenken, ob alles so ist, wie ich es vortrage“, wenn nicht, was häufig genug noch immer der Fall ist, die Zweifel hinter dem vereinzelten furchtsam dahingestellten Glaubenssatze her in Scharen ausgeschüttet werden. (S.39) Deutlich genug zeigt oder versteckt sich, oder zeigt sich im Verstecken, die Erinnerung, welche man gern einflößen möchte: „Glaubt das alles indes nicht zu fest, am Ende ist doch die ganze Erzählung der Genesis Mythus!“ Anstatt mit kühner, freier Stirn – kühn durch Gottes Kraft und frei durch das Wissen von Gottes Wahrheit – die ersten Worte der Genesis kategorisch als das erste und einzige, weltbildende und weltbezwingende Wort der Autorität und des Friedens hinzustellen, welches mit dem Schall von tausend Donnern durch alle Jahrtausende hintönt, und hundertfach in der Geschichte der Offenbarung, verglichen mit der Weisheit und Geschichte der Heidenwelt widerhallt und sich bestätigt findet – anstatt dessen wird eine kühle, an sich resultatlose, auch als resultatlos zum Voraus angekündigte, dialektische Exposition über die Schöpfung aus Nichts gegeben; wäre sie indes wirklich dialektisch und nicht bloß rhetorisch, so würde sie nicht resultatlos sein, sondern den Prozess alsbald auf das Gebiet der Naturbetrachtung überführen, und der ganzen Schöpfungslehre der Schrift schnell ein Ende machen. Ähnlich, wie mit der Lehre von der Schöpfung verfährt die Rhetorik mit der Eschatologie, um welche die neuere Dogmatik sich wieder zu bekümmern anfängt, und welche also auch der Rhetorik, die ja überall mitreden und mitraten muss, niemals aber mitbeten und mittaten kann noch will, nicht fern geblieben ist. Die Neigung der dogmatischen Neuzeit gilt wieder einmal der Apokatastasis und der Lehre von der ewigen Verdammnis. Die übergöttliche, schauerliche Tiefe der ersten Lehre ist der Rhetorik zu tief; diese wird noch mit einigen Redensarten abgefertigt; aber wenn die ewige Verdammnis könnte – mit Worten – weggeschafft werden, das entspräche schon eher der Weichheit und der Furcht von jeder Definitive, durch welche sich die Rhetorik auszeichnet. Das wird dann nach der Länge versucht – und es ist zu beklagen, dass sogar Martensens Dogmatik in diesem Punkte mit der rhetorischen Dialektik wiewohl nur leise kokettiert – um zuletzt zu gestehen „dass wir doch nichts wissen“. Das hätte man ohne Frage kürzer haben können; entweder zurück in die Erfahrung von der Sünde, und diese sagt mir, dass der Unterschied zwischen Gott und Widergott, den ich kennen gelernt habe aus der Schrift und (S.40) durch diese in den Gründen meiner eigenen Seele, ein ewiger ist, welcher dereinst auch, wenn er überhaupt wirklich ist, für alle Kreatur erkennbar heraustreten muss: dann, wann Gott dereinst das Schreckliche des Schrecklichen tun wird, dass er aufhört zu strafen. Darum glaube ich an ein ewiges Leben und fürchte mich vor der ewigen Verdammnis, will auch, dass alle sich vor derselben fürchten, denen es darum zu tun ist, selig zu werden. Oder, wenn man ja nicht zur Erkenntnis der Sünde zurück will, so gehe man vorwärts zur Dialektik, welche in diesem Fall ebenen Weges und schnell zum Pantheismus führt. Damit ist man der Ewigkeit der Höllenstrafen ein für allemal ledig. Oder wie sieht es aus mit den andern bedenklichen Lehren, z. B. mit der Lehre vom Teufel? Unsere Rhetoriker lachen zwar nicht mehr über den Teufel, wie die Vokabulisten und Grammatisten vor vierzig Jahren Taten und so weit sie noch vorhanden sind auch jetzt, gleich den Naturweisen, noch immer tun. Die Rhetoriker und die Dogmatiker unter ihnen zum