August Friedrich Christian Vilmar (1800-1868):

Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik.


VII. Bekenntnis.

 

Die im Vorhergehenden schon mehrmals berührte Stellung der rhetorischen Theologie zum kirchlichen Bekenntnis gehört überhaupt zu den schlimmsten Schäden derselben. Das Bekenntnis gehört der Gemeinde, nicht der Theologie, wenigstens nicht der von der Gemeinde sich absondernden Theologie, an, ist ein abschließendes Resultat des von der Kirche im Ganzen Erlebten und Erfahrenen, und hat seine erhaltende und stärkende Zeugniskraft in der Gemeinde nur durch seine Ganzheit und Gebrochenheit – was, wie leicht einzusehen ist, auf die Bekenntnisse der evangelischen Kirche, zumal auf die Augsburgische Confession in ganz gleicher Weise Anwendung findet, wie auf das Nizänum oder das Apostolikum. Nun aber kann es die rhetorische Theologie nicht lassen, unaufhörlich an dem Bekenntnis zu bröckeln und zu balancieren, dasselbe somit in den Augen der noch Unerfahrenen zu einem Stückwerk und zu einem der freien Dispositionsbefugnis des theologischen Individuums anheimgestellten Komplex von beliebigen Lehrsätzen zu machen. Da wäre es denn doch besser, das Bekenntnis gänzlich zu beseitigen, geradezu zu verwerfen, als in einer solchen Weise mit Abbrechen und Schaukeln zu behandeln. Theologische Probleme lassen das Balancieren und Bröckeln zu – fordern sogar dasselbe geradezu heraus – nicht aber kirchliche Bekenntnisse, auf welchen (S.76) das kirchliche Leben, nicht etwa bloß die kirchliche Lehre, ruht. Damit wird Unsicherheit, Ungewissheit, Zweifel in das Leben der Kirche hineingeworfen, und somit das letztere unaufhaltsam von innen heraus angefressen und zerstört. Unsicherheit und Zweifel sind schlechthin unverträglich schon mit dem individuellen religiösen Leben, welches vielmehr nur dann ein wirkliches Leben – ein seliges Leben, ein ewiges Leben – ist, wenn in demselben sich auch nicht ein einziger Riss, geschweige denn eine Spalte oder gar eine Lücke findet; für das kirchliche Leben sind sie der gewisse und schnell eilende Tod. Denn im individuellen Leben können, wenn auch nur unter gewissen Voraussetzungen – bei Neophyten – die anfänglichen Ungewissheiten und Zweifel ausgeheilt werden; im kirchlichen Leben ist dies nicht möglich. In dem Leben der Kirche, der es gar nicht gegeben ist noch gegeben sein kann, mit sich selbst um bereits von ihr selbst Erlebtes und Erfahrenes zu ringen, wie dem Individuum (welchem eben Erlebnis und Erfahrung noch fehlen), fressen Ungewissheit und Zweifel immer weiter, gleich Krebsgeschwüren, und alles was von menschlicher Seite gegen die einmal eingerissenen Ungewissheiten und Zweifel angewendet wird, dient nicht zur Heilung sondern nur zur Beschleunigung des Krankheitsprozesses, zur Beschleunigung der Verwesung des Kirchenkörpers. Wer also auch nur von der Seite der, selbst von manchen Bessern nur zu oft mit tadelnswerter Geringschätzung, wenigstens Gleichgültigkeit, angesehenen Bekenntnisse Zweifel in die Kirche wirft, der ladet eine unerträgliche Verantwortung auf sein Haupt. Er ist Schuld an dem Verderben der Seelen, welche im Zweifel, zuletzt im Unglauben, untergehen. Allerdings ist es möglich, dass der Herr durch einen Wetterstrahl seines Gerichtes die kranke Kirche mittels einer heftigen Erschütterung heilt, durch einen gewaltigen Ruck die Risse, Spalten und Lücken wieder zusammenschließen lässt – die Hand des Herrn ist nicht verkürzt, auch nicht in diesem Stück; aber darauf hin nur nachsichtig sein wollen gegen die Zweifel, geschweige denn