August Friedrich Christian Vilmar (1800-1868):

Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik.


III. Literatur und Exegese der heiligen Schrift.

 

Unter den Philologen geht die begründete Klage, es sei kein Interesse mehr für die Philologie vorhanden, selbst nicht unter den eigenen Jüngern der Philologie, z.B. den künftigen Gymnasiallehrern, und die Philologen vom Fache schieben diese unleugbar vorhandene Teilnahmslosigkeit gegen ihre Wissenschaft der überhand nehmenden materialistischen und realistischen Richtung der heutigen Welt zu. Es mag dieses Streben nebenbei eine Ursache, oder vielmehr eine Veranlassung der Vernachlässigung der Philologie sein, die eigentliche Ursache aber liegt in den Philologen selbst und in der Behandlungsweise, welche dieselben der Philologie seit langer Zeit haben zu Teil werden lassen. Es ist wahr, die Philologie liegt, wenn sie nicht schon wirklich tot ist, in den letzten Zügen; ihr Mörder aber ist niemand anders, als der Alexandrinismus der Philologen. Seit länger als dreißig Jahren werden nicht mehr die Schriftsteller gelesen, sondern es wird über die Schriftsteller gelesen, und es herrscht dieser Verwüstungskrieg gegen die Kenntnis der Alten nicht allein in den philologischen Kollegien der Universitäten, sondern auch in den philologischen Seminarien, ja sogar auf den Gymnasien. Wo noch der Text der Autoren gelesen wird, da bildet er doch nur die Nebenpartie der Vorlesung oder der Lehrstunde: die Hauptsache besteht in kritischen Erörterungen, in archäologischen und zumal literarhistorischen Exkursen, und in einer oft maßlos minutiösen Grammatik. Die Seele des Autors berührt sich nicht mehr mit der Seele des Lehrers – sogar nicht einmal durch das Medium der Sprache, denn die Fähigkeit des Lateinsprechens oder wenigstens die Lust daran hat selbst bei den Philologen in auffallender Weise (S.25) abgenommen – und so kommt denn auch die Seele des Zuhörers und Schülers in fast gar keinen Kontakt mehr mit der Seele des Altertums. Der Stoff der Alten ist der heutigen Philologenwelt fast gänzlich abhanden gekommen, gänzlich aber das Leben, welches in diesem Stoffe verborgen liegt und mit demselben verwachsen ist. Es wird auch Andern die Erfahrung zu Handen gekommen sein, die ich während meiner fast zwanzigjährigen Teilnahme an der Zentralbehörde hiesigen Landes für die praktischen Examina der Kandidaten des Gymnasiallehramts und als Gymnasialdirektor häufig gemacht habe: über platonische Philosophie hatten die Kandidaten Collegia gehört und wussten darüber prompte Rechenschaft zu geben, von Plato gelesen aber hatten sie Nichts, oder kaum einen der leichtesten Dialoge; über Homer wussten sie, was in der griechischen Literargeschichte vorgekommen war, gelesen hatten sie von Homer nach der Schulzeit Nichts, und innerhalb der letztern kaum einige Rhapsodien; von dem reichen poetischen Leben des alten Sängers und von der Kunst, dasselbe für die Seelen der Jugend fruchtbar zu machen, verstanden sie nicht das Geringste, aber Fragmente verlorener Schriften verstanden sie zu sammeln. Dass nicht alle Philologen Alexandriner geworden sind, versteht sich von selbst: ich nenne als zwei der ehrenwertesten und bekanntesten Ausnahmen Eduard Wunder und Nägelsbach; die aufgestellte Regel aber wird eben um dieser Ausnahmen willen einer Anfechtung nicht unterworfen sein. Mutato nomine de te fabula narratur. Die Rhetorik, der Alexandrinismus ist auch in die Theologie eingebrochen und führt in der Literatur