Voraus, besitzen, allerdings nicht die aller Belehrung unzugängliche Dummdreistigkeit der Vokabulisten, denen ihre Vokabeln die Welt sind: im Gefühl ihrer Schwäche schließen sie sich unter Umständen, jedoch wohlverstanden nur bis auf einen gewissen Grad, an Andere, zumal an einen „in der Wissenschaft herrschend gewordenen Ton“ an, horchen ab, sprechen nach und ahmen nach; nun ist aber die Lehre vom Teufel gewissermaßen in der Wissenschaft rehabilitiert worden, und manche dieser Rhetoren – die Besten unter ihnen – haben erst im Jahre des Völkerfrühlings, 1848, das Lachen, aber gründlich, verlernt, indem sie damals auf Zustände in der Menschenwelt gestoßen sind, an welchen ihre ganze bisherige Gutmütigkeitspsychologie zu Schanden wurde: „die Gesichter, die Augen und Mienen, hörte ich damals einen Rhetoriker sagen, sind offenbar nicht mehr rein menschlich; zu ihrer Erklärung reicht weder die politische Aufregung noch der Branntwein aus“. Das Lachen also ist verschwunden, die verlegenen Mienen aber, wenn vom Teufel die Rede ist, oder gar sie selbst an dieses Kapitel notgedrungen gelangen, sind eben so und in noch etwas mehr eckigen Zügen vorhanden, als etwa bei der Schöpfungsgeschichte: die Mienen (S.41) sagen genau dasselbe aus, was fromme Frauen aus dem Volke zu sagen pflegen, wenn die fluchenden Ehegatten den Teufel zitieren: „lass mir den Mann weg.“ Also die Existenz des Teufels kommt wieder zum Vorschein, aber nur als eine Existenz der Floskel, der Phrase; käme die Existenz des Teufels wirklich wieder in der christlichen Lehrunterweisung der Hirten und Lehrer zum Vorschein, so müsste sie als eine Existenz des Schreckens und Entsetzens zum Vorschein kommen; denn, beiläufig gesagt, die Lehre vom Teufel ist wie die von der ewigen Verdammnis nicht ein Artikel des Glaubens und des Trostes, sondern des Wissens und der Furcht. Dazu gehört aber etwas mehr, als in die, allerdings vom Teufel gehetzten, Demokratengesichter von 1848 gesehen zu haben. Es kommt hier darauf an, wenn man recht lehren und die Seelen recht behüten will, des Teufels Zähnefletschen aus der Tiefe gesehen (mit leiblichen Augen gesehen; ich meine das ganz unfigürlich), und seine Kraft an einer armen Seele empfunden, sein Lästern, insbesondere sein Hohnlachen aus dem Abgrund gehört zu haben. Wer kann nun hiervon zeugen? wer kann mit einer solchen Erfahrung, zugleich den Sieg des Gekreuzigten auf die Lippen und in den Augen, als rechter Lehrer an Christi Statt, auftreten? Wer lehrt mit dem Teufel kämpfen? wer lehrt, sich gegen ihn zu verwahren? ihn zu überwinden? Davon schweigt die heutige Dogmatik, dieser Tatsachen gänzlich entleert, durchaus. Und teuflische Versuchungen im Gebet – wer kennt die noch? Unsere heutige Dogmatik so wenig wie unsere heutige Ethik weiß mehr etwas davon, und die künftigen Hirten gehen in diesem, für die Seelsorge vor fast allen andern Lehrpunkten der Satanalogie wichtigen und in der Anwendung oft vorkommenden Erfahrungsstück ganz ununterwiesen, blank wie Heiden, von der Universität – in das Amt. Ich habe einmal, schon vor Jahren, von der Kanzel mit misstönender aber aus tiefsten Herzen kommenden Stimme die laute Apostrophe gehört: „Könnt ihr denn beten, beten von selbst und wann ihr wollt? Ihr könnts nicht, nein!“ „Warum könnt ihr nicht? Der Satan leidets nicht, ja der Satan; der Teufel verwehrts euch!