sie begünstigen oder gar hervorrufen – das würde doch heißen, auf Gottes Gnade hin vermessentlich sündigen. Und wie klein sind wir gegen die Zeiten in welchen, gegen die Personen durch welche jene Bekenntnisse gestellt wurden? Wem es möglich gewesen ist, nur einmal mit einem einzigen, selbst flüchtigen, (S.77) Blick, die großartige Festigkeit und Sicherheit, die erhabene Ruhe der Augsburgischen Confession zu betrachten, welche, selbst sicher in der Gewissheit der ewigen Seligkeit, dieselbe unwandelbare Gewissheit, dieselbe Festigkeit und Ruhe auch den nachkommenden Geschlechtern mitteilen will und mitzuteilen allein befähigt ist, wer nur einmal einen leisen Hauch der kräftigen Gebirgsluft gefühlt hat, welche von diesem mächtigen Glaubensberge her wehet, der versucht nicht mehr, feine Gedanken der Ungewissheit, Halbheit und Unreife jener Festigkeit und Ruhe gegenüber geltend zu machen, nicht mehr, das eitle und kindische Blasen seines Mundes gegen jenen Gottesodem zu richten, um demselben etwa einen andern Weg zu weisen. Indes nicht bloß das oben berührte Bröckeln und Schaukeln an den Bekenntnissen kommt unserer heutigen rhetorischen Willkürtheologie zur Last, sondern noch ein anderer, gerade von der Büchertheologie scheinbar am wenigstens zu erwartender Fehler. Es ist die – man weiß in der Tat nicht zu sagen ob wirkliche oder erkünstelte? – Unkunde der Bekenntnisse. Ja es ist mehr als Unkunde, gleichviel ob erkünstelte oder wirkliche, es ist ein Beseitigen derselben gerade hinsichtlich solcher Punkte, in denen die Bekenntnisse die erste und nächste, oder gar die höchste Instanz der Entscheidung bilden. Dies trifft dermalen am meisten zu in der Lehre von der Kirche, in welcher Lehre die Augsburgische Confession nebst Apologie, wie die Sachen für jetzt noch stehen, die höchste Instanz ist. Man kann die längsten Diatriben über die Kirche lesen, ohne dass nur einmal von ferne der Versuch gemacht würde, den Artikeln VII und VIII der A. C. neben einander und in Verbindung mit den übrigen verwandten Artikeln eine flüchtige Erörterung zu widmen. Mit allgemeinen Sätzen über die unsichtbare und sichtbare Kirche operiert man in größter Reichlichkeit und mit größter Behändigkeit, umsonst aber sieht man sich darnach um, dass ermittelt würde, ob und in welchem Sinne die A. C. eine unsichtbare Kirche als einzig berechtigte Kirchengestalt lehre, und ob wir wirklich nach Wortlaut und Sinn dieses unseres Grundbekenntnisses mit unserer Kirchenlehre von der Kirche an eine bloß unsichtbare Kirche gewiesen sind. Eben so wenig Berücksichtigung findet die in der A. C. mit großer Bestimmtheit festgestellte Lehre von dem jus circa sacra, von dem (S.78) s. g. Reformationsrecht, von dem Recht der weltlichen Obrigkeit in geistlichen Dingen, eine Lehre, welche mit der seit einem Jahrhundert unbedingt herrschenden Praxis im schreiendsten und unversöhnlichsten Widerspruch steht. Da wäre es denn doch nur das Geringste, was man erwarten könnte, dass die Berufung auf den Augsburger Religionsfrieden von 1555, welche von den weltlichen Obrigkeiten schon seit dem Anfange des 17. Jahrhunderts erhoben worden ist, und auf welche sie ihre Episcopalgewalt in der evangelischen Kirche gründen, in ihrem Verhältnis zur A. C. einmal gründlich untersucht, und darnach ernstlich geforscht würde, ob der bezeichnete Friede der Augsburgischen Confession in so eminentem Grade habe derogieren wollen und können? Von alle dem aber kein Wort! – Am auffallendsten ist dieses Ignorieren der A. C. nebst Apologie in den Verhandlungen über das geistliche