und Exegese jetzt ein fast unumschränktes Regiment. Auch die Bessern, ja die Besten, machen der alexandrinischen Rhetorik in diesen Fächern Konzessionen über Konzessionen. Das Ende dieses Zweiges der Theologie wird kein anderes sein, als das Ende der Philologie. Die biblische Literaturgeschichte, die Einleitungswissenschaft, wie man sie jetzt nennt und über deren Begriff und Umfang man noch immer resultatlos streitet, hat in den letzten Jahrzehnten einen Umfang und eine Bedeutung gewonnen, welche alle übrigen theologischen Disziplinen zu überflügeln und der eigentlichen Bibelkenntnis, wie sie der Theolog bedarf, welcher aus der heiligen (S.26) Schrift die Speise des Lebens für seine Gemeinde zu schöpfen hat, den letzten noch übrig gebliebenen spärlichen Raum völlig zu entziehen droht. „Wer die Einleitung gehörig durchgearbeitet hat, kann der Exegese fast gänzlich entraten“ ist ein gewöhnliches Axiom der jungen Theologen geworden, und ein nicht ganz unrichtiges, denn ein großer Teil des in der Einleitung behandelten Stoffes kehrt in den exegetischen Vorlesungen, nur in ausgedehnterer Form und bis in das Minutiöse spezialisiert, wieder. Nicht selten nimmt die Einleitung in das Buch der h. Schrift, welches erklärt werden soll, fast die Hälfte der ganzen Vorlesungszeit weg; ja ich habe, schon vor einer Reihe von Jahren, ein von einem sehr angesehenen Universitätslehrer herrührendes Heft über den Römerbrief gesehen, in welchem die Einleitung volle drei Viertel der ganzen Vorlesung ausfüllte. Ein großer Teil der biblischen Literaturgeschichte, jetzt sogar der bei weitem größte, ist den Angriffen auf die Authentie der biblischen Bücher und der Verteidigung derselben gegen diese Angriffe gewidmet. Die Atheologie wird zu jenen Angriffen durch ihre innerste Natur, welche dem Worte Gottes von Grund aus widerspricht, gedrängt, und dass die Theologie gegen diese Angriffe die Waffen ergreift und Festungen zu erbauen sucht, ist ebenwohl natürlich und notwendig, aber der Schade, welcher der Theologie durch dieses Eingehen auf die Angriffe der Feinde des Wortes erwächst, ist demungeachtet sehr groß, und überwiegt nicht selten den Vorteil. Auf diesem Wege wird die Rede Gottes zu uns je mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, und die Reden der Menschen untereinander über das Wort Gottes, oft der Hader der Menschen über Gottes Wort, werden in den Vordergrund geschoben. Wo aber nun nicht einmal ein Herz für Gottes Wort vorhanden ist, da ist die Literaturwissenschaft ein willkommenes Vehikel, von dem Worte Gottes abzukommen, und sich in menschlichen Worten, Gedanken und Künsten ausschließlich zu ergehen. Über Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms, über Sprachgebrauch, Verhältnis der Schriften und Schriftsteller zu einander, Begriffserörterungen, Chronologie, historischen Beziehungen, Beweisen und Gegenbeweisen aus der altkirchlichen Literatur wird der Inhalt der göttlichen Schriften oft ganz vergessen, für die Lernenden nicht selten völlig (S.27) obliteriert, so, dass dieselben, wenn sie auch die Schrift wirklich lesen (was bei den Theologen mindestens hinsichtlich des neuen Testamentes noch nicht ganz und wenigstens nicht überall außer Übung gekommen, aber nach meinen Erfahrungen stark im Abnehmen begriffen ist) die heiligen Bücher einzig und allein aus dem Gesichtspunkte der biblischen Literaturwissenschaft, mit Rücksicht auf die allgemeine und spezielle Kritik, den Sprachgebrauch der einzelnen Schriftsteller