“ Was sagst du, werteste Theologie der Rhetorik, zu dieser Anrede? Nicht wahr, das nenne ich (S.42) mir doch eine „unrhetorische Floskel“? Mir jedoch klang jene misstönende Stimme damals und klingt mir nachhallend noch jetzt gleich der Stimme der Harfen, die da ist wie die Stimme starker Donner und wie die Stimme großer Wasser. Es war eine Apostrophe des jüngsten Gerichts an die Gemeinde. Und die Gemeinde (eine Stadtgemeinde) verstand diese Stimme. Ich erwähne diesen Zug hauptsächlich um derer willen unter den Rhetoren, welche durch ihre Weisheit zu Narren geworden sind, damit sie, wenn es möglich ist, begreifen, dass es in der wirklichen Welt, auf den Kanzeln, in den Gemeinden, ganz anders aussieht, als sie unter ihren Büchern und in ihrem oft abgeschmackten und nichtswürdigen Verkehr in der Schattenwelt der Wissenschaft und Bildung kindischer Weise meinen. Indes nicht nur in den mehr bedenklichen Partien der Dogmatik, wie ich sie oben aufgeführt habe, sondern in ganz planen, gewöhnlichen, einfachen Lehrstücken ist die Entfernung der Rhetorik von den Tatsachen und das Verlaufen in hohle Redensarten und bedenkliche, Zweifel erregende Lehrnormen zu bemerken. So hat sich die Theologie der Rhetorik zwar wieder zu der Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben gewendet, welche einst in der Dogmatik der Grammatisten zu Null geworden ja zum Spott herabgesunken war; – nicht davon zu reden, dass die Theologie der Dialektik samt Atheologie und Antitheologie sich dieser Lehre eigens zu bemächtigen gesucht hat, um aus derselben ihr „nicht was wir glauben, sondern wie wir glauben, ist das Rechte“, ihr diabolisches Aushöhlen der Menschenseelen zu konstruieren und als „Wesen des Protestantismus“ zu rechtfertigen. Sie hat sich zwar zu dieser Lehre wiederum bekannt, und spielt diese Melodie wieder, wie es verlangt wird, staccato, pizzicato und im vollen Strich, aber eine göttliche Melodie, eine göttliche Musik ist es nicht – es ist die seelenlose Harmonistik der heutigen Modemusik, es fehlt die Erfahrung von dieser Lehre, es fehlt die Bedingung dieser Erfahrung, welche einst in Luther und durch ihn in Melanchthon so mächtig war: das tiefe, unbezwingliche Sehnen nach zweifelloser Gewissheit der Seligkeit. Dies kann sogar in manchen sonst guten Büchern schmerzlich vermisst werden. Aber nicht allein das. (S.43) Es fehlt der Darstellung dieser Lehre fast überall das Substrat, dass dieselbe nur dann sich anzueignen, ja nur äußerlich zu verstehen möglich ist, wenn sie als die Spitze aller andern, notwendig vorausgehenden, Erfahrungen (Lehren) der Kirche gefasst wird. Alles, was in den Lehren von Gott dem Vater und von der Schöpfung, von Gott dem Sohne, dessen wahrer Gottheit und wahrer Menschheit, von der Gottheit des heiligen Geistes, von der Erbsünde die Kirche erfahren, durchlebt und bekannt hatte und hat, muss nacherfahren, nachgelebt, nach und mit bekannt werden, so dass die Rechtfertigung durch den Glauben als eine neue, die Spitze aller dieser Erfahrungen bildende und aus denselben mit der Notwendigkeit nicht einer Schlussfolge, sondern einer Tatsache sich ergebende Heilserfahrung erscheint. Das geschieht aber nicht, so erscheint sie in unserer landläufigen, hierin mehr als zu viel rhetorischen Theologie nicht, und so kommt es denn, dass die Katholiken bis auf diesen Tag diese Kernlehre unserer Kirche als einen willkürlich gemachten, aus dem Zusammenhang des kirchlichen Lebens losgetrennten Lehrsatz, wo nicht gar als eine scholastische Spitzfindigkeit betrachten und behandeln, „welcher sich mit der Lehre von der Kirche, wie dieselbe jetzt bei uns ausgebildet werde, schlechthin nicht vertrage“. Und was wollen wir den Gegnern antworten, wenn wir selbst diese Lehre so lehrsatzmäßig, oft noch dazu „dialektisch vermittelt“, jedenfalls ihrer Eigenschaft als Tatsache entkleidet und von allen andern Tatsachen der kirchlichen Lebenserfahrung abgelöst, in unserer Theologie behandeln? In der Ethik herrscht die Rhetorik noch in weit höherem Grade, als in der Dogmatik, und es scheint, als müsse sich erst die Dogmatik vollständig aus dem alten Vokabulisten – jetzt Rhetoren – Wust herausarbeiten, ehe die Ethik, doch langsam, ihr nachfolgen könne. Von der gewiss lächerlichen, oft über alles Maß jämmerlichen Specialmoral des weiland Rationalismus die man gründlich abgeworfen, ist man nunmehr zu lauter Abstraktionen gelangt – eine Specialmoral existiert kaum noch. Da hat denn die Rhetorik ein weites Feld, und sie pflügt es weidlich, bald vorwärts dann rückwärts. Redensarten vollauf, aber keine Tatsachen. Ich hebe nur zwei Lehrstücke aus, während ich eben so (S.44) gut zwanzig ausheben könnte, in welchen alle oder fast alle Tatsachen des göttlichen, christlichen, kirchlichen Leben zu fehlen, die allgemeinen Formeln aber in fast unglaublicher Weise, wie Hühnerdarm im ungebauten fetten Gartenlande zu wuchern pflegen. Zunächst die Lehre vom Gesetze. Abgesehen davon, dass die Rhetorik an sich nichts vom Gesetz wissen kann, weil sie, träte sie ernstlich an den „Begriff“: Gesetz heran, sie eine Entscheidung, aut Sic aut Non, erleben müsste, was sie nicht mag oder als Rhetorik vielmehr nicht kann, so fehlt es der jetzigen Ethik fast durchweg an einer gründlichen Erörterung des usus politicus des Gesetzes. Darin aber ist die Lehre von der weltlichen Herrschaft, von der Obrigkeit (vom „Staate“) und von deren Verhältnis zur Kirche und umgekehrt, beschlossen, und es lässt sich diese Lehre bei einer aus Erfahrung geschöpften Einsicht in den usus politicus nicht allein mit größter Klarheit, sondern auch mit größter Fruchtbarkeit behandeln, während sogar die Ethik von Harleß nur wenig Ersprießliches über dies, in unsrer Zeit und schon längst – seit der ersten französischen Revolution – hochwichtig gewordene Lehrstück beibringt. Auch der usus paedagogicus des Gesetzes, welcher gleichfalls zum vollständigen Ausbau der Lehre vom Verhältnis des sogenannten „Staates“ zur Kirche gehört, kommt meist sehr dürftig weg, und pflegt auf die Lehre von der Obrigkeit fast gar keine Anwendung zu finden, wiewohl doch schon die A. C. Var. im 18. Artikel mit Bestimmtheit darauf hinweist. Es ist wahr, diese Dinge sind unserm Verständnis erst in der neueren Zeit vollständig aufgeschlossen worden, warum aber werden sie nun nicht, da wir, eben aus dem Kreise unserer Erlebnisse, Tatsachen in Fülle vor uns haben, an der Hand dieser Facta, welche uns in die h. Schrift alten Testamentes zurückführen, als Tatsachen des christlichen Lebens, den künftigen geistlichen Führern des Volkes, die wir so oft unsicher haben hin und her schwanken sehen, zum sichern Wegweiser, und zur Korrektion der katholischen Vorstellung von diesen Dingen gründlich behandelt? Sodann das Lehrstück vom Gebete. Darüber kann ein für alle mal Keiner mitreden, welcher nicht das Gebet als seiner Seele und seines Geistes unentbehrliche Speise, als seines Wesens Lebensluft kennen gelernt und Gebetserfahrungen gemacht hat. (S.45) Kläglich ist es, wie die Rhetoriker in Redensarten, welche gelind gesagt, stets verworren, oft sinnlos müssen genannt werden, vom Gebete zu sprechen pflegen. Ist aber die Übung im Gebete noch so neu in der wiedererwachten evangelischen Christenheit, die Erfahrung vom Gebetskampf und von der Gebetserhörung noch so selten, dass auch Lehrer besserer Art, die