August Friedrich Christian Vilmar (1800-1868):

Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik.


VI. Sakramente.

 

Wenn irgendwo in dem Umkreise der Theologie, so muss in der Lehre von den Sakramenten von gewissen, unwandelbaren Tatsachen ausgegangen und zu denselben zurückgekehrt werden nach jedem spekulativen Exkurs, welchen man um der Widersacher willen in dieser Lehre, vielleicht bei jedem einzelnen Punkte derselben, noch zur Zeit vorzunehmen nötig hat und vielleicht noch lange Zeit nötig haben wird. Unverrückbare Tatsachen sind hier das Erste und Letzte, sie sind das Einzige, was Not tut, und gern möchte ich sagen: es muss nicht etwa von ihnen ausgegangen und zu ihnen zurückgekehrt – sondern es muss bei ihnen stehen geblieben werden. Die Gemeinde sammelt sich nur um eine feststehende, unbewegliche Tatsache, und wenn nach einer jetzt wieder allgemeiner gewordenen, auch von der rhetorischen Theologie wenn gleich widerwillig zugestandenen Annahme, das Christentum eben (S.70) dadurch Christentum ist, dass es Tatsache, nicht Lehre ist, nach einer weitern, schon weniger bereitwillig, indes doch zur Not von den Rhetoren wenigstens den Worten nach akzeptierten Annahme das Sakrament „der andere Pol ist, um welchen sich die Schaaren der Gläubigen gleich den Sternenheeren in gleichmäßiger Schwingung bewegen“, so wird das Sakrament nicht anders, als das Christentum selbst, zu dessen Erhaltung dasselbe eingeständlich unentbehrlich ist, aufzufassen sein; sein Wesen wird, wie das des Christentums überhaupt, welches in der Tatsache, dass das Wort Fleisch geworden, besteht Und feststeht, eine Tatsache sein, und zwar eine gewisse und unzweifelhafte Tatsache. Gewisse, unzweifelhafte, unveränderliche Tatsachen aber sind allein in Gott und Gottes Taten zu suchen und vorhanden; der Wille, die Gedanken des Menschen sind keine Tatsachen und die Taten des Menschen welche aus Menschenwillen und Menschengedanken, aus den beweglichen Menschenseelen und dem Menschensein überhaupt hervorgehen, sind veränderlich. Wollen wir die Gemeinden und in den Gemeinden die Kirche zusammenhalten, so müssen wir vom Sakrament jede Einmischung menschlichen Willens und menschlichen Sinnes, jede Einmischung menschlicher Gedanken und Tätigkeiten ausscheiden und unbedingt fern halten; wollen wir die Gemeinden und in den Gemeinden die Kirche zerstreuen, so müssen wir das Sakrament mit menschlichem Sinn und Willen, mit menschlichen Tätigkeiten, Gedanken und Empfindungen, wenn auch noch so leise und in noch so kleinen Gaben vermischen. Wer darum auf den Tatsachen im Sakrament fest stehen will, der muss im Sakrament anerkennen, dass Gott in demselben etwas gibt, denn in den Gaben Gottes zu unserer Seligkeit vermögen wir allein Gottes Taten zu fassen – es gibt für uns keine andern Taten Gottes als Seine Gaben zu unserer Erlösung von Sünde und Tod. Diesen Gaben Gottes im Sakrament gegenüber haben wir uns, wie auch der Gabe des Wortes gegenüber, lediglich empfangend, nicht in irgend einer Weise mitwirkend, zu verhalten. So weit sind die Sakramente dem Worte gleich, doch schon (S.71) mit der Ausnahme, dass ich das Wort Gottes zu meinem Worte machen, d. h. dasselbe fortpflanzen, von demselben zeugen kann. Mit dem Sakramente verhält es sich anders; es wird in der Weise wie das Wort, nicht mein Eigentum; es ist weit ausschließlicher eine eigene Tat Gottes, als das Wort. Dazu kommt indes weiter, dass das Wort durch den Geist, von oben, auf den Menschen wirkt; das Sakrament dagegen ist eine leibliche Tat Gottes an dem Menschen: dasselbe wirkt von unten, durch die Leiblichkeit auf die ganze Persönlichkeit des Menschen nach Leib und Geist (oder, wie man will, nach Geist, Seele und Leib) zur Erlösung des ganzen Menschen an Geist und Leib. Darum unterscheiden wir zwischen Wort und Sakrament, zwischen der unzweifelhaften Tatsache der Wortverkündigung und Wortwirksamkeit und der gleich unzweifelhaften Tatsache des Sakraments und der Sakramentswirksamkeit. Diese nicht bloß graduelle sondern spezifische Verschiedenheit des Sakraments vom Worte, diese leibliche Tat Gottes, welcher wir in gleich unbedingter Weise Objektivität, Gewissheit und Unwandelbarkeit zuschreiben, wie der Tat des Wortes, ist schon längst denen welche aus der weltlichen Weisheit herkommen, ein Anstoß