usw. lesen, und es den Besten erst nach Jahren gelingt, die h. Schrift selbst und allein zu sich reden zu lassen. Das ist Rhetorik, das ist Alexandrinismus in der Theologie, und von sehr gefährlicher Art, denn diese Art der Rhetorik ist auch den Besten nur allzu nahe an das Leben heran gerückt. Auf diese Weise wird durch unser eigenes Verfahren die theologische Jugend wider unsere Absicht und unsern Willen, aber notwendig angeleitet, die heilige Schrift primär als ein menschliches, und erst sekundär als ein göttliches Buch anzusehen; damit aber haben die Rhetoriker von Profession gewonnenes Spiel gegen uns. Es muss ein Bannwort gefunden werden, durch welches jenen Angriffen, die von Seiten der Rhetorik, mehr noch der Dialektik und der Theologie der Physica gegen die heilige Schrift gerichtet werden, mit einem Male und von Grund aus begegnet wird, so dass die auf die Einleitungswissenschaft verwendete Gelehrsamkeit zwar nicht überflüssig gemacht, aber wie sie das soll in den zweiten Grad hinabgerückt wird, während sie jetzt den ersten Rang behauptet. Darauf muss die Aufmerksamkeit aller Theologen, die nicht zu den Rhetoren, Vokabulisten und Grammatisten gehören, unausgesetzt gerichtet sein; muss es gefunden werden, dieses Bannwort, oder vielmehr diese Banntatsache, so wird es auch, bei fortwährender strenger Richtung der Fachgelehrten auf diesen Punkt hin, ohne Zweifel gefunden werden. Was einstweilen zu tun ist, und jedenfalls auch alsdann zu tun sein wird, wenn das Bannwort gefunden sein wird, will ich nachher angeben. Die Exegese leidet durchgängig an dem schweren Fehler der Zerstückelung, sowohl im Ganzen, wie im Einzelnen. Im Ganzen: die Studierenden hören selten mehr als drei bis vier exegetische Vorlesungen je über das alte und neue Testament; wie oft ist es vorgekommen, dass nur zwei exegetische Collegia über das alte (S.28) Testament gehört worden sind, und in nicht wenigen Fällen ist es sogar bei einem einzigen Collegium geblieben. Im alten Testament wird dieser Mangel äußerst selten durch Privatlektüre nachgeholt und die ganze Kenntnis gar manches Theologen vom alten Testament erstreckt sich nicht weiter als auf einige Kapitel im Jesaja und etwa vierzig Psalmen. Woher soll bei so dürftiger Kenntnis ein nur erträgliches Verständnis des alten Testaments kommen? woher vollends Eindringen in den Sinn der göttlichen Ordnung des alten Bundes im Ganzen? woher Liebe zum alten Testament und nun gar Ehrfurcht vor demselben? Aber ein solches summarisches Verfahren ist eben im Sinn der Rhetoriker: nur exempelsweise soll dieses und jenes Stück des A. T. gelesen werden, „als Proben an denen man genug habe“; im Übrigen genügt für sie ein enzyclopädistisches Wissen, „es sei denn dass der Eine oder Andere orientalistische Specialstudien treiben wollte“. Dass dieser, aus Widerwillen gegen die Sache und aus Bevorzugung der Rubriken hervorgegangenen Unsitte, diesem alexandrinischen Unfug nicht von Seiten derer gewehrt wird, welche bessere Einsicht haben, ist ein schwerer Vorwurf gegen unsere jetzige Theologie, welcher auf Einverständnis mit der Theologie der Rhetorik, wenigstens auf Connivenz gegen dieselbe hinausgeht. Verhältnismäßig ist die Kenntnis des neuen Testaments nicht besser; was nicht in den Kollegien an Exegese gehört wird, wird zwar zum Teil, früherhin zum bei weitem größten Teil, durch Privatlektüre nachgeholt, aber diese ist im hohen Grade kursorisch und lediglich auf das eilige Nachlesen einiger Kommentare beschränkt. Und