Amt. Dass in dieser Beziehung die ausreichendsten Bestimmungen in der A. C. nebst Apologie vorhanden sind, will man natürlicher Weise rhetorischer Seits nicht wissen; dass man aber auch von andern Seiten her an der A. C. vorbeigeht, als wäre sie gar nicht vorhanden, ist geradezu unbegreiflich. Hat doch sogar Harleß in seiner Schrift „Kirche und Amt nach lutherischer Lehre“, diese lutherische Lehre als Luthers Lehre, nicht als Lehre der lutherischen Kirche aufgefasst, mithin der A. C. kaum mit einem Worte gedacht, während aus der vollständigen Erwägung der A. C. sich ganz andere Sätze mit Notwendigkeit ergeben, als in diesem Schriftchen aus Luthers Aussprüchen gezogen worden sind. Und als vor Jahren eifrig über „den christlichen Staat“ verhandelt wurde, war es guten Konfessionalisten etwas ganz Neues, zu vernehmen, dass ein „christlicher Staat“ wenigstens mit der A. C. nicht in Übereinstimmung zu bringen sei. Und doch sollten wir, wenn wirklich die A. C. unser Grundbekenntnis ist, dasselbe wie über die Lehre zuerst, so über die eben genannten Dinge, welche die in der Welt stehende Kirche betreffen, zuerst und wieder zuletzt hören und – uns nach demselben richten. Denn das Verhältnis unserer Kirche nach der Weltseite hin wird – das vergesse man ja nicht – so lange wir uns nicht entweder in freie oder independente Gemeinden auflösen oder besinnungslos in der katholischen Kirche untertauchen wollen, durch die Augsburgische Confession definitiv geregelt. (S.79) Dass das vorher Gesagte auch auf das Halbieren der Bekenntnisse und das Zusammenschweißen derselben seine unmittelbare Anwendung finde, versteht sich leicht von selbst. Halbe Bekenntnisse – wie, wenn ich aus der Augsburgischen Confession zwar die Gewissheit und Festigkeit des vierten Artikels annehme, dieselbe Gewissheit und Festigkeit aber, welche im neunten, zehnten, zwölften Artikel in ganz gleicher Weise vorhanden ist, hinsichtlich dieser Artikel ausschließe – sind gar keine Bekenntnisse, denn sie sind zerbröckelte und unsichere Bekenntnisse. Sie öffnen der Ungewissheit, dem Schwanken, und zuletzt der Lüge Thür und Thor. Zusammengeschweißte Bekenntnisse aber, d. h. ein angeblicher Kirchenorganismus, vermöge dessen zwei oder mehrere auf ganz verschiedenen, ja entgegengesetzten Voraussetzungen und Grundlagen beruhende Bekenntnisse in einem und demselben Kirchenkörper Berechtigung haben sollen – etwa nach der Wahl und Willkür der zeitigen Hirten – sind nicht zuletzt, sondern gleich von vorn herein Lüge. Von beiden Erscheinungen geben die Unionen, von der ersteren gibt auch in der neuesten Zeit das Seitens der „Deutschreformierten“ und deren Genossen gegen die niederhessische Kirche angewendete Verfahren leider Beweises genug. Auf diesem Wege, wird nicht, wie man, in törichter Redeweisheit befangen, meint, „der Protestantismus“ gestärkt, es wird vielmehr die evangelische Kirche – ich fürchte, unheilbar – geschwächt; dieser Weg führt mit unabweisbarer Konsequenz zu einem kirchlichen Rationalismus, welcher weit ärger ist und weit gefährlicher wirkt, als der alte doktrinelle Rationalismus vulgaris; – dieser Weg führt nicht zur Vereinigung sondern unvermeidlich zu dem haltlosesten Auseinanderfallen, nicht allein des jetzt schon Getrennten, sondern auch des jetzt noch in sich Einigen. Wenn auf diesem Wege sich uns die Katholiken mit ihrem höhnenden Triumphgeschrei: „Selbstauflösung des Protestantismus“ entgegenstellen, so ist schwer abzusehen, wie ihnen auszuweichen oder nur was ihnen zu antworten sein möchte. (S.80)

 

- FORTSETZUNG -