gewesen, und an diesem Anstoße hat sich der erste Keim unserer rhetorischen Theologie entwickelt. Das Wort Gottes ist den Worten der Menschen äußerlich ähnlich, also werden die, in welchen der Reiz vorhanden ist, Gott zu versuchen, von ihrer Augenlust gelockt, das Wort Gottes dem Menschenwort auch innerlich ähnlich zu fassen: als ein Wort ohne Tat; derselbe Reiz setzt sich nun auch fort, dem Sakrament gegenüber, und da in dem Sakrament auch das Wort vorhanden ist, so wird der weitere Versuch gemacht, vom Worte aus dem Sakramente mit der Augenlust nahe zu kommen, der Versuch, auch das Sakrament in das Wort umzusetzen und das somit rein ausgeschmolzene der Leiblichkeit entkleidete sakramentliche Wort vielleicht zuletzt der gleichen Behandlung zu unterziehen, der sich das Wort an sich hat unterziehen müssen. Dieser Versuch muss so lange scheitern, als die Leiblichkeit der Tat Gottes noch feststeht; darum gilt das Streben der menschlichen Augenlust vor allem der Entfernung der göttlichen (S.72) Leiblichkeit aus dem Sakrament, d. h. der Entkleidung der geheimnisvollen Tat Gottes wo nicht ihres ganzen Geheimnisses, doch des größten Teiles desselben. Wir Andern versuchen uns nicht an dieser Tat Gottes, sondern lassen sie unangerührt, unerklärt, ihres Geheimnisses unentkleidet als Tatsache stehen und ordnen uns derselben, wie sie vor uns steht, unbedingt unter, des Glaubens, dass die Taten Gottes, sollen sie zu unserer Seligkeit dienen, angenommen werden müssen, so wie sie gegeben werden, und schon der Versuch einer Erklärung der geheimnisreichen Taten Gottes, in sofern Er selbst durch Sein Wort uns das Geheimnis nicht zum Voraus aufgeschlossen hat, bereits eine Einmischung menschlicher Gedanken und Tätigkeiten in die Tat Gottes enthalte, welche Einmischung wir von vorn herein als unzulässig und die Kirche notwendig zerstreuend abgewiesen haben. Sind uns nun die Sakramente in diesem Sinne Taten, in diesem Sinne Gaben Gottes, dann können sie nicht Symbole und Bilder anderer Taten und Gaben Gottes sein, denn Bilder und Symbole sind nicht Taten, sondern höchstens Verheißungen; viel weniger sind sie Versicherungen vorangegangener, mitfolgender oder nachfolgender Taten Gottes; in diesem Fall würde ganz augenscheinlich, im ersten mehr versteckt, der Unterschied zwischen Wort und Sakrament aufgehoben, das Sakrament in das Wort umgekleidet, dem Sakrament seine Eigenschaft als leibliche Tat Gottes entzogen. Das Sakrament würde sogar in diesem Falle aufhören, eine Tat Gottes zu sein: es würde wohl nur noch eine menschliche Tat sein können, an welche dann Gott durch Sein Wort gewisse Taten Seiner erlösenden Barmherzigkeit gebunden hätte, und könnte allerhöchstens, wenn schon nicht ganz konsequent, nur noch von einem graduellen Unterschiede zwischen Wort und Sakrament die Rede sein. Am allerwenigsten darf die Begreiflichkeit oder Unbegreiflichkeit der göttlichen Tat im Sakramente – der leiblichen Gegenwart Christi im heiligen Abendmahl – zum Maßstabe unserer Unterordnung unter die göttlichen Tatsachen gemacht, und auf diese Weise erst, vermöge der angenommenen Unbegreiflichkeit, die Eigenschaft des Sakraments als eines Symbols oder einer Versicherung gefunden, oder dieser Fund durch jene Annahme (S.73) gestützt werden. Hiermit wird von menschlichen Gedanken unmittelbar eingegriffen in Gottes Tat, es werden Menschengedanken über Gottes Taten, es wird der Mensch über Gott erhoben, eben so wie damit, dass ich etwa den Weg Gottes durch die Leiblichkeit in die Geistigkeit nicht als einen Gottesweg anerkennen wollte. Wer es ernst nimmt mit dieser Auffassung des Sakraments als eines Symbols oder einer Versicherung – und ich bin nicht der Meinung, alle welche dies tun, von vorn herein und unbesehen, zumal ungeprüft und unerprobt unter die rhetorischen Theologen zu rechnen – der versuche sich einmal mit dieser Auffassung im wirklichen Leben, woraus mir, ich wiederhole es, Alles ankommt, weil ich weiß, dass der Theolog nicht sinnen und spekulieren, sondern Seelen selig machen soll. Er versuche sich mit dieser Auffassung der Taufe an den Baptisten, mit dieser Auffassung des Abendmahls mit den Theosophen. Ist es ihm in der Tat Ernst mit seiner Auffassung und ist er fähig und mutig genug, nicht allein konsequent zu denken, sondern auch sich in