diese Kenntnis wird nicht verbessert durch „wissenschaftliche“ exegetische Arbeiten von großer Ausführlichkeit, zu welchen die Studierenden in theologischen Instituten und Sozietäten angehalten oder angewiesen werden. Darüber vertiefen sich die Lernenden nicht in das Lernen, sondern unzeitiger Weise in das Lehren, gewöhnen sich mit bedenklicher Präcocität daran, die Schrift in „wissenschaftlicher“ Weise zu anatomieren, sich über dieselbe zu stellen, und zuletzt vielleicht gar, ihre Elaborate als Summe aller ihrer Arbeit an der heiligen Schrift, als bequeme Ruhekissen, zu betrachten. Eine Anweisung zur vollständigen Lesung der heiligen Schrift als einer nicht bloß floskelmäßig so genannten sondern wirklich heiligen Schrift, als des Wortes Gottes, wird nicht (S.29) gegeben und nicht verlangt. Daher kommen denn schon bei den theologischen Kandidatenprüfungen Resultate von Schriftkenntnis zum Vorschein, welche den oben erwähnten bei den philologischen Kandidatenprüfungen zu Tage tretenden Resultaten vollkommen gleich sind. Die Literaturgeschichte soll in beiden Fällen alle Schäden decken, alle Mängel ausgleichen. Den Schaden an der Seele aber, welchen die Theologen bei dieser Behandlung der heiligen Schrift leiden, macht keine Literaturgeschichte gut, und wenn man, wie ich zu wiederholten Malen, erlebt hat, dass Kandidaten und Pfarrer sich nicht schämen, auf der Kanzel – übrigens nicht aus bewusster geschweige ausgesprochener Gottesfeindschaft, sondern aus purer Rhetorik – vom alten Testament in verachtenden Redensarten, von dem Gesetz Gottes mit direkter Schmähung, von dem Gott und Herrn des alten Bundes mit unzweideutiger Lästerung zu reden, so ist man vollkommen berechtigt, einen Fluch gegen die biblische Unterweisung zu richten, welche solche Diener der Kirche auf den Universitäten erhalten haben, eben so aber auch gegen die Nachlässigkeit der Kirchenbehörden, welche eine solche Unterweisung dulden, übersehen, und an deren Ergänzung und Korrektur im Vorbereitungsdienst oder Amt der Pfarrer nicht denken. Um so mehr ist jener Fluch gerechtfertigt, wenn jener Unfug, wie das vorgekommen ist, gerade von denen, welche demselben zuvorzukommen oder ihn zu ahnden den Beruf hatten, damit beschönigt wird: „es sei das freilich eine nicht ganz angemessene, aber doch herkömmliche Weise, das Verhältnis des alten Testaments zum neuen zu bezeichnen, und es sei ja die „angebliche Lästerung“ doch „nur“ gegen das alte Testament gerichtet gewesen, auch werde man „dem rhetorischen Schmuck doch etwas zu Gute halten“. Das heißt die Kirche zwiefach und dreifach durch Rhetorenkünste schänden. Hierher gehört ein Mosiszorn, welcher die Tafeln zerschlägt, und den Leviten zuruft: Her zu mir! Ja, dreifacher Fluch diesen gotteslästernden rhetorischen Seelenverkäufern! dreifacher Fluch: von dem verleiteten um seine Seele betrogenen Schüler, von der durch diesen geärgerten Gemeinde und von der ganzen durch einen solchen Diener geschändeten Kirche! Die Exegese im Einzelnen ist ihrem weit überwiegenden Bestande nach vollkommen alexandrinisch: sie ist wesentlich sondernd, nicht (S.30) verbindend, musivisch zusammensetzend, nicht aus dem Ganzen einer Gottesoffenbarung heraus das Einzelne entwickelnd, vor allem auf die Worte und sogenannten „Begriffe“ gerichtet, wie sich denn auch die Bessern und Besten so weit von dieser alexandrinischen Rhetorik haben einnehmen lassen, dass sie die Gottesworte Glaube, Licht, Leben u. dgl. unbefangen als „Begriffe“ bezeichnen, und was schlimmer ist, analysieren, anstatt in denselben zuvörderst göttliche Zustände, Tatsachen, zur Anerkennung zu bringen. Die Exegese der Rhetoriker aber ist ganz und gar philologisch und literarisch, und zwar nach dem Maßstabe derjenigen Philologie, welche im Eingange dieses Abschnittes charakterisiert worden ist, derjenigen, die ihren eigenen Tod herbeigeführt hat; Wörter und Begriffe stehen nicht nur im Vordergrunde, sondern herrschen ganz allein, und von göttlichen Tatsachen ist nicht die Rede; mit Anstrengung wird dahin gestrebt, einen paulinischen, einen johanneischen Lehrbegriff im Ganzen oder von diesem und jenem Gegenstande zusammen zu bringen, so dass ein jüngerer Theolog, welcher seiner Zeit fast nur alexandrinische Exegese gehört hatte, einst als seine eigene Anschauung das alte Sprüchlein gegen mich vorbrachte, es seien ihm Paulus, Johannes und Petrus als Professoren der Theologie erschienen. Und in der Tat, es treten nur zu oft die Ansichten der Exegeten in völlig gleichen Rang mit den „Ansichten“ der Apostel, und letztere müssen sich noch dazu nicht selten von den ersteren korrigieren lassen; dass hier Gottes Wort vorliege und auszulegen sei, ist schon im Bewusstsein der Zuhörer gänzlich vernichtet. Von der göttlichen Logik wissen die Rhetoren ein für allemal nichts, und der Ausdruck sogar, „göttliche Logik“ ist ihnen nicht allein fremd, sondern vollkommen lächerlich: dafür müssen sich denn die heiligen Apostel den Zusammenhang ihrer eignen Gottesgedanken von der menschlichen Logik, oder richtiger nach dem Schematismus der alexandrinischen Zeitgedanken vordemonstrieren lassen – ein noch viel wunderlicheres Beginnen, als wenn, wie die modernen alexandrinischen Philologen tun, den Reden des Demosthenes moderne, nach Maßgabe der popularisierten Kantischen oder wohl eher der Wolfischen Philosophie (die in diesen Dingen noch weit mehr herrscht als man gewöhnlich annimmt) fabrizierte Dispositionen untergeschoben werden. Könnte Demosthenes wiederkommen, wie würde er lachen! Der Meister (S.31) der Apostel und Herzog unserer Seligkeit aber kann und wird wiederkommen: „da wird das Lachen werden teuer!“ Es ist eine „wissenschaftliche“ Diskussion, welche durch ein exegetisches Collegium der theologischen Rhetoren eröffnet zu werden pflegt, in welcher Gründe und Gegengründe abgewogen, Meinungen gehört und verworfen, Ansichten aufgestellt und widerlegt, und alle, oder doch die vornehmsten, „wissenschaftlichen Autoritäten“ zum Worte gelassen werden. Nur eine Autorität kommt regelmäßig nicht zum Worte: das Wort Gottes selbst; über dasselbe wird genug und übergenug gesprochen, aber nicht mit demselben. Und doch sollte das die erste Aufgabe eines Exegeten sein und er sollte es sich zur Pflicht machen, dieselbe seinen Zuhörern wiederum zur ersten Aufgabe zu stellen: “zuerst die Stücke der heiligen Schrift mit Sammlung und Stille der Seele zu lesen, und wiederum und wiederum und abermals zu lesen, ohne einem menschlichen Worte, auch nicht dem eigenen, ein Dazwischenreden zu verstatten; nach und nach gewinnt das göttliche Wort Leben und Sprache, während es im Anfange tot erschien, und fängt – in sehr unfigürlichem Sinne – an, mit uns, zu uns, in uns hinein zu reden, und zeigt uns, dass es nicht eine Rede sei, aus einzelnen Worten zusammengesetzt, sondern eine göttliche Tat, dass es das Wort sei, zugleich Licht und Leben, aus welchem helle und immer hellere Strahlen auf alles Einzelne fallen. Ist es doch schon auf dem