wahrlich sonst keine Rhetoriker sind, in diesem hochwichtigen Lehrstück sich nicht viel anders anstellen, als wären sie auch Rhetoriker? Stehen wir noch auf Lavaters Standpunkte, welcher in seiner herzlichen, aber nicht nur subjektiven sondern ganz individualistischen Frömmigkeit mit der Brieftasche in der Hand Land und Sand durchzog, um sich die Fälle aufzuzeichnen, in welchen eine Gebetserhörung vorgekommen war? So fehlt ganz oder fast ganz die Lehre von der Gebetszucht, die in einer, dem wirklichen christlichen Leben wirklich dienenden Ethik nicht ausführlich und eindringlich genug entwickelt werden kann. An dies Kapitel werden nun die Rhetoriker überhaupt nicht herangehen, denn ein rechter Rhetoriker hält die Gebetszucht für eitel Wortgeplärre und ist flugs mit den Vokabeln aus Matth. 6, 7 flg. bei der Hand. Ja es ist den Rhetorikern, gleich den Sekten der Kohlbrüggianer (Anm.: Die Anhänger Kohlbrügges sind in dem engeren Vaterland des Schreibers dieser Blätter entschieden als Gegner der Landeskirche, als herb sektiererische Subjektivisten – als ein Mittelglied zwischen Spiritualisten und schroffen Independenten – aufgetreten.) und der Baptisten, die Gebetszucht ein Sklavenjoch, und sie wehren sich dagegen, als mit der „Wandlung der sittlichen Verhältnisse“ nicht mehr verträglich, in heftiger Erbitterung. Die Bessern unter ihnen aber finden doch bedenklich, wenn – zweifeln ob – können sich nicht überzeugen, dass – dass, ob, wenn die Gebetszucht für unsere Zeit des „verinnerlichten“ Christentums, der „Vertiefung“ in das christliche Leben, und insbesondere für Grammatistenkinder, Vokabulistenhäuser und Rhetorenfamilien gefordert werden sollte, sich fordern lasse, gefordert werden dürfe. Und nun die Lehre von der Kraft des Gebets und von der Gebetserhörung – wie sollte zu dieser sich ein rhetorischer Theolog verstehen können? Da würden ja die Worte ipso facto zu Taten, und das ist — ein Widerspruch in der Rhetorik. Es (S.46) muss aber wieder gelernt und gelehrt werden, dass wir in aller buchstäblichen Wirklichkeit mit Gott, mit Christus umgehen können – und ehe wir dies nicht gelernt haben, mögen wir doch ja nicht versuchen, die Lehre vom christlichen Leben, die Ethik, zu lehren, wir möchten sonst Schaden nehmen an unserer Seele – , dass wir mit ihm reden können und Er mit uns, wie ein Mann mit seinem Freunde redet, und dabei doch wissen und fühlen, dass wir mit Dem reden, der wahrhaftig Gott ist, der Stärkste unter den Starken, Weltschöpfer und Weltrichter, dessen Name aber auch ist Treu und Wahrhaftig, und dessen Amt das Amt eines barmherzigen Hohenpriesters ist, der Mitleid haben kann mit unserer Krankheit. Es muss wieder gelehrt, gelernt und erfahren werden, dass, wie und warum der Herr Unser Gott dem heiligen Geiste der aus uns zum Himmel ruft, entgegenkommt, dass aus diesem Grunde auch das Gebet in andere Seelen mit unwiderstehlicher Wirksamkeit hineinreicht, dass der Bestand der weltlichen Dinge, zumal der weltlichen Herrschaft, der Throne und der Ordnung des öffentlichen Lebens, von Gott dem Herrn allein um des Gebets der Gläubigen willen gesichert werde. Eben so muss wieder – leider aus dem Staube der Vergessenheit – die gewaltige Lehre von dem Gebetskampfe hervorgeholt werden; wie der Herr uns widersteht, uns zurückwirft, und wir Ihn desto fester fassen, je stärker Er uns zurückdrängt, desto unaufhaltsamer mit aller Anstrengung des Leibes und des Geistes auf ihn eingehen, je härter Er uns niederdrückt, um in diesem Ringen zu erfahren, was der Erzvater, sicherlich nicht