die Anschauungen dieser Andern hinein zu versetzen, so wird er sehr bald inne werden, dass er mit den Baptisten dort, mit der Sekte der sogenannten Theosophen (Spiritualisten) hier auf völlig gleichem Boden steht, an Konsequenz und Tiefe der Auffassung aber von den Einen wie von den Andern bei Weitem übertroffen wird. Gewährt die Taufe die Wiedergeburt nicht, so ist es unausweichlich, Bekehrung und Wiedergeburt zusammenfallen und die Taufe erst als Versicherung (Versiegelung) der Wiedergeburt-Bekehrung, derselben nachfolgend, eintreten zu lassen. Ist im heiligen Abendmahl nicht eine von dem Worte spezifisch verschiedene leibliche Tat, die leibliche Gegenwart Christi, sondern nur ein gesteigertes Wort Gottes vorhanden (Christus auch außerhalb des Abendmals mir eben so, in derselben Weise, wenn auch nicht in demselben Grade, gegenwärtig, wie im Abendmahl), so ist es unausweichlich, bei der ungemeinen Intensität, mit welcher wahrhafte Theosophen (Anm.: Diese, nicht mit den Inspirierten zu verwechselnde, auch hier in Hessen wie in ganz Deutschland vorhandene, von der Kirche und zumal vom Sakrament des Altars sich lostrennende (Gichtelische) Gemeinschaft hat, so alt sie bereits ist, von Seiten der Kirchenhistoriker noch fast gar keine Beachtung gefunden.) der unmittelbaren (S.74) geistigen Gegenwart Christi inne sind, von der sie sich völlig umflossen und bis in die feinsten Bewegungen der Seele durchdrungen wissen, unter Voraussetzung derselben das heilige Abendmahl nur als eine Stärkung der Schwachen am Geiste, der Unwiedergeborenen zu fassen, während es doch eine Speise des ewigen Lebens für die Wiedergeborenen ist. Wer unter jenen Bedingungen diese Versuche anstellt und durchführt, dem hilft dann – ich vertraue darauf, denn ich habe es selbst an mir und Andern erfahren – der Geist Gottes zu der Einsicht, dass er angefangen habe auf den Wegen der Redeweisheit, vielleicht schon auf den höheren Pfaden der stolzeren Weltweisheit zu wandeln, und dass ihm nichts übrig bleibe, wenn er anders nicht Baptist oder Theosoph werden will, als zu den göttlichen Tatsachen zurückzukehren. Alsdann wird er vielleicht auch inne werden, dass mit seiner Auffassung der Sakramente es unmöglich ist, herzumwendende, entscheidende Lebenserfahrungen an den Sakramenten zu machen und eine Gemeinde um das Sakrament zu sammeln, welche der Welt und dem Teufel trotzt. Solche Proben in der Gemeinde, in der Kirche selbst anzustellen, in das wirkliche Leben hineinzusteigen und sich an demselben zu versuchen, sich von demselben zurechtsetzen und korrigieren, die Konsequenzen, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des „Systems“, die Gefahren für die Seligkeit, die Zweifel welche wie Geier an den Seelen fressen, und die Versuchungen welche wie Wölfe an ihnen reißen, sich von der Wirklichkeit vorhalten zu lassen, ist nun ein Gegenstand der entschiedenen Abneigung derjenigen Theologie, welche ich die rhetorische nenne. Vielen unter den Anhängern derselben wird der so eben von mir getane Vorschlag als eine plumpe argumentatio ad hominem erscheinen: sie wollen nur durch „wissenschaftliche“ Argumente d. h. durch Worte, denen sie wieder andere Worte entgegen setzen, bekämpft, und, wie sie vorgeben, widerlegt sein; ein Wortkampf kommt aber niemals zu Ende. Andere werden sich vor den turbis scheuen, vor dem Disput mit Baptisten und Theosophen, und ihren Freunden dringend abraten, in solche turbas sich zu begeben, durch welche ihnen ihre schönen in den Sand gezeichneten Zirkel könnten verwischt werden. Beide, so weit sie noch menschliche Ehrlichkeit haben, wollen unablässig, mit Lessing, nach (S.75) der Wahrheit laufen, aber sie niemals erreichen. Fehlt es an jener Ehrlichkeit – nun, so ist dieser Vorschlag samt seinen Prämissen eine willkommene Veranlassung, den Proponenten als Lutheraner, Neulutheraner, Hyperlutheraner, Katholiken, Hyperkatholiken, alles in einem Atem, zu verschreien. Wie es beliebt, meine Herrn! Vielleicht täte nunmehr auch: „Baptist!“ „Theosoph!“ eine noch bessere Wirkung bei dem süßen Pöbel, als jene Schmeichelreden. Es käme auf den Versuch an. Die Meisten werden Vorschlag und Prämissen gänzlich ignorieren. Auch gut. Ignoriert doch der liebe Gott Selbst so Vieles und so Viele.


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