weltlichen Gebiete der Philologie nicht anders (und ich berufe mich hiermit auf alle, freilich jetzt nicht mehr zahlreiche, Philologen, welche noch an dem Altertum ihre Freude haben): wer an den Produkten der alten Literatur, zumal der Poesie, und zwar eben an den schwierigsten, Pindar, Aeschylus, Aristophanes, Genuss haben will, der gehe an sie, ohne alle Erklärungen, ohne Kommentare und Scholien, und lese sie drei vier und mehr Mal ernstlich durch, trotz aller Schwierigkeiten der Sprache und des Stoffes, auch, wenn es nicht anders sein kann, diese letztern vorerst überspringend; nach und nach gewinnt das Ganze der Produktion ein überraschendes Leben und Verständnis und gewährt einen Genuss, der durch die nachfolgende Benutzung der Kommentare wohl geschwächt, niemals aber erhöhet werden kann. Dieses Verfahren ist freilich auch in der Philologie gänzlich anti- (S.32) alexandrinisch, und demnach allerdings nicht mehr zeitgemäß, es ist veraltet und „überwunden“. Es gehört dasselbe nämlich dem 15. und 16. Jahrhundert an, und war der Grund der großen Freude, welche damals die Philologen am klassischen Altertum, Luther aber an der heiligen Schrift fanden. Sind nun manche Schäden dieser alexandrinischen Bibelbehandlung, welche uns von der Theologie der Rhetorik aufgenötigt worden ist, nicht sofort zu heilen, und ist es noch weniger möglich, uns dieses ganzen Alexandrinismus sofort völlig zu entledigen, so gibt es immerhin Mittel, dieser zerstreuenden, von den göttlichen Tatsachen ablenkenden und aus dem Dienst des Wortes in den Wörterdienst sich begebenden Disziplin mit Erfolg entgegen zu wirken. Zu diesen Mitteln kann ich die biblische Theologie nicht oder doch nur in beschränkter Weise rechnen. Gern ist derselben, welche sich seit einiger Zeit eine regelmäßige Stelle unter den akademischen Vorlesungen errungen hat, zuzugestehen, dass sie der Verflüchtigung des theologischen Wissens in philosophische Abstraktionen heilsam entgegen gewirkt hat; aber sie ruhet doch wieder, allerdings mehr oder minder, auf Abstraktionen, welche aus dem göttlichen Worte gezogen sind, trägt also das Gepräge der jeweiligen Exegese, und, da die biblische Theologie nicht wie Dogmatik und Ethik an die Gesammterfahrung der christlichen Kirche gebunden ist, sogar das Gepräge der Subjektivität des jeweiligen Lehrers als unzerstörbaren Charakter, als einen Teil ihres Wesens, mit Notwendigkeit an sich. Sie kann recht gut, aber sie kann auch eben so wohl recht schlimm sein. Und in den meisten Fällen, schon seit Sebastian Frank, welcher wohl die erste biblische Theologie produziert hat (Güldin Arch. 1538), trägt sie das Gepräge der Unentschiedenheit an sich: die für diese Disziplin allerdings in Anspruch zu nehmende Objektivität führt, da man selbst nicht „vermitteln“ will, um nicht subjektiv zu erscheinen, die Erfahrung der Kirche aber nicht vermitteln lassen kann, um nicht „wissenschaftliche“ oder kirchliche Theologie zu lehren, leicht dahin, die Sätze der heiligen Schrift „unvermittelt“ d. h. eigentlich: als Widersprüche, neben einander stehen zu lassen. Und das ist denn eben wieder nichts als die allerschlechteste Subjektivität. Dürfte man eine Voraussetzung als (S.33) sicher betrachten: dass die biblische Theologie auf einer klaren, scharfen und sichern Einsicht in den historischen Gang der göttlichen Ökonomie beruhte, so würde sich immerhin manches Ersprießliche von ihr für die Heilung der Schäden unserer dermaligen Bibelkunde erwarten lassen. Gerade