figürlich, sicherlich auch nicht bloß innerlich, erfuhr, dass durch das Ringen der Feind sich in den treusten Freund, der Widerstreber in den Segner wunderbar und seliglich verwandle. – Sind das Phantasmen? Visionen? Überzückungen? theosophische Anmaßungen? oder sind das nicht vielmehr Zeugnisse des mächtigen Stroms des ewigen Lebens, welcher seit achtzehnhundert Jahren die Christenheit, welcher zweitausend Jahre lang vor der Zukunft des Herrn im Fleisch das Volk der Propheten und Patriarchen durchströmt hat, und endlich einmünden wird in den lauteren Strom des lebendigen Wassers, welcher ausgeht von dem Stuhl Gottes und des Lammes? – Wer davon zu zeugen weiß, der komme und lehre die Lehre vom christlichen Leben. (S.47) Eben so könnte ich die Lehre von der Versuchung anführen. Wer in dem wirklichen Leben des Glaubens und nicht in einem eingebildeten heimisch ist, der weiß, von welcher Bedeutung eine gesunde Lehre von der Versuchung ist; aber in unserer gangbaren Dogmatik und Moral ist so gut wie gar nichts davon zu finden, und erst Harleß hat einen Anfang damit gemacht, dieselbe zurückzuführen. Vor dieser Lehre fürchtet sich aber die Rhetorik, weil sie ahnet, dass sie damit auf den ihr so sehr unbequemen „Mann“, den Teufel, zurückkommen, und wenn sie, wie nicht anders möglich, der Versuchung Realität zuschreiben müsste, auch genötigt sein würde, die Realität des Teufels anzuerkennen. Außerdem aber ist die Lehre von der Versuchung nicht anders als aus der Lebenserfahrung heraus zu fassen, und diese fehlt der Rhetorik nicht allein, sondern sie verschmäht und verwirft sie, vermeidet dieselbe wenigstens sorgfältig auf dem Katheder, weil Lebenserfahrungen zum Grunde zu legen, nichts anderes sein würde, als eine „Dressur“ zum geistlichen Amte geben. So sieht die Rhetorik die Sachen an. Was für das Leben d. h. für das ewige Leben der Gemeinde brauchbar ist, das wird, eben weil es „brauchbar“ ist, sorgfältig beseitigt, was aber so beschaffen ist, dass es nun und nimmermehr das Allergeringste nützt, das wird eben so sorgfältig kultiviert, gerade darum, weil es niemand in der Welt brauchen kann; Unbrauchbares zu lehren, z. B. die Schleiermachersche Güterlehre, dieses Luftphantom, darin sucht die rhetorische Theologie gerade den Vorzug ihres Katheders. Eine Sündenlehre in der Moral zu behandeln, dazu lässt sie sich nicht herab – es scheint ihr das zu gemein zu sein, abgesehen davon, dass das doch auch irgendwie brauchbar sein könnte; mit ganz besonders vorsichtigem Fuße und leisem Tritte aber geht sie an den Sünden der Augenlust vorüber (denen freilich noch niemals eine erschöpfende Darstellung zu Teil geworden ist), vielleicht in der dunkeln Ahnung, dass mit der Darstellung dieser Sünden die Rhetorik sich selbst schildern müsste. Ohnehin könnte man ja eine solche Darstellung in unserer Zeit brauchen. Und brauchen soll man Nichts. Die ehemals hochbeliebten und gangbaren Phrasen von der „Freiheit der Wissenschaft“ sind ziemlich überall, selbst im Gebiete der rhetorischen Theologie in Abgang gekommen, und es werden (S.48) dieselben nur angewendet, wenn Tendenzen zu verfolgen sind, etwas Bestimmtes z. B. gegen eine Person, gegen die Ordnung des Kirchenregimentes, erreicht werden soll. Im vollen Ernste und in dem vollen Umfange seines Begriffes wird das Wort „Wissenschaftsfreiheit“ nur von den hohnlachenden Glaubens- und Kirchenzerstörern, nach Bedürfnis auch von den hohnlachenden Staatszerstörern und Thronstürzern gebraucht; diejenigen unter den rhetorischen Theologen, welche sich dieses Ausdruckes noch ohne