hieran aber fehlt es in unserer, sich historisch nennenden aber wesentlich rhetorischen Zeit noch allzusehr, als dass wir diese Voraussetzung mit in den Inhalt der biblischen Theologie (als Grundlage ihres Systems) auszunehmen wagen dürften. Es muss darauf gehalten, ja gedrungen werden, dass auf der Universität die alte, freilich längst verloren gegangene Specialkenntnis des Inhalts der ganzen heiligen Schrift wieder erworben werde. Die Grundlage zu dieser sichern, in allen Einzelheiten festen Kenntnis der Schrift wurde zwar in den Familien und in den Schulen gelegt, aber doch nicht mehr als die Grundlage; die Hauptsache wurde in der Tat auf der Universität erworben: ich erinnere nur daran, was noch in unsere eigenen Erlebnisse hineinreicht, dass sämtliche dicta probantia im hebräischen und griechischen Grundtext, außerdem aber wenigstens zwanzig bis dreißig Psalmen, acht bis zehn Kapitel aus Jesaja, die ersten drei Kapitel der Genesis und zahlreiche Abschnitte des neuen Testamentes (die Bergpredigt, die Kapitel 14—17 aus dem Evangelium Johannis, Römer 5—8 und Anderes) in den Grundsprachen auswendig gelernt wurden. Schlage man diesen „Mechanismus“ nicht allzu gering an und suche darin nicht etwa eine neue Art von Rhetorik, wohin diese Praxis freilich durch leidigen Missbrauch ausarten kann: das Wort Gottes ist lebendig und kräftig, so lange es reines Wort Gottes, ohne Zutat, ist. Ich habe einen, vor einiger Zeit in hohem Alter verstorbenen Geistlichen gekannt, welcher alles dies und noch etwas mehr gelernt hatte und leistete: weit mehr als achtzig Jahr alt, führte er jeden Psalm, den man ihm hebräisch anfing sofort durch eine ganze Reihe von Versen aus dem Gedächtnis durch. Dieser Mann war ein roher Rationalist, zu den ärgsten Ausbrüchen unverständiger Christusschmähung jeden Augenblick geneigt und bereit; so wie es aber gelang, ihm einen hebräischen oder griechischen Text, etwa die Anfangsworte eines Psalms, entgegen zu werfen, stand er vor diesem Gotteswort alsbald, oft (S.34) ehrerbietig, still, rezitierte den Psalm und ließ von allen Feindseligkeiten gegen Gottes Wort und von dem Rühmen der „Vernunft“ für den Augenblick gänzlich ab. War das Mechanismus oder Gottes Geist der in Gottes Wort ist? Wäre es nun möglich, dass jüngere Dozenten, ergriffen von der Macht des Gottesworts und durchdrungen von dem tiefen Bedürfnis, dieses Gotteswort um der eigenen Seligkeit willen sich zu einem festen und jeden Augenblick gegenwärtigen Eigentum zu machen, durch ihr Beispiel, richtiger: durch ihr Zeugnis, und durch eigens angestellte Übungen diese Art von Bibelkenntnis wieder erweckten und verbreiteten, so würde dieser, den Jüngern der Theologie und der Kirche geleistete Dienst ohne Frage in hohen Anschlag kommen. Dieses Feststehn in dem Worte Gottes, wäre es auch vorerst nur ein äußerliches Feststehen, gewährt einen Schild gegen die Angriffe der auflösenden Bibelkritik, wie nichts anderes, denn das Wort Gottes, welches wir zu unserem ganzen und vollen Eigentum machen, schützt sich schon von selbst, ohne unser Zutun zudem aber auch unser eigenes Herz, und – man halte das Folgende doch ja nicht für ein Paradoxon – , schärft den Verstand. Auf diesem Wege, wird er anders mit Ernst und Ergebung gegen das Wort Gottes länger verfolgt, entwickelt sich ohne Frage nicht nur sehr bald ein innerliches Feststehen im Gottesworte, sondern wird auch mit der Zeit eben jenes vorher erwähnte, für jetzt noch vermisste allgemeine Bannwort gegen die zerstörende biblische Literaturwissenschaft gefunden werden: ein kommendes Geschlecht wird so innerlich fest in dem Worte Gottes und so tief und völlig durchströmt werden von dem Ganzen des göttlichen Lebens welches in der Schrift vorhanden ist, dass dasselbe die Angriffe auf die Peripherie dieses Lebens nicht wie jetzt nur aus der Peripherie, im Einzelnen, sondern aus dem Centrum des göttlichen Lebensquells im Ganzen und mit Einem Schlage wird zurückwerfen können. – Wir Älteren werden in dieses gelobte Land nicht hinein gelangen, sondern es nur von ferne sehen, denn wir haben allesamt mit am Haderwasser gestanden. Daneben aber muss versucht werden, ob es nicht möglich ist, eine Lesung der ganzen heiligen Schrift, ohne Ausschluss eines einzigen Stückes, zur regelmäßigen Aufgabe während der Studienzeit (S.35) unserer theologischen Jugend zu machen. Natürlich ist es nicht möglich – wenigstens zur Zeit nicht – diese Lesung mit Hinzunahme des gesamten gelehrten Apparates der „wissenschaftlichen“ Exegese zu bewerkstelligen. Das ist aber auch nicht die Aufgabe dieser Lesung. Ihre Aufgabe ist vielmehr die, den Strom der göttlichen Taten einmal in einem und demselben Zuge, ungehemmt und ungeteilt, durch die Seelen der künftigen Hirten so hindurchzuführen, dass sie für das Hirtenamt und dessen Aufgaben geweckt, dass ihnen die Tatsachen der göttlichen Offenbarung in ihrem Zusammenhange unter sich und mit der gegenwärtigen Zeit wie mit der Zukunft der Kirche, also zur Verständigung über ihre künftige Stellung als Hirten, zur Anschauung gebracht werden, und dass sie an der Herrlichkeit Gottes, an der Kraft Seines Wortes und an dem Frieden Seines Geistes Freude gewinnen lernen, so, dass sie diese Freude, samt dem Frieden, der Kraft und der Herrlichkeit unseres Herrn Jesu Christi wieder in die Gemeinde überzutragen sich gedrungen fühlen und stark genug wissen. Dazu ist ein sehr geringer gelehrter Apparat erforderlich, und für das alte Testament z. B. reicht schon so ziemlich die biblische Archäologie, wie sie gewöhnlich gelesen und von den Meisten auch zeitig im theologischen Kursus gehört wird, als Voraussetzung für diese Bibellesung aus. Gelingt dieser Versuch, so wird derselbe von kaum geringerem, vielleicht von bedeutenderem Erfolge sein, als der kurz vorher gemachte Vorschlag. Beides zusammen aber würde eine Tatsache sein, gegenüber der Rhetorik; eine Tat des Wortes, gegenüber den Worten über die Wörter. Es würde hiermit einmal wieder etwas erlebt, nicht bloß etwas gelernt; die theologische Jugend würde hiermit einmal über die Grenzen der „Wissenschaft“ hinaus in die ihr zugewiesene Zukunft, in die Wirklichkeit ihres Lebens, zugleich aber auch in sich selbst hinein gewiesen, und die theologischen Lehrer würden die ihnen in ihrer jetzigen Lage, auf dem Strohlager der „Wissenschaft“, fast gänzlich abgeschnittene Gelegenheit wieder erhalten, als Zeugen und Meister, nicht bloß als Lehrer, sich zu bewähren, und statt der Schüler und Zuhörer sich Jünger zu erziehen. Den Rhetorikern werden schon diese Vorschläge nicht viel anders vorkommen, als wenn der Wald von Birnam sich bewegte, (S.36) und sie werden nicht anstehen, diese ganz unregelmäßige Bewegung der Dinge als einen wilden Wald, eine hyle ataktos in den Kopf des Schreibers dieser Blätter zu verlegen. Das würde mir denn das gewisseste Zeichen sein, dass wirklich in nicht allzu ferner Zeit der Wald von Birnam sich gegen den Macbeth der Rhetorik in Bewegung setzen würde.

 

- FORTSETZUNG -