Unterschied bedienen, wissen nicht was sie sprechen, und gelten bei den übrigen Rhetoren ziemlich ohne Umstände für Pinsel. Man ordnet sich jetzt wieder der Kirche unter, d. h. man verkündigt, eine kirchliche Theologie lehren zu wollen, und macht für seine Dogmatik und Ethik den Anspruch, es solle dieselbe für „kirchlich“ gehalten werden. Aber von den Ankündigungen und Ansprüchen zu der Wirklichkeit, von den Worten zu den Taten, ist nicht etwa nur ein großer Schritt, sondern ein weiter Weg. Zu einer wirklich kirchlichen Dogmatik wird erfordert, dass dieselbe sich in jedem Punkte ihrer Ausführung in erkennbarer Weise als Darlegung der Erfahrungen der Kirche, an denen die Person des Lehrers sich selbst unbeschränkt beteiligt, darstellt. Der Dogmatiker hat diese Erfahrungen der Kirche als die einzigen Quellen aus welchem ihm nächst der heiligen Schrift zu schöpfen erlaubt ist, unzweideutig zu kennzeichnen, und durch seine ganze Exposition die Überzeugung zu begründen, dass für uns, zunächst für die Jünger der Theologie, nichts anderes zu tun sei, als diese Erfahrungen nachzuleben, nachzuerfahren, und unser eigenes Denken und Wissen an diesen Erfahrungen zu korrigieren, dass es auch nicht zulässig sei, nur Einzelnes aus diesen Erlebnissen der Kirche als Maßstab unserer Erlebnisse aufzunehmen, Anderes bei Seite liegen zu lassen oder zu verwerfen: die Erfahrungen der Kirche sind ein Ganzes, welches ohne die schwerste Schädigung des geistigen Lebens der christlichen Individuen nicht zertrennt werden darf. Dies sollte ein Jeder, abgesehen von den in den Bekenntnissen der alten Kirche niedergelegten Tatsachen, schon aus der Augsburgischen Confession lernen, welche eben in ihrer Einheit und Ganzheit, aus der ich so zu sagen nicht eine Zeile herausbrechen darf, ohne das Ganze zu zerstören, wenigstens hässlich zu verunstalten, unvergleichlich ist. (S.49) Dagegen erscheint nun unsere systematische Theologie, oft noch dazu sich ganz unbefangen also ankündigend, als „selbständige Forschung“, und die ganze Dogmatik stellt sich dar nicht als Unterordnung unter ein Höheres, sondern als Gleichstellung einer Menge von Meinungen, Ansichten, Forschungen, eigener und fremder; die Autoritäten der Theologen überwiegen bei Weitem die Autorität der kirchlichen Bekenntnisse, und die Ausführung gar mancher Lehrstücke gleicht einer juristischen Dissertation über eine kontroverse Lehre, so dicht folgen Allegationen auf Allegationen – wodurch sogar noch der Dogmatik ihr Charakter als Dogmatik geraubt und sie in die Dogmengeschichte herabgedrückt wird. Die kirchlichen Bekenntnisse aber, welche dem Leben angehören, sollen dem Theologen nicht Bücher sein, denen er gleich andern Büchern, zuerst kritisch entgegen zu treten hätte, sondern es machen dieselben einen recht derben Anspruch an unser Leben, den, dass wir unsere Lehre und unsere Wirksamkeit streng durch sie bestimmen lassen. Dazu gehört erstens Resignation, und zweitens, um sich hinein zu leben in oder vielmehr unter die Bekenntnisse, eine etwas längere und härtere Arbeit, als man anzunehmen gewöhnlich geneigt ist. So soll es sein; die Tatsachen sollen herrschen über die Worte, die Reden und die eigenen Einfälle und Gedanken, herrschen, so lange wir noch etwas von einer Kirche wissen, in welcher der Weg zur Seligkeit gewiesen wird, so lange wir noch eine Kirche wollen. Das aber steht in der Theologie der Rhetorik noch immer in Frage; das Wort erkennen sie an, den Namen akzeptieren sie, aber